Beteiligte

Klägerin und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten nur noch darüber, ob die beklagte Krankenkasse verpflichtet ist, der Klägerin die Kosten für die in der Zeit vom 9. Januar bis April 1990 durchgeführte Remedacen-Behandlung zu erstatten.

Die 1962 geborene Klägerin ist aufgrund eines seit September 1987 bestehenden Beschäftigungsverhältnisses bei der Beklagten krankenversichert. Sie ist - mit einer mehrjährigen Unterbrechung - seit 1984 heroinabhängig. Ab Oktober 1989 behandelte der Arzt H. E. die Klägerin wegen ihrer Suchterkrankung. Er verordnete auf Privatrezept Remedacen-Kapseln. Die Klägerin beantragte am 8. Januar 1990 die Erstattung der hierfür bisher entstandenen Kosten und eine Kostenübernahme hinsichtlich der weiteren Remedacen-Behandlung. Die Beklagte lehnte dies mit Bescheid vom 9. Januar 1990 ab. Der dagegen eingelegte Widerspruch hatte keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 12. März 1990).

Das Sozialgericht (SG) Gießen hat durch Urteil vom 17. Mai 1991 die Klage abgewiesen. Auch die Berufung der Klägerin wurde zurückgewiesen (Urteil des Hessischen Landessozialgerichts [LSG] vom 27. Mai 1994). In den Entscheidungsgründen des LSG wird u.a. ausgeführt: Soweit die Klägerin die Erstattung der Behandlungskosten für die Zeit bis zum 8. Januar 1990 verlange, könne sie mit ihrer Klage schon deshalb keinen Erfolg haben, weil die formellen Voraussetzungen für einen Erstattungsanspruch nach § 13 Abs. 2 und 3 des Fünften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB V) nicht erfüllt seien. Aber auch für die Zeit ab 9. Januar 1990 bestehe kein Anspruch auf Kostenerstattung. Denn die Anwendung des Mittels Remedacen stelle im Falle der Klägerin keine Krankenbehandlung dar. Nach den Feststellungen des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen in der Sitzung vom 2. Juli 1991 und den in dieser Sitzung beschlossenen Richtlinien über die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (NUB-Richtlinien) sei die Drogensubstitution nicht Gegenstand der kassen-/vertragsärztlichen Versorgung. Auch die Drogensubstitution mit Methadon könne nur bei bestimmten Indikationen dann als notwendiger Teil der Krankenbehandlung angesehen werden, wenn die Krankenbehandlung erst durch die Drogensubstitution ermöglicht werde. Remedacen sei dagegen nicht geeignet, die Drogenabhängigkeit im medizinischen Sinne zu behandeln. Das Mittel besitze lediglich die Eigenschaft, die nach dem Absetzen oder dem Entzug von Heroin aufkommenden Entzugserscheinungen abzufangen. Dabei werde die Abhängigkeit von Heroin nur durch die Abhängigkeit von Remedacen ersetzt. Eine derartige Ersatzdrogenbehandlung diene nicht einer medizinischen Zielsetzung, sondern solle die soziale Rehabilitation des Süchtigen ermöglichen.

Mit der - vom Bundessozialgericht [BSG] zugelassenen - Revision macht die Klägerin u.a. geltend: Bei ihrer Behandlung mit dem Mittel Remedacen habe es sich - entgegen der Auffassung der Vorinstanzen - um eine Krankenbehandlung gehandelt, die i.S. des § 27 Abs. 1 SGB V notwendig gewesen sei, um eine Verschlimmerung der Krankheit Heroinsucht zu verhüten und die Krankheitsbeschwerden zu lindern. Nach neuesten Schätzungen seien in der Bundesrepublik Deutschland ca 150.000 bis 160.000 Menschen drogensüchtig. Etwa 25.000 Personen nähmen derzeit in Deutschland unter Aufsicht Heroin-Ersatzmittel wie Methadon oder das Codein-Präparat Remedacen. Zugelassen zur sog. Substitution werde, wer heroinabhängig und schon krank sei, einige Therapien hinter sich habe und regelmäßig zum Arzt gehe. Ziel jeder Behandlung von drogen- bzw. heroinsüchtigen Patienten sei die "Heilung", also die Drogenabstinenz. Über den Weg dorthin werde jedoch gestritten, zumal in der seit Jahren geführten Therapiediskussion der allgemeingültige "Königsweg" zur Lösung des Drogenproblems noch nicht gefunden sei. Aus einer von der Stadt Frankfurt in Auftrag gegebenen, in der Gerichtsakte befindlichen Studie vom 30. Juni 1992 ergebe sich eindeutig, daß das im Medikament Remedacen enthaltene Dihydrocodein zur Substitutionstherapie geeignet sei und daß die Behandlung mit Dihydrocodeinpräparaten bei der erkrankten Person zu einer hochsignifikanten Verbesserung des gesundheitlichen Allgemeinzustandes und des Ernährungszustandes führe. Wenn mit Remedacen auch keine unmittelbaren Heilungserfolge erzielt werden könnten, so diene das Mittel jedoch dazu, eine Verschlimmerung der Krankheit Heroin- bzw. Drogensucht zu verhüten und die unmittelbaren und mittelbaren Krankheitsbeschwerden zu lindern.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 27. Mai 1994 und das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 17. Mai 1991 sowie den Bescheid der Beklagten vom 9. Januar 1990 in der Gestalt des

Widerspruchsbescheides vom 12. März 1990 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin die Kosten der Remedacen-Behandlung für die Zeit vom 9. Januar bis April 1990 zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

II

Die Revision der Klägerin führt zur Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG. Die Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts reichen nicht aus, um abschließend über den geltend gemachten Anspruch entscheiden zu können.

Da die Klägerin in der mündlichen Verhandlung ihren bisherigen Antrag eingeschränkt hat, geht es in dem Rechtsstreit jetzt nur noch um die Erstattung der Kosten für die Remedacen-Behandlung in der Zeit vom 9. Januar bis April 1990. Wegen des weitergehenden Anspruchs ist die Klage durch Rücknahme erledigt.

Der auf die Zeit ab 9. Januar 1990 beschränkte Kostenerstattungsanspruch scheitert nicht bereits an den formellen Voraussetzungen der hier noch anwendbaren Vorschrift des § 13 Abs. 2 SGB V i.d.F. vor Änderung durch das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) vom 21. Dezember 1992 (BGBl. I S. 2266). Danach hat die Krankenkasse, wenn sie eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder wenn sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat, die dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung entstandenen Kosten zu erstatten, und zwar in der Höhe, in der die Leistung notwendig war. Nach der teilweisen Rücknahme betrifft die Klage nur noch den Anspruch auf Kostenerstattung für die Zeit seit der ablehnenden Entscheidung vom 9. Januar 1990.

Ob der Klägerin ein Kostenerstattungsanspruch zusteht, läßt sich nach den bisherigen Tatsachenfeststellungen des LSG nicht sagen.

Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfaßt u.a. ärztliche Behandlung und Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln (§ 27 Abs. 1 Satz 2 SGB V).

Die Klägerin gehört zum anspruchsberechtigten Personenkreis des § 27 Abs. 1 SGB V. Sie ist seit September 1987 aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses bei der Beklagten krankenversichert (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V) und hat daher im Falle einer Krankheit Anspruch auf Krankenbehandlung.

Die Klägerin war nach den unangegriffenen Tatsachenfeststellungen des LSG, an die der Senat gemäß § 163 SGG gebunden ist, in der streitigen Zeit auch krank. Bei ihr bestand seit 1984 eine Heroinabhängigkeit, die jedenfalls bis Ende April 1990 andauerte. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG erfüllt eine Drogenabhängigkeit ebenso wie die Trunksucht den Begriff der Krankheit im krankenversicherungsrechtlichen Sinne (BSGE 28, 114, 115 f. = SozR Nr. 28 zu § 182 Reichsversicherungsordnung [RVO]; SozR Nr. 23 zu § 184 RVO; SozR 2200 § 184a Nr. 1; BSGE 51, 44, 46 = SozR 2200 § 184a Nr. 4; vgl. ferner Höfler in Kasseler Kommentar, § 27 SGB V Rdnr. 33; Zipperer in Maaßen/Schermer/Wiegand/Zipperer, SGB V § 27 Rdnr. 18; Kummer in Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd 1 Krankenversicherungsrecht, § 20 Rdnr. 86).

Die beklagte Krankenkasse wäre indessen nicht zur Erstattung der durch die Selbstbeschaffung des Remedacen entstandenen Kosten verpflichtet, wenn Remedacen zu den nicht verkehrsfähigen oder nicht verschreibungsfähigen Arzneimitteln gehörte (vgl. dazu BSGE 72, 252, 257 ff. = SozR 3-2200 § 182 Nr. 17; Urteil des 1. Senats vom 8. März 1995 - 1 RK 8/94 -). Das war jedoch in der hier fraglichen Zeit nicht der Fall. Dabei spielt es rechtlich keine Rolle, daß Remedacen für die Anwendung bei akutem oder chronischem Reizhusten zugelassen worden ist und nicht als Substitutionsmittel bei Drogenabhängigkeit. Auch das Betäubungsmittelrecht kannte jedenfalls im Jahre 1990 kein Verbot, das codeinhaltige Präparat Remedacen als Substitutionsmittel zu verschreiben (vgl. dazu Keup, DÄrzte 1994 Heft 1, S. 5, 6; Körner, Betäubungsmittelgesetz, Komm, 4. Aufl., 1994, § 29 Rdnr. 893; Haffner, Rechtsmedizin 1994, 49, 53 zu Codein- und Dihydrocodeinpräparaten).

Soweit der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch die Kosten für die vom behandelnden Arzt H. E. verordneten Remedacen-Kapseln umfaßt, steht ihm auch nicht die Regelung des § 31 Abs. 1 i.V.m. § 34 Abs. 1 SGB V in der hier anwendbaren Fassung vor Änderung durch das GSG entgegen. Danach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln, soweit die Arzneimittel nicht nach § 34 SGB V ausgeschlossen sind. Remedacen gehört im vorliegenden Falle nicht zu den ausgeschlossenen Arzneimitteln. Es wurde bei der Klägerin nicht zur Behandlung einer Erkältungskrankheit, sondern als Substitutionsmittel im Rahmen der vorliegenden Suchtkrankheit verwendet. Deshalb kommt ein Ausschluß nach § 34 Abs. 1 SGB V selbst dann nicht in Betracht, wenn Remedacen als hustendämpfendes oder hustenlösendes Mittel von der Vorschrift des § 34 Abs. 1 SGB V erfaßt sein sollte. Denn § 34 SGB V läßt die Kostentragungspflicht der Krankenkasse nur für Arzneimittel entfallen, die bei bestimmten häufig auftretenden leichteren Krankheiten angewendet werden und deren Beschaffung auf eigene Kosten dem Versicherten zugemutet werden kann (BT-Drucks 11/2237 S. 174 zu § 34 Abs. 1 und 2; Schneider in Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd 1 Krankenversicherungsrecht, § 22 Rdnr. 214; von Maydell, Gemeinschaftskomm zum SGB - Gesetzliche Krankenversicherung - § 34 Rdnr. 7). Wird ein solches Mittel dagegen bei schweren, in § 34 Abs. 1 SGB V nicht aufgeführten Krankheiten angewendet, so ist der Ausschlußtatbestand der Vorschrift weder nach ihrem Wortlaut noch nach ihrem Sinn und Zweck erfüllt.

Ebensowenig ist der Kostenerstattungsanspruch schon dadurch ausgeschlossen, daß mit einer Remedacen-Behandlung auch Gefahren verbunden sind und daß die Behandlung nicht unmittelbar zur Heilung führt, weil - jedenfalls zunächst - eine Suchtkrankheit durch eine andere ersetzt wird. Zahlreiche Medikamente haben gravierende Nebenwirkungen, so daß infolge ihrer Anwendung neue Gesundheitsstörungen auftreten können. Ob der Einsatz im Interesse der Besserung oder Wiederherstellung des Gesundheitszustandes insgesamt (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 SGB V) dennoch gerechtfertigt ist, muß nach sorgfältiger Bewertung der Risiken und Vorteile durch den Arzt entschieden werden. Daraus kann sich ergeben, daß der Versicherte die Erstattung der Kosten für eine Behandlung auch dann verlangen kann, wenn sie erst in einem zweiten Schritt eine zur Heilung führende Behandlung ermöglicht, denn § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V läßt als Behandlungsziel auch die Verhütung einer Verschlimmerung oder die Linderung von Krankheitsbeschwerden zu.

Schließlich ist der geltend gemachte Anspruch auch nicht schon deshalb von vornherein ausgeschlossen, weil bezüglich der bei der Klägerin angewandten Heilmethode noch keine Empfehlung des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen vorliegt. Nach § 135 Abs. 1 SGB V dürfen neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen oder vertragszahnärztlichen Versorgung zwar nur dann zu Lasten der Krankenkassen abgerechnet werden, wenn die Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen auf Antrag einer Kassenärztlichen Bundesvereinigung, einer Kassenärztlichen Vereinigung oder eines Spitzenverbandes der Krankenkassen in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB V Empfehlungen abgegeben haben u.a. über die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode. Trotzdem kann der Anspruch des Versicherten aber im Einzelfall ausnahmsweise weiterreichen als die nach diesen Vorschriften anerkannten Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Das war bereits in der Rechtsprechung zu den insoweit ähnlichen Vorschriften der RVO anerkannt (vgl. dazu BSGE 52, 70, 75 = SozR 2200 § 182 Nr. 72; BSGE 52, 134, 138 = SozR 2200 § 182 Nr. 76; sa Schulin, SGb 1984, 45, 48 ff.). Daran hält der erkennende Senat auch für das seit dem 1. Januar 1989 geltende Recht des SGB V fest, denn der Gesetzgeber hat diese Rechtsprechung dadurch gebilligt, daß der Versicherte nach § 13 Abs. 2 SGB V Kostenerstattung verlangen kann, wenn die Krankenkasse die ihm zustehende Leistung abgelehnt hat oder nicht erbringen konnte (sog Garantiehaftung für Versagen des Leistungssystems, vgl. BSGE 73, 271, 276 = SozR 3-2500 § 13 Nr. 4 S. 15). Ebenso wie nach bisherigem Recht setzt die Leistungspflicht der Krankenkasse in diesen Fällen allerdings zunächst die Feststellung der Unzulänglichkeit der anerkannten Heilmethoden voraus. Denn nur dann ist es gerechtfertigt, in die durch § 135 Abs. 1 SGB V den Bundesausschüssen zugewiesene Zuständigkeit für die Konkretisierung des Leistungsanspruchs des Versicherten einzugreifen und die Richtlinien nach § 92 Abs. 1 SGB V auf ihre Vereinbarkeit mit den §§ 2, 12 und 27 SGB V zu überprüfen (so auch BSGE 73, 271, 287 f. = SozR 3-2500 § 13 Nr. 4 S. 27 f.; im Ergebnis ähnlich Schulin/Enderlein, ZSR 1990, 502, 512 ff.; Margraf, DOK 1990, 667, 670; Estelmann, SGb 1991, 515, 526; Marburger, ZfS 1989, 175, 176 f.; einschränkend Schlenker, SGb 1992, 530, 532 f.). Ist nachgewiesen, daß eine geeignete anerkannte Behandlungsmethode (noch) nicht zur Verfügung steht, muß die Krankenkasse die Kosten nur für eine Behandlung übernehmen, die den Voraussetzungen entspricht, die § 2 SGB V allgemein für die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung aufstellt.

Für die Anwendung noch nicht anerkannter Heilmethoden gelten nach neuem Recht allerdings strengere Anforderungen als bisher. Nach der Rechtsprechung des BSG zum alten Recht mußte der behandelnde Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst, wenn anerkannte Behandlungsmöglichkeiten fehlten oder im Einzelfall ungeeignet waren, auch solche Behandlungsmaßnahmen in Erwägung ziehen, deren Wirksamkeit (noch) nicht gesichert war, aber nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft für möglich gehalten werden mußte (BSGE 63, 102, 105 = SozR 2200 § 368e Nr. 11; BSGE 64, 255, 257 ff. = SozR 2200 § 182 Nr. 114; BSGE 70, 24, 26 f. = SozR 3-2500 § 12 Nr. 2; SozR 3-2500 § 13 Nr. 2). Auch der positive Nachweis eines Behandlungserfolges im Einzelfalle wurde für ausreichend erachtet (BSGE 63, 102, 105 f. = SozR 2200 § 368e Nr. 11; BSGE 64, 255, 257 = SozR 2200 § 182 Nr. 114), so daß die Krankenkassen auch bei einer noch nicht anerkannten Behandlungsmethode die Kosten übernehmen mußten, wenn sie sich im konkreten Einzelfalle als wirksam erwiesen hatte.

Auf den Erfolg im Einzelfall kann nach neuem Recht indessen nicht mehr abgestellt werden. § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V schreibt vor, daß Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand medizinischer Erkenntnisse zu entsprechen und den Fortschritt zu berücksichtigen haben. In der Regierungsbegründung zu § 2 Abs. 1 SGB V (BT-Drucks 11/2237, S. 157) heißt es dazu:

Der "allgemein anerkannte Stand der medizinischen Kenntnisse" schließt Leistungen aus, die mit wissenschaftlich nicht anerkannten Methoden erbracht werden. Neue Verfahren, die nicht ausreichend erprobt sind, oder Außenseitermethoden (paramedizinische Verfahren), die zwar bekannt sind, sich aber nicht bewährt haben, lösen keine Leistungspflicht der Krankenkassen aus. Es ist nicht die Aufgabe der Krankenkassen, die medizinische Forschung zu finanzieren. Dies gilt auch dann, wenn neue Methoden im Einzelfall zu einer Heilung der Krankheit oder Linderung der Krankheitsbeschwerden führen.

Daraus wird deutlich: Der Gesetzgeber wollte die Anwendung von noch nicht allgemein anerkannten Behandlungsmethoden im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung einengen (Schirmer in Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung - [GK-SGB V], § 2 SGB V Rdnr. 30 f.; Biel/Ortwein, SGb 1991, 529, 537). Damit ist aber nicht ausgeschlossen, daß vom Bundesausschuß für Ärzte und Krankenkassen noch nicht empfohlene Behandlungsmethoden ausnahmsweise dennoch anzuwenden sein können. In den Fällen, in denen allgemein anerkannte Behandlungsmethoden nicht zur Verfügung stehen oder bei einer bestimmten Gruppe von Patienten nicht eingesetzt werden können, wird man den Anspruch des Versicherten auf eine solche Behandlung auch nach neuem Recht bejahen müssen (Schmidt in Peters, Handbuch der Krankenversicherung, § 27 SGB V Rdnr. 308; Höfler in Kasseler Komm, § 12 SGB V Rdnr. 8; Schulin/Enderlein, a.a.O., 506 ff.; Margraf, a.a.O., S. 670; Kirsten, SGb 1991, 257, 258; Schulin, ZSR 1994, 546, 561).

Der Unterschied des neuen Rechts zum alten Recht zeigt sich indessen insbesondere in den Anforderungen, die an den Nachweis der Wirksamkeit gestellt werden müssen. Der Gesetzgeber hat sowohl im Wortlaut des § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V als auch in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck gebracht, daß eine nicht ausreichend erprobte Methode nicht zu Lasten der Krankenkassen abgerechnet werden darf. Eine Behandlungsmethode gehört deshalb erst dann zum Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung, wenn die Erprobung abgeschlossen ist und über Qualität und Wirkungsweise der neuen Methode zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen gemacht werden können. Das setzt einen Erfolg der Behandlungsmethode in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Zahl von Behandlungsfällen voraus. Dabei muß sich der Erfolg aus wissenschaftlich einwandfrei geführten Statistiken über die Zahl der behandelten Fälle und die Wirksamkeit der neuen Methode ablesen lassen.

§ 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V ist somit dahin auszulegen, daß auch solche Behandlungsmethoden der Vorschrift entsprechen, die zwar noch nicht die Anerkennung des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen haben, für deren Anwendung aber der Nachweis der Wirksamkeit in einer statistisch relevanten Zahl von Fällen spricht und gegen die auch hinsichtlich der Qualität, z.B. der damit verbundenen Nebenwirkungen, im Hinblick auf die damit erreichbaren Behandlungserfolge keine durchgreifenden Bedenken bestehen.

Daß Drogensubstitution auf Kosten der Krankenkassen erfolgen kann, hat - allerdings nach dem hier streitigen Zeitraum - der Bundesausschuß für Ärzte und Krankenkassen am 2. Juli 1991 für die Methadon-Substitutionsbehandlung anerkannt und dazu gemäß § 135 Abs. 1 i.V.m. § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V Richtlinien beschlossen, die am 1. Oktober 1991 in Kraft getreten sind (vgl. dazu Anlage 1 Nr. 2 zu den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden vom 4. Dezember 1990 [BArbBl Nr. 2/1991, S. 33], zuletzt geändert durch Beschluß vom 11. Mai 1993 [BAnz Nr. 156 vom 21. August 1993, S. 7869]). In diesen Richtlinien zur Methadon-Substitutionsbehandlung bei i. v. -Heroinabhängigen ist bestimmt, daß eine Substitutionsbehandlung mit Methadon bei bestimmten Indikationen erfolgen kann. Dazu gehören Drogenabhängigkeit mit lebensbedrohlichem Zustand im Entzug, Drogenabhängigkeit bei schweren konsumierenden Erkrankungen, Drogenabhängigkeit bei opioidpflichtigen Schmerzzuständen, Drogenabhängigkeit bei Aids-Kranken, Drogenabhängigkeit bei Patienten, die sich einer unbedingt notwendigen stationären Behandlung wegen einer akuten oder schweren Erkrankung unterziehen müssen und denen gegen ihren Willen nicht gleichzeitig ein Drogenentzug zuzumuten ist, Drogenabhängigkeit in der Schwangerschaft, unter der Geburt und bis zu sechs Wochen nach der Geburt sowie Drogenabhängigkeit bei vergleichbar schweren Erkrankungen (zu diesen Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen S. insbesondere Rohe, ErsK 1991, 394; Kirsch, DOK 1991, 686). Die Liste der Indikationen macht deutlich, daß es besondere Umstände des Einzelfalles geben kann, die eine - jedenfalls zeitweilige - Substitution zweckmäßig und notwendig erscheinen lassen, weil dem Suchtkranken vorübergehend ein Entzug jeder Droge nicht zugemutet werden kann und das Ziel einer Drogenabstinenz nicht sofort erreichbar ist.

Damit steht gleichzeitig fest, daß die bis dahin anerkannten Methoden der Behandlung von Drogensüchtigen nicht (mehr) den Anforderungen entsprachen, die § 2 SGB V an das Leistungssystem der gesetzlichen Krankenkassen stellt. Denn anderenfalls hätte der Bundesausschuß keinen Anlaß gehabt, trotz der Bedenken und Gefahren, die sich aus der Verordnung von Suchtmitteln an Süchtige grundsätzlich ergeben, eine Substitutionsbehandlung - wenn auch nur unter engen Voraussetzungen - als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung zu billigen. Das Eingeständnis der Unzulänglichkeit der bisher anerkannten Methoden kann nicht auf die Zeit nach Inkrafttreten der Methadon-Richtlinien beschränkt werden. Die Substitutionsbehandlung der Klägerin, um deren Kosten gestritten wird, ist etwa eineinhalb Jahre vor der Verabschiedung der Methadon-Richtlinien durchgeführt worden. Ohne Anhaltspunkte für einschneidende Änderungen im Behandlungsbedarf von Drogensüchtigen muß bei einem so geringen zeitlichen Abstand davon ausgegangen werden, daß die Versicherten auch schon Anfang 1990 nicht (mehr) ausschließlich auf die anerkannte Methode des Drogenentzugs verwiesen werden durften. Vielmehr war schon damals eine Bewertung der Vorteile und Risiken einer Substitutionsbehandlung sowie ihres voraussichtlichen Einflusses auf den Gesundheitszustand des Versicherten geboten. Da das LSG den Anspruch der Klägerin bereits deshalb verneint hat, weil die Substitution grundsätzlich ausgeschlossen sei und die Indikationen der später in Kraft getretenen Richtlinien nicht vorlägen, kann das angefochtene Urteil keinen Bestand haben. Es enthält nicht die notwendigen Feststellungen, um dem Senat die gebotene Abwägung zu ermöglichen. Für die dadurch erforderliche neue Verhandlung und Entscheidung weist der Senat auf folgende Gesichtspunkte hin.

Der Senat läßt offen, ob der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen mit den Richtlinien vom 2. Juli 1991 die Methadon-Substitutionsbehandlung bei i. v. -Heroinabhängigen abschließend regeln konnte und geregelt hat und ob weitere Indikationen denkbar sind, die einen Anspruch auf eine solche Behandlung gegen die Krankenkassen auslösen können. Da die Klägerin sich in einer Zeit mit Remedacen behandeln ließ, als die Methadon-Richtlinien noch nicht galten, stellt sich lediglich die Frage, ob - jedenfalls für diesen Zeitraum - Remedacen bei der Behandlung Heroinabhängiger auf Kosten der Krankenkassen angewendet werden durfte. Dabei geht der Senat davon aus, daß die Substitution des Heroins durch Remedacen allein nicht ausreicht, um die Leistungspflicht der Krankenkassen auszulösen.

Zu den nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V anerkannten Zielen einer Krankenbehandlung gehören zwar auch - wie schon erwähnt - die Verhütung einer Verschlimmerung oder die Linderung von Krankheitsbeschwerden. Diese Behandlungsziele dürfen jedoch nicht isoliert gesehen werden. Jedenfalls rechtfertigen sie nicht immer eine bestimmte Krankenbehandlung, wenn mit ihr auch eines dieser Behandlungsziele erreicht werden kann. Soweit mit einer anderen Behandlung die Möglichkeit besteht, die Krankheit zu heilen, also die Gesundheit des Versicherten wiederherzustellen (vgl. dazu von Maydell, a.a.O., § 27 Rdnr. 68), kann die weniger wirkungsvolle Behandlung von der Leistungspflicht der Krankenkassen generell oder im Einzelfalle ausgeschlossen sein. Dies ergibt sich aus § 12 Abs. 1 SGB V (vgl. dazu Peters, Handbuch der Krankenversicherung - SGB V -, § 12 Rdnrn. 26 und 27; Igl in von Maydell, Gemeinschaftskommentar zum SGB - Gesetzliche Krankenversicherung - § 12 Rdnrn. 14 ff. insbesondere Rdnr. 20). Danach müssen die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen. Ziel der Behandlung einer Suchtkrankheit muß in der Regel sein, den Versicherten dazu zu bringen, daß er den Gebrauch von Drogen beendet. Nur dies ist - auf Dauer gesehen - eine wirtschaftliche Behandlungsmaßnahme, weil sie auch Folgekrankheiten der Drogenabhängigkeit, z.B. psychische Störungen, vermeidet oder ihre wirkungsvolle Behandlung ermöglicht. Die Drogensubstitution allein entspricht deshalb in der Regel nicht dem Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 SGB V.

Der Senat verkennt nicht, daß es ausnahmsweise zweckmäßig und wirtschaftlich sowie notwendig sein kann, jedenfalls für eine Übergangszeit eine Drogensubstitution vorzunehmen. Dies hat inzwischen auch der Bundesausschuß für Ärzte und Krankenkassen in den von ihm beschlossenen Methadon-Richtlinien für die Fälle anerkannt, in denen bestimmte Indikationen vorliegen. So könnte Remedacen statt Methadon möglicherweise dann als Substitutionsmittel in Betracht kommen, wenn der Versicherte allein durch die Anwendung dieses Mittels in die Lage versetzt wird, sich, sei es durch eine Radikalkur, sei es durch eine allmähliche Verringerung der Ersatzdroge, von der Drogenabhängigkeit zu befreien. Für die Anwendung von Remedacen als Substitutionsmittel könnte beispielsweise sprechen, daß der Versicherte bereits mehrere erfolglose Versuche nach der traditionellen Abstinenz-Therapie hinter sich hat, daß bei ihm ein psychischer oder physischer Zustand gegeben ist, der eine Radikalkur ausschließt oder daß der Versicherte wegen sonstiger schwerwiegender Krankheitserscheinungen oder weil ein Platz in einer Entziehungsklinik zur Zeit nicht zur Verfügung steht, einer vorübergehenden Hilfe durch die Drogensubstitution bedarf, um eine weitere katastrophale Entwicklung der Heroinabhängigkeit zu vermeiden.

Abgesehen von diesen besonderen Indikationen, die - jedenfalls teilweise - in den Methadon-Richtlinien aufgeführt sind, ist die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen aber auch nur dann zu bejahen, wenn die mit der Verwendung von Drogensubstitutionsmitteln verbundenen Gefahren möglichst gering gehalten werden. Hierzu ist es unerläßlich, daß der Patient sich einer ausreichenden und fachkundigen Betreuung und ständigen Kontrollen unterwirft, die sicherstellen, daß die Substitutionsmittel vom Patienten in dem vom Arzt verordneten Umfang genommen und daneben nicht andere Drogen konsumiert werden. Außerdem muß gewährleistet sein, daß der Versicherte keinen Mißbrauch mit den zur Verfügung gestellten Drogenersatzmitteln betreibt, sie insbesondere nicht an andere Personen weitergibt.

Ob Remedacen in diesem Sinne ein geeignetes Substitutionsmittel ist, das eine zweckmäßige und wirtschaftliche Behandlung Suchtkranker ermöglicht, ist strittig. Die Eignung von Codein- und die Hydrocodeinpräparaten wird bejaht von Loosen (Der Kassenarzt 1994, 21). Gegen ihre Anwendung als Substitutionsmittel sprechen sich u.a. Goedecke, Lander und Menges (Bundesgesundhbl 5/94, S. 207), Jensen (BKK 1988, 301, 303) sowie Penning, Fromm, Betz, Kauert, Drasch und von Meyer (DtÄrztebl 1993, Heft 8, C-345) aus. Sie weisen vor allem auf die pharmakologischen Unterschiede von Methadon einerseits und Dihydrocodein und Codein andererseits hin. Eine Substitution mit Codeinpräparaten sei besonders schwer zu kontrollieren, weil diese Präparate in hohen Mengen abgegeben und - wegen ihrer kurzen Wirkungsdauer - häufig nachdosiert werden müßten. Außerdem sei - im Gegensatz zum Methadon - aus Urinproben nicht nachweisbar, ob der Patient neben Codeinpräparaten auch Heroin verwende. Denn Codeinpräparate setzten im Stoffwechsel Morphium frei. In dem Aufsatz von Penning u.a. wird insbesondere die wachsende Zahl der Todesfälle durch den Einsatz von Dihydrocodein hervorgehoben.

Über die Vor- und Nachteile der Substitutionsmittel Methadon und Remedacen herrscht damit bisher noch Unklarheit. Hierzu bedarf es weiterer Ermittlungen durch das LSG, um abschließend darüber entscheiden zu können, ob Remedacen im Jahre 1990 als Substitutionsmittel auf Kosten der Krankenkassen angewendet werden durfte. Das LSG wird dabei zu prüfen haben, ob dieses Substitutionsmittel ausreichende Überwachungsmöglichkeiten bietet, welche medizinischen Vor- und Nachteile mit seiner Verwendung verbunden sind, ob es eine hinreichende Aussicht bietet, die Drogenabstinenz des Patienten zu erreichen und Gesundheitsstörungen zu heilen, die mit der Heroinabhängigkeit einhergehen. Wenn alle diese Fragen - soweit wie möglich - geklärt sind, wird das LSG darüber zu befinden haben, ob die Verwendung von Remedacen als Substitutionsmittel im Falle der Klägerin eine wirtschaftliche und notwendige Behandlungsmaßnahme war.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.1 RK 6/95

BUNDESSOZIALGERICHT

 

Fundstellen

BSGE, 194

NJW 1996, 2451

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