Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitslosengeld. Minderung der Anspruchsdauer. sozialrechtlicher Herstellungsanspruch. Beratungspflicht. Hinweispflicht während einer Gruppenberatung. Verschiebung der Antragstellung. Wirksamkeit eines Antragswiderrufs. wesentliche Änderung iS von § 48 Abs 1 SGB 10

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Korrektur der Dauer eines bestandskräftig festgestellten Arbeitslosengeldanspruchs wegen fehlender Beratung des Arbeitsamtes (jetzt: Agentur für Arbeit) durch Verschiebung des Antrags auf einen späteren Zeitpunkt.

 

Orientierungssatz

Ein wirksamer Widerruf des Antrages auf Arbeitslosengeld stellt eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS von § 48 Abs 1 SGB 10 dar.

 

Normenkette

AFG § 106 Abs. 1 Fassung: 1992-12-18, § 110 S. 1 Nr. 1a Fassung: 1992-12-18, Nr. 2 Fassung: 1992-12-18, § 117a Fassung: 1996-07-23; SGB I § 14; AFG § 242x Abs. 3 Fassung: 1997-03-24; SGB III § 427 Abs. 4 Fassung: 1997-12-16, Abs. 6 Fassung: 1997-12-16; SGB X § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 1

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 27.06.2005; Aktenzeichen L 7/10 AL 897/02)

SG Frankfurt am Main (Urteil vom 27.06.2002; Aktenzeichen S 1/7 AL 968/00)

 

Tatbestand

Im Streit ist die Zahlung von Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit vom 29. Juni 1999 bis 31. Oktober 2000.

Der am 14. Oktober 1940 geborene Kläger war vom 1. Juli 1970 bis 31. März 1997 bei der Firma H AG beschäftigt; das Arbeitsverhältnis war durch Aufhebungsvertrag vom 27. Dezember 1995 gegen Zahlung einer Abfindung in Höhe von 530.000,00 DM beendet worden. Zuvor hatte am 26. März 1997 in den Räumen der Arbeitgeberin eine Gruppenberatung (bei Teilnahme von über 100 Personen) durch die Beklagte anlässlich der anstehenden Entlassungen stattgefunden, bei der weder allgemein noch individuell auf die Rechtsfolgen von Auflösungsvereinbarungen und Abfindungen hingewiesen worden war. Im Rahmen dieser Gruppenberatung meldete sich der Kläger zum 1. April 1997 arbeitslos.

Mit bestandskräftigem Bescheid vom 3. September 1997 stellte die Beklagte fest, dass der Alg-Anspruch des Klägers gemäß § 117a Arbeitsförderungsgesetz (AFG) wegen der gezahlten Abfindung und einer eingetretenen Sperrzeit für die Zeit vom 1. Juli 1997 bis 3. November 1997 im Anschluss an den Ruhenszeitraum nach § 117 AFG ruhe und dass sich der Anspruch auf Alg "für die Dauer des Ruhenszeitraums mindere". Erst mit weiterem bestandskräftigen Bescheid vom 9. September 1997 stellte die Beklagte dann das Ruhen des Alg-Anspruchs für die davor liegende Zeit vom 1. April bis 30. Juni 1997 gemäß § 117 AFG wegen Zahlung einer Abfindung bei Lösung des Beschäftigungsverhältnisses ohne Einhaltung der für den Arbeitgeber geltenden Kündigungsfrist fest und verfügte mit einem zweiten bestandskräftigen Bescheid vom selben Tag, dass für die Zeit vom 1. April 1997 bis 23. Juni 1997 (12 Wochen) eine Sperrzeit wegen Lösung des Beschäftigungsverhältnisses durch den Kläger (§§ 119, 119a AFG) eingetreten sei und sich dadurch die Dauer des Alg-Anspruchs um 208 Tage mindere. Davor hatte die Beklagte - ebenfalls mit bestandskräftigem - Bescheid vom 5. September 1997 bereits Alg ab 4. November 1997 - nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) für 519 Wochentage - bewilligt. Am 23. November 1999 beantragte der Kläger, dem Alg auf Grund der bezeichneten Bescheide nur bis 28. Juni 1999 gezahlt worden war, eine Korrektur der Alg-Anspruchsdauer, die die Beklagte ablehnte (Bescheid vom 26. November 1999; Widerspruchsbescheid vom 15. Februar 2000).

Hiergegen hat der Kläger mit dem Ziel Klage erhoben, die Beklagte zu verurteilen, ihm Leistungen statt ab 4. November 1997 in gesetzlichem Umfang erst für die Zeit ab 1. April 1998 bis zum Bezug einer Altersrente (Beginn: 1. November 2000), also insgesamt für 31 Monate, zu zahlen. Er begründete diesen Antrag damit, dass die Beklagte ihre Beratungspflicht verletzt habe und er bei entsprechender Beratung den Alg-Antrag auf die Zeit ab 1. April 1998 verschoben hätte; die Minderung der Anspruchsdauer wäre dann entfallen.

Während das Sozialgericht (SG) die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 26. November 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Februar 2000 verurteilt hat, "dem Kläger Leistungen in gesetzlichem Umfang ab 1. April 1998 für die Dauer von 31 Monaten zu zahlen" (Urteil vom 27. Juni 2002), hat das LSG das Urteil des SG auf die Berufung der Beklagten aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 27. Juni 2005). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, die auf den Überprüfungsantrag des Klägers (§ 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - ≪SGB X≫) ergangene Entscheidung der Beklagten sei nicht zu beanstanden. Bei Erlass der Bescheide vom September 1997 habe die Beklagte das Recht richtig angewandt. Der Kläger könne die von ihm begehrte Verlängerung der Bewilligungsdauer auch nicht im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs erreichen. Zwar entfalle die Minderung der Anspruchsdauer wegen des Eintritts einer Sperrzeit nach § 110 Satz 1 Nr 2 AFG, wenn das Sperrzeitereignis bei Erfüllung der Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg länger als ein Jahr zurückliege. Der Kläger könne sich jedoch nicht darauf berufen, dass die Beklagte ihn darüber hätte beraten müssen, seinen Antrag auf die Zeit ab 1. April 1998 zu verschieben. Ein derartiger Hinweis sei im Rahmen der am 26. März 1997 durchgeführten Gruppenberatung wegen der Vielzahl der Teilnehmer nicht erforderlich gewesen. Auch in der Folgezeit (bis zur Entscheidung über den Alg-Antrag) habe keine Veranlassung für eine Spontanberatung bestanden, weil die Beklagte nicht davon hätte ausgehen müssen, dass der Kläger weitere fünf Monate ohne den Bezug von Alg überbrückt hätte.

Der Kläger rügt, das LSG habe die Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs verkannt. Er ist der Ansicht, die Beklagte hätte auch im Rahmen der Gruppenberatung eine mögliche Verschiebung des Alg-Antrags erwähnen müssen. Spätestens hätte sie dies jedoch bis zur Entscheidung über den Alg-Antrag nachholen müssen. Hätte man ihn darüber beraten, dass ihm bei einer späteren Antragstellung (zum 1. April 1998) ein längerer Alg-Anspruch zugestanden hätte, hätte er die Zeit von November bis Ende März ohne Alg überbrückt, wäre dafür aber in den Genuss von Alg bis zum Bezug der Altersrente (Beginn: 1. November 2000) gekommen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass die Beklagte verurteilt wird, die Bescheide vom 3., 5. und 9. September 1997 insoweit aufzuheben, als sie die Dauer bzw Minderung des Alg-Anspruchs betreffen, und die Beklagte zur Zahlung von Alg für die Zeit vom 29. Juni 1999 bis 31. Oktober 2000 zu verurteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, das LSG habe zu Recht entschieden, dass keine Veranlassung für eine Spontanberatung des Klägers bestanden habe. Im Übrigen sei die Entstehung des mit der Antragstellung zum 1. April 1997 zum Stammrecht erstarkten Alg-Anspruchs ohnedies durch eine Verschiebung der Antragstellung nicht mehr rückgängig zu machen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist im Sinne der Aufhebung des LSG-Urteils und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Der Senat folgt nicht den Ausführungen des LSG zur Ablehnung eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs. Für eine endgültige Entscheidung fehlen jedoch ausreichende tatsächliche Feststellungen (§ 163 SGG), die das LSG - ausgehend von seiner Rechtsansicht - nicht treffen musste; dies gilt insbesondere für die Frage, ob der Kläger Alg erst ab 1. April 1998 beantragt hätte, falls er darauf hingewiesen worden wäre, dass sich dann eine längere Anspruchsdauer ergeben hätte.

Mit seiner kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§§ 54 Abs 1 und 4, 56 SGG) richtet sich der Kläger gegen den Bescheid der Beklagten vom 26. November 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Februar 2000, mit dem es die Beklagte abgelehnt hat, frühere bestandskräftige Bescheide zu korrigieren und dem Kläger über den 28. Juli 1999 hinaus Alg zu zahlen. Inhaltlich geht es dabei neben dem Zahlungsanspruch nur noch um die Korrektur der bestandskräftigen Bescheide vom September 1997, soweit diese die Verfügungen der Beklagten über die Anspruchsdauer betreffen oder beeinflussen. Insoweit handelt es sich um den Bescheid vom 3. September 1997 (§ 117a AFG), soweit dieser ein Ruhen für die Zeit vom 1. Juli bis 3. November 1997 und eine Minderung der Anspruchsdauer um die Tage dieses Ruhenszeitraums feststellt (ohne genaue Bezeichnung der Anzahl der Tage), um den Bescheid vom 9. September 1997 (Sperrzeitbescheid) gemäß §§ 119, 119a AFG, soweit darin eine Minderung der Anspruchsdauer um 208 Tage verfügt wird, und um den Bewilligungsbescheid vom 5. September 1997, soweit dieser - nach den Feststellungen des LSG - eine Anspruchsdauer von 516 Tagen verfügt. Diese Bescheide bilden nach der ständigen Rechtsprechung des BSG eine Einheit (vgl nur: BSG SozR 4-4300 § 144 Nr 12 RdNr 10; BSG, Urteil vom 9. Februar 2006 - B 7a/7 AL 48/04 R). In der Sache begehrt der Kläger die Verurteilung der Beklagten zur Aufhebung bzw Änderung dieser Verfügungen und zur Zahlung von Alg über den 28. Juni 1999 hinaus bis zum 31. Oktober 2000, dem Tag vor Beginn der ihm gezahlten Altersrente. Ggf wird das LSG jedoch auch zu beachten haben, ob es sich bei dem von ihm bezeichneten Schreiben vom 27. April 1999 (Mitteilung, dass der Alg-Anspruch voraussichtlich am 28. Juni 1999 erschöpft sei) um einen Form-Verwaltungsakt handelt, der von der Beklagten dann ebenfalls aufgehoben werden müsste. Das Schreiben, das jedenfalls inhaltlich keine Verfügung iS des § 31 SGB X darstellt, befindet sich nicht in den Akten.

Gegenstand des Revisionsverfahrens sind dagegen nicht die Verfügungen (§ 31 SGB X) über den Eintritt und die Dauer der Sperrzeit selbst (§§ 119, 119a AFG) sowie der Bescheid nach § 117 AFG über das Ruhen des Alg-Anspruchs in der Zeit vom 1. April bis 30. Juni 1997. Dies ergibt sich aus dem ausdrücklichen Antrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung. Auch ohne Aufhebung des Sperrzeitbescheides, soweit dieser den Eintritt und die Dauer der Sperrzeit selbst betrifft, würde nämlich für eine Zahlung von Alg erst ab 1. April 1998 nach § 110 Satz 1 Nr 2 AFG eine Minderung der Anspruchsdauer entfallen (hierzu später). Der Ruhensbescheid nach § 117 AFG wegen Zahlung einer Abfindung bei Nichteinhaltung der für den Arbeitgeber geltenden Kündigungsfrist führt ohnedies - der Ruhenszeitraum liegt außerhalb des geltend gemachten Leistungszeitraums - nicht zu einer Verkürzung der Anspruchsdauer, sondern lediglich zu einer Verschiebung der Bezugszeit; allerdings bleibt der insoweit bestandskräftige Ruhensbescheid Basis für die Lage des Ruhenszeitraums nach § 117a AFG, weil sich der Ruhenszeitraum nach § 117a Abs 3 Satz 2 AFG vorliegend an den Ruhenszeitraum nach § 117 AFG anschließt. Die Dauer des Ruhenszeitraums nach § 117a AFG und die daraus resultierende Minderung der Anspruchsdauer nach § 110 Satz 1 Nr 1a AFG bestimmten sich dann unter Berücksichtigung des Arbeitsentgelts, das auf den Ruhenszeitraum nach § 117 Abs 3 Satz 2 Nr 1 AFG entfällt (zu den verschiedenen Ruhenszeiträumen, ihrem Sinn und Zweck sowie dem Ineinandergreifen der Ruhenstatbestände vgl BSGE 84, 225, 228 ff = SozR 3-4100 § 119 Nr 17).

Ob bzw wie lange dem Kläger unter Aufhebung bzw Abänderung der bestandskräftigen Verwaltungsakte über den 28. Juni 1999 hinaus Alg zusteht, beurteilt sich nach § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB X iVm § 330 Abs 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (SGB III). Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben, wenn die Änderung zu Gunsten des Betroffenen erfolgt. Eine solche Änderung kann zwar nicht in einem Verzicht des Klägers gemäß § 46 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I) auf Alg für die Zeit vom 4. November 1997 bis 31. März 1998 gesehen werden, weil ein Verzicht nach Erfüllung des Leistungsanspruchs nicht mehr möglich ist (BSGE 60, 79, 85 = SozR 4100 § 100 Nr 11); jedoch kann die wesentliche Änderung in einem wirksamen Widerruf des Alg-Antrags für diesen Zeitraum gesehen werden. Der Kläger hat nämlich, wie sich bereits aus seinem erstinstanzlichen Klageantrag ergibt, für die Zeit vor dem 1. April 1998 den Antrag auf Alg, der nach § 100 AFG materielle Anspruchsvoraussetzung ist, widerrufen. Trotz der Rückwirkung eines wirksamen Antragswiderrufs würde dadurch nicht § 44 SGB X anwendbar (vgl zu dieser Problematik allgemein: BSGE 78, 109 ff = SozR 3-1300 § 48 Nr 48; BSG SozR 4-4300 § 422 Nr 1 RdNr 16 und 22). Die Wirksamkeit des Widerrufs ist ihrerseits davon abhängig, ob dem Kläger ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch zur Seite steht. Bei der vorliegenden Konstellation jedenfalls kann die Korrektur der bestandskräftigen Bescheide selbst nicht unmittelbar über den Herstellungsanspruch herbeigeführt werden; denn dieser darf nur insoweit herangezogen werden, als sich nicht eine Lösung mit Hilfe gesetzlicher Institute ergibt (BSG SozR 3-1300 § 44 Nr 25).

Zwar ist nach der Rechtsprechung des 7. und 11. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) zur Rechtslage des AFG ein Alg-Antrag regelmäßig nur widerrufbar bis zum Wirksamwerden (Erlass = Zugang) der Entscheidung der Verwaltung (vgl BSGE 60, 79 ff = SozR 4100 § 100 Nr 11; Leitherer in Eicher/Schlegel, SGB III, § 323 Rz 26 mwN); jedoch entspricht es der ständigen Rechtsprechung beider für das AFG zuständigen Senate des BSG, dass eine Korrektur der Antragstellung, also eine Verschiebung des Antrags und damit der Entstehung des Alg-Stammrechts auch nach Erlass des Verwaltungsakts nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs unter Geltung des AFG möglich war (BSG SozR 3-4100 § 110 Nr 2 S 9 mwN; Leitherer, aaO, Rz 31 mwN). Ob bzw inwieweit dies unter Geltung des SGB III in gleicher Weise gilt, kann dahinstehen (vgl zum Problem der Beratungspflicht etwa Schmidt-De Caluwe in Praxiskommentar SGB III, 2. Aufl 2004, § 30 RdNr 23 ff, und zur Entstehung des Stammrechts auf Alg auch ohne Antrag Spellbrink in Eicher/Schlegel, SGB III, § 122 Rz 56 sowie § 118 Rz 31 ff). Die Einwände der Beklagten im Revisionsverfahren hiergegen gehen von der Rechtslage nach dem SGB III aus und sind verfehlt. Der dem Kläger zugebilligte Alg-Anspruch beruhte nämlich auf den Regelungen des AFG, nicht denen des SGB III. Gegenwärtig bedarf es auch keiner Entscheidung darüber, ob an der Rechtsprechung zur Widerrufsmöglichkeit nur bis zur Wirksamkeit der Bewilligung festzuhalten ist, die wesentlich auf der Überlegung beruht, dass der Kranken- und Pflegeversicherungsschutz nach einer Bewilligung nicht mehr rückwirkend beseitigt werden kann (BSGE 60, 79, 89 = SozR 4100 § 100 Nr 11) und zum Zeitpunkt der früheren Entscheidung des Senats (BSGE aaO) eine gesetzliche Regelung über den Ersatz der "unnützerweise" gezahlten Beiträge - wie §§ 157 Abs 3a, 166c AFG und seit 1. Januar 1998 § 335 SGB III - noch nicht existiert hat.

Wäre der Widerruf des Alg-Antrags durch den Kläger für die Zeit bis 31. März 1998 wirksam, wäre jedenfalls die Anspruchsdauer nach der Übergangsvorschrift des § 427 Abs 6 SGB III idF des Arbeitsförderungsreformgesetzes (AFRG) vom 24. März 1997 (BGBl I, 594) zum In-Kraft-Treten des SGB III iVm der Übergangsvorschrift des § 242x Abs 3 AFG (idF des AFRG) und § 110 Satz 1 Nr 2 AFG (in der Fassung, die die Norm durch das Gesetz zur Änderung von Förderungsvoraussetzungen im AFG und in anderen Gesetzen ≪AFGuaÄndG≫ vom 18. Dezember 1992 - BGBl I 2044 - erhalten hat) nicht um ein Viertel der Gesamtanspruchsdauer gemindert worden, weil das Sperrzeitereignis bei Erfüllung der Voraussetzungen für den Alg-Anspruch dann länger als ein Jahr zurückgelegen hätte (vgl dazu und zur Berechnung BSG SozR 3-4100 § 110 Nr 2 S 6). Die Anspruchsdauer des Alg hätte sich allerdings auf Grund der bezeichneten Übergangsvorschriften weiterhin nach § 106 Abs 1 AFG (hier in der bis zum 31. März 1997 geltenden Fassung, die die Norm durch das AFGuaÄndG erhalten hat) gerichtet; dem Kläger hätte mithin ohne die Minderung wegen der eingetretenen Sperrzeit im Hinblick auf sein Lebensalter und die zurückgelegte Versicherungszeit ein Anspruch für 832 Tage - erhöht um jeweils 1 Tag für jeweils 6 Tage analog § 427 Abs 4 SGB III (idF des 1. SGB III-Änderungsgesetzes vom 16. Dezember 1997 - BGBl I 2970) - zugestanden.

Allerdings verkennt der Kläger, dass es bei der Minderung der Anspruchsdauer wegen des Bescheides vom 3. September 1997 nach dem bis zum 31. März 1997 geltenden § 117a AFG (in der Fassung, die die Norm durch das Gesetz zur Förderung eines gleitenden Übergangs in den Ruhestand vom 23. Juli 1996 - BGBl I 1078 - erhalten hat) verbleibt. Dies folgt aus § 110 Satz 1 Nr 1a AFG (hier in der vor dem 1. April 1997 geltenden Fassung, die die Norm durch das AFGuaÄndG erhalten hat) iVm § 427 Abs 6 SGB III und § 242x Abs 3 AFG, weil Nr 1a keine der in Nr 2 für die Sperrzeit vergleichbare Regelung über das Entfallen der Anspruchsminderung enthält. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass der Alg-Anspruch vor dem 1. April 1998 schon deshalb nicht nach dem auf Grund der bezeichneten Übergangsvorschriften noch anwendbaren § 117a AFG ruhen könne, weil er bei wirksamem Antragswiderruf noch nicht entstanden sei; die Ruhenszeiträume (der §§ 117, 117a, 119 AFG) treten nämlich nach der Rechtsprechung des BSG unabhängig davon ein, ob ein Anspruch überhaupt besteht (BSGE 84, 225, 229 ff = SozR 3-4100 § 119 Nr 17).

Die Minderung der Anspruchsdauer widerspricht auch nicht dem Sinn des § 110 Satz 1 Nr 1a AFG und der Ruhensregelung des § 117a AFG. § 110 Satz 1 Nr 1a AFG soll nämlich generell der Beendigung von Arbeitsverhältnissen gegen Zahlung einer Abfindung entgegenwirken, ohne dass für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses ein wichtiger Grund vorhanden ist. Denn Abfindungen können auch Beträge enthalten, die dem Arbeitnehmer das Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis ohne Vorliegen eines wichtigen Grundes erleichtern sollen (BR-Drucks 503/92 S 24), selbst wenn die für den Arbeitgeber geltende Kündigungsfrist eingehalten ist und deshalb § 117 AFG nicht eingreift. Bei § 117 AFG wird gesetzlich vermutet, dass die Abfindung Arbeitsentgelt enthält; bei § 117a AFG "erkauft" sich der Arbeitgeber die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses durch den Arbeitnehmer. Diese Lösung ist zwar als solche sperrzeitbewehrt (§§ 119, 119a AFG); die Sperrzeit tritt aber schon ohne den Umstand ein, dass eine Abfindung gezahlt wird, weil sich der Arbeitnehmer an der Lösung des Beschäftigungsverhältnisses aktiv beteiligt. Die Unterschiedlichkeit der Zielsetzungen verhindert eine analoge Anwendung der für die Sperrzeit geltenden Jahresfristregelung zum Entfallen der Minderung der Anspruchsdauer auf die Fälle des § 117a AFG. Es kann deshalb dahinstehen, ob überhaupt eine unbewusste Gesetzeslücke vorliegt.

Entgegen der Auffassung des LSG bestand für die Beklagte im Rahmen der durchgeführten Gruppenberatung eine Hinweispflicht (§ 14 SGB I), deren Verletzung einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch (vgl zu diesem zuletzt Schmitz, ZfSH/SGb 2006, 393 ff) begründet und dem Kläger einen Widerruf der Antragstellung ermöglicht. Sinn einer Gruppenberatung ist es gerade, die Beteiligten, auch wenn es sich um eine Vielzahl von Personen handelt, allgemein über die möglichen Folgen einer Alg-Antragstellung zu informieren. Dass bei einer Gruppenberatung keine individuelle Beratung möglich ist, liegt zwar auf der Hand; jedoch hätte der Vertreter der Beklagten die Anwesenden allgemein darauf hinweisen müssen, dass es gesetzliche Möglichkeiten gibt, die Dauer des Alg-Anspruchs in zulässiger Weise durch entsprechende Dispositionen zu beeinflussen. Zumindest ein solcher genereller Hinweis, der nach den Feststellungen des LSG nicht erfolgt ist, wäre zu verlangen gewesen. Gleichzeitig hätten die Betroffenen dann auf eine individuelle Beratung verwiesen werden müssen bzw verwiesen werden können. Dies gilt unabhängig davon, ob der Beklagten nicht sogar der Umstand bekannt war - Feststellungen des LSG fehlen hierzu -, dass Abfindungen an die Arbeitnehmer bzw einzelne Arbeitnehmer gezahlt worden sind.

Darüber hinaus hätte die Beklagte den Kläger sogar noch in der Zeit zwischen der Antragstellung (26. März 1997) und dem Erlass der Bescheide im September 1999 auf die Möglichkeit einer Verschiebung des Antrags hinweisen können. Eine solche Verschiebung wäre nach der oben bezeichneten Rechtsprechung des BSG ohne weiteres zumindest bis zur Wirksamkeit der Bescheide möglich gewesen. Im Hinblick auf die Höhe der dem Kläger gewährten Abfindung (530.000 DM) und den Umstand, dass der Alg-Anspruch des Klägers ohnedies bis 3. November 1997 ruhte und somit nur noch fünf Monate überbrückt werden mussten, hätte es sich der Beklagten aufdrängen müssen, dem Kläger von Amts wegen, also ohne speziellen Antrag, eine individuelle Beratung anzubieten (vgl zur einer ähnlichen Situation BSG SozR 3-4100 § 110 Nr 2). Die mit der Notwendigkeit zur Überbrückung von fünf Monaten - für sieben Monate ruhte der Anspruch ohnedies - einhergehenden weiteren Nachteile (Krankenversicherungsschutz, Rentenversicherungsbeitrag) hätten dann in die individuelle Beratung einfließen müssen; sie durften jedoch für die Beklagte nicht Veranlassung sein, von vornherein auf eine sich aufdrängende Beratung zu verzichten.

Liegt mithin eine Verletzung der Beratungspflicht vor, so ist jedoch nicht vom LSG festgestellt, ob der Kläger bei entsprechender Beratung seinen Antrag entweder von Anfang an auf die Zeit ab 1. April 1998 beschränkt oder zumindest nach Antragstellung noch rechtzeitig verschoben hätte. Die Beurteilung, ob das Fehlverhalten der Beklagten kausal für das Verhalten des Klägers war, ist Aufgabe der Tatsacheninstanz. Zwar hat der Kläger die Antragstellung für die Zeit vor dem 1. April 1998 im Laufe des Klageverfahrens - wie bereits ausgeführt - widerrufen; dieser Umstand ersetzt indes nicht die Feststellung, dass er dies auch schon vor Erlass der Verfügungen über die Dauer und die Minderung des Alg-Anspruchs getan hätte. Sein Verhalten lässt zwar Rückschlüsse zu; diese sind jedoch dem Senat als Revisionsinstanz verwehrt. Sollte das LSG zu der Erkenntnis kommen, dass der Kläger bei entsprechender Beratung seinen Antrag auf die Zeit ab 1. April 1998 verschoben hätte, müssten jedoch alle sonstigen Voraussetzungen des Alg-Anspruchs für die Zeit ab 29. Juni 1999 geprüft werden. Nur wenn alle Voraussetzungen vorliegen, dürfte die Beklagte zur Aufhebung der entgegenstehenden bestandskräftigen Bescheide und zur Alg-Zahlung verurteilt werden. Wäre der Alg-Antrag für die vor dem 1. April 1998 liegende Zeit nicht wirksam widerrufen, verbliebe es bei der rechtmäßigen Zahlung von Alg für diese Zeit.

Bei seiner Entscheidung wird das LSG nicht die Vorteile, die dem Kläger durch die Leistung von Alg für die Zeit vom 4. November 1997 bis 31. März 1998 erwachsen sind, automatisch verrechnen dürfen. Erforderlich ist vielmehr eine gesonderte Aufhebung der entsprechenden Bewilligung(en) durch die Beklagte nach § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 iVm Abs 4 Satz 2 SGB X (vgl zur Beurteilung der Zugunstenwirkung eines Verwaltungsaktes nach dem subjektiven Begehren des Leistungsempfängers: Steinwedel in Kasseler Kommentar, SGB X, § 44 RdNr 21 mwN, Stand Mai 2006). Nach einer Aufhebung der Alg-Bewilligung wird sich auch eine Verpflichtung des Klägers auf Ersatz der Krankenversicherungs- und Pflegeversicherungsbeiträge ergeben (§ 335 Abs 1 SGB III). Nicht zu ersetzen sind indes die Rentenversicherungsbeiträge; diese kann die Beklagte nach Aufhebung der Bewilligungsbescheide vom Rentenversicherungsträger erstattet bekommen (Eicher in Eicher/Spellbrink, SGB II § 40 RdNr 24). Mit den sich aus der Aufhebung der Leistungsbewilligung ergebenden Erstattungsansprüchen bzw Ersatzansprüchen (§ 50 Abs 1 SGB X, § 335 Abs 1 und 5 SGB III) wird die Beklagte dann auch über die Regelung der §§ 333 SGB III, 51 SGB I hinaus mit dem dem Kläger noch für die Zeit ab 29. Juni 1999 geschuldeten Alg-Zahlbetrag aufrechnen dürfen. Wenn es dem Kläger mit Hilfe des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ermöglicht wird, so gestellt zu werden, wie er stehen würde, wenn er seinen Alg-Antrag von Anfang an auf die Zeit ab 1. April 1998 beschränkt bzw rechtzeitig verschoben hätte, dann muss es im Rahmen dieses Rechtsinstituts der Beklagten ebenfalls ermöglicht werden, die sich für sie daraus ergebenden Nachteile in gleicher Weise zu korrigieren.

Sollte das LSG einen Herstellungsanspruch verneinen, muss es, obwohl der Kläger sich formal nur auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch beruft, gleichwohl prüfen, ob dem Kläger aus anderen Gesichtspunkten Alg über den 28. Juni 1999 hinaus zusteht. Hierbei wird das LSG zumindest die verbindlichen Verfügungen in den Bescheiden vom September 1999 zu beachten haben. Zwar hat das LSG in seinem Urteil ausgeführt, dem Kläger sei ab 4. November 1997 für die Dauer von längstens 516 Wochentagen Alg bewilligt worden, und der Senat ist an diese Feststellung grundsätzlich gebunden; jedoch sei unabhängig hiervon darauf verwiesen, dass sich der Bewilligungsbescheid vom 5. September 1997 nicht in der Akte befindet und die Akte Anhaltspunkte dafür enthält, dass möglicherweise eine andere Anspruchsdauer verfügt ist (Zahlungsnachweis: 602 Tage; interne Bewilligungsverfügung: 588 Tage). Das LSG wird auch die Berechnung des Ruhenszeitraums nach § 117a AFG ohne Bindung an die für den Bescheid nach § 117 AFG maßgeblichen Berechnungselemente zu überprüfen haben. Schließlich wird das LSG bei der Umrechnung der nach § 106 AFG zu bestimmenden Dauer des Anspruchs (832 Tage) für die Zeit nach dem 31. Dezember 1997 § 427 Abs 4 SGB III (analog) zu beachten und ggf über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1624712

LGP 2006, 183

NZS 2007, 220

SGb 2006, 610

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