Entscheidungsstichwort (Thema)

Zulässigkeit der Berufung. wiederkehrende Leistungen. Zusammenrechnung. Äquivalenzprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Stellt die Krankenkasse rückwirkend Versicherungspflicht fest und "aktiviert" sie das Versicherungsverhältnis rückwirkend, indem sie unter Beachtung der Verjährungsvorschriften Beiträge nacherhebt, so kann sie insoweit, als Sachleistungen (Naturalleistungen) rechtlich und tatsächlich unmöglich (geworden) sind, unter Berufung auf das Sachleistungsprinzip Kostenerstattung jedenfalls dann nicht verweigern, wenn der Versicherte keine Kenntnis von der Versicherungspflicht hatte.

2. Zur Unzulässigkeit der Verjährungseinrede, wenn zunächst ein "vorgreifliches" Versicherungsverhältnis geklärt werden mußte.

 

Orientierungssatz

1. Eine einmalige Leistung iS des § 144 Abs 1 Nr 1 SGG liegt nur vor, wenn es sich um ein Geschehen handelt, das sich seiner Natur nach in einem bestimmten, verhältnismäßig kurzen Zeitraum abspielt und sich im wesentlichen in einer einzigen Handlung (Gewährung) erschöpft (vgl zuletzt BSG vom 27.1.1977 - 7 RAr 17/76 = BSGE 43, 134, 135 und vom 24.9.1986 - 8 RK 31/85 = SozR 1500 § 144 Nr 35). Von diesen Merkmalen sind ärztliche Behandlung und Krankenpflege grundsätzlich nicht gekennzeichnet (vgl BSG vom 29.2.1972 - 4 RJ 237/71 = SozR Nr 29 § 144). Daß es sich im Rechtsstreit nicht mehr um die Leistungen der Krankenpflege selbst handelt, sondern nur noch die Übernahme der aufgewendeten Kosten in einem Betrag geltend gemacht wird, ändert nichts an der Natur des für die Zulässigkeit der Berufung maßgebenden Prozeßanspruchs (vgl BSG vom 24.9.1986 aaO).

2. Eine Zusammenrechnung im Rahmen des § 144 Abs 1 Nr 2 SGG ist nicht ausgeschlossen. Gegen eine derartige Zusammenrechnung bestehen nämlich dann keine Bedenken, wenn die erhobenen Ansprüche inhaltlich im wesentlichen gleichartig sind und demselben Rechtsverhältnis entspringen (vgl BSG vom 7.10.1976 - 6 RKa 14/75 = SozR 1500 § 144 Nr 6).

3. Das sozialrechtliche Versicherungsverhältnis als Instrument der Daseinsvorsorge kennzeichnet, daß unter den Beteiligten gegenseitige Rechte und Pflichten bestehen. Die Wechselbeziehung zwischen Beitragspflicht des Krankenversicherungsträgers und Leistungsanspruch des Versicherten iS eines Gegenleistungs- und Äquivalenzprinzips ist offenkundig gestört, wenn der Träger aus dem Versicherungsverhältnis einseitig Rechtspositionen in Gestalt von Beitragsansprüchen gegen den Versicherten ableitet, ohne dafür diesem gegenüber selbst nur das Risiko einer möglichen Gewährung von Versicherungsschutz durch Gewährung von Sozialleistungen zu tragen. Eine solche Äquivalenzstörung wird hingenommen werden können, wenn sie auf ein dem Versicherten nach dem Inhalt des sozialrechtlichen Versicherungsverhältnis vorwerfbares Verhalten zurückgeht, zB auf den Versuch, das das Recht der sozialen Krankenversicherung tragende Naturalleistungsprinzip zu umgehen oder auszuhöhlen.

 

Normenkette

RVO § 182 Abs 1 Nr 1 Buchst a Fassung: 1974-08-07; KVLG § 12 Nr 1 Fassung: 1974-08-07; SGB 1 § 45 Abs 1 Fassung: 1975-12-11; SGG § 144 Abs 1 Nr 1; SGG § 144 Abs 1 Nr 2

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 12.02.1987; Aktenzeichen L 16 Kr 67/86)

SG Münster (Entscheidung vom 06.05.1986; Aktenzeichen S 14 Kr 8/85)

 

Tatbestand

Streitig ist die Erstattung ärztlicher Behandlungs- und Verordnungskosten in Höhe von 2.670,92 DM.

Der im Jahre 1943 geborene Kläger ist alleiniger Geschäftsführer einer Verwaltungs-GmbH und war seit Beginn dieser Tätigkeit (1. Juni 1970) bei der H.          -Krankenkasse privat versichert. Im Februar 1974 erwarb er Grundstücke mit teils landwirtschaftlicher (9,40 ha), teils forstwirtschaftlicher (1,10 ha) Nutzfläche, auf denen er aus Liebhaberei Reitpferde hält. Nach Feststellung der Westfälischen landwirtschaftlichen Alterskasse -WlAK- (Bescheid vom 6. Oktober 1983) handelt es sich hierbei um ein landwirtschaftliches Unternehmen iS des § 1 Abs 4 des Gesetzes über eine Altershilfe für Landwirte (GAL). Seit dem Erwerb der Grundstücke wird der Kläger bei der Westfälischen landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft als Beitragszahler geführt.

Mit dem "Mitglieds- und Beitragsbescheid" vom 4. November 1983 stellte die beklagte Westfälische landwirtschaftliche Krankenkasse die Mitgliedschaft des Klägers seit dem 1. Dezember 1978 fest und zog ihn unter Berücksichtigung zwischenzeitlich eingetretener Verjährung zu Beitragszahlungen ab 1. Dezember 1978 heran (Nachzahlungsbetrag bis Oktober 1983 10.636,-- DM). Der Widerspruch des Klägers wurde bei gleichzeitiger Feststellung der Mitgliedschaft seit dem 26. Februar 1974 zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 28. März 1984, bindend geworden am 2. Mai 1984). Rückwirkend zum 30. November 1978 löste die H.            Krankenkasse das mit dem Kläger bestehende Versicherungsverhältnis auf und erstattete die ab diesem Zeitpunkt gezahlten Beiträge unter Verrechnung erbrachter Leistungen.

Den Antrag des Klägers vom 30. August 1984 auf Übernahme der ab Jahresbeginn 1979 angefallenen ärztlichen Behandlungs- und Verordnungskosten lehnte die Beklagte unter Hinweis auf das Sachleistungsprinzip und die Verjährung der für das Jahr 1979 geltend gemachten Leistungen ab (Bescheid vom 3. September 1984, Widerspruchsbescheid vom 13. Dezember 1984).

Das Sozialgericht (SG) Münster hat die Klage auf Zahlung eines Betrages von 2.670,92 DM - den die Beklagte als den Leistungsaufwand ermittelt hat, den sie bei Inanspruchnahme von Sachleistungen ab Januar 1979 hätte tragen müssen - abgewiesen (Urteil vom 6. Mai 1986). Die Berufung des Klägers hatte Erfolg (Urteil des Landessozialgerichts -LSG- für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. Februar 1987). Das LSG hat ausgeführt: Unter Beachtung des Grundsatzes von Treu und Glauben sei eine Ausnahme von dem in der Krankenversicherung grundsätzlich geltenden Sachleistungsprinzip anzunehmen. Im Verhältnis zwischen Versicherungsträger und Versichertem müsse eine sachlich und moralisch ungerechtfertigte "Bereicherung" des Versicherungsträgers auf Kosten des Versicherten ausgeschlossen werden. Eine derartige Bereicherung sei anzunehmen, wenn die Beklagte - in Kenntnis des Umstandes, daß ihre Sachleistungspflicht für die Vergangenheit nicht mehr zu realisieren sei - Beiträge nachfordere und auch erhalte, sich aber gleichwohl weigere, dem Kläger die ihm im entsprechenden Zeitraum entstandenen Aufwendungen für "an sich" im Rahmen des § 12 des Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte (KVLG) zu gewährende Krankenpflege zu erstatten. Dies gelte jedenfalls im Falle des Klägers, der - für die Beklagte ersichtlich - mangels Kenntnis vom Bestehen seiner Krankenversicherungspflicht Sachleistungen nicht habe in Anspruch nehmen können. Auch wenn er als Geschäftsmann in wirtschaftlichen Dingen nicht unerfahren sei, habe es sich ihm nicht aufdrängen müssen, daß das bloße Halten von Reitpferden auf der Weide aus Liebhaberei ihn zum Unternehmer iS des KVLG mache. Ob bei positiver Kenntnis des Klägers vom Bestehen der Versicherungspflicht eine differenzierte Betrachtungsweise geboten wäre, könne ebenso dahinstehen wie die Frage, ob eine Bereicherung der Beklagten entfiele, wenn die Beitragszahlungen des Klägers die Höhe der begehrten Erstattung unterschritten hätten. Unentschieden bleiben könne auch, ob die Berufung der Beklagten auf das Sachleistungsprinzip im Hinblick auf § 45 Abs 1 und 2 KVLG ausgeschlossen sei. Die Erstattungsforderung des Klägers sei - auch für die auf das Jahr 1979 entfallenden Aufwendungen - nicht verjährt. Der Kostenerstattungsanspruch sei zwischen den Beteiligten erst mit der rückwirkenden Heranziehung des Klägers zur Beitragszahlung und der Rückabwicklung seines privaten Krankenversicherungsverhältnisses - also im Jahre 1983/1984 - entstanden.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte eine Verletzung materiellen Rechts (§§ 2, 7, 12 ff, 47, 61, 64 KVLG, § 25 Viertes Buch des Sozialgesetzbuches - SGB 4, § 45 Erstes Buch des Sozialgesetzbuches - SGB 1). Sie vertritt die Auffassung, ein Kostenerstattungsanspruch des Klägers bestünde nur, wenn sie sich rechtsmißbräuchlich verhalten hätte. Dies sei nicht der Fall. Die rückwirkende Heranziehung des Klägers zur Beitragszahlung sei ausschließlich darauf zurückzuführen, daß er seiner Meldepflicht nach § 61 KVLG über die Aufnahme einer Tätigkeit als landwirtschaftlicher Unternehmer im Jahre 1974 nicht nachgekommen sei, obwohl ihm seine Unternehmereigenschaft durch die Beitragsentrichtung an die landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft bekannt gewesen sei. Da Versicherungs- und Beitragspflicht unabhängig vom Willen und Bewußtsein der Beteiligten unmittelbar mit der Verwirklichung des sie begründenden Tatbestandes kraft Gesetzes eintrete, verstoße die Nachforderung der Beiträge weder gegen den Grundsatz von Treu und Glauben noch gegen die Wechselbeziehung von Beitrag und Leistung oder das die gesetzliche Krankenversicherung beherrschende Sachleistungsprinzip. Soweit der Kläger sich durch Verletzung der Meldepflicht nach § 61 KVLG die Möglichkeit genommen habe, seine Ansprüche rechtzeitig geltend zu machen, könne sich dies nicht im Rahmen der Verjährungsregelung des § 45 SGB 1 zu ihrem Nachteil auswirken.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. Februar 1987 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 6. Mai 1986 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Entgegen dem Vorbringen der Beklagten habe er erstmals durch den Beitragsbescheid vom 4. November 1983 erfahren, daß er landwirtschaftlicher Unternehmer iS des KVLG sei und daher der gesetzlichen Krankenversicherungspflicht für Landwirte unterliege. Im allgemeinen Sprachgebrauch sei landwirtschaftlicher Unternehmer nur derjenige, der seinen landwirtschaftlichen Besitz zur gewinnbringenden Erzielung von Bodenerzeugnissen oder sonstigen landwirtschaftlichen Produkten einsetze, um hieraus seinen Lebensunterhalt zumindest teilweise abdecken zu können, während er sein Einkommen ausschließlich aus seiner Berufstätigkeit als Geschäftsführer einer GmbH erziele. Seine langjährige Unkenntnis von seiner Versicherungspflicht sei daher völlig unverschuldet gewesen. Unter diesen Umständen sei zwar nicht die rückwirkende Beitragserhebung, wohl aber die Berufung der Beklagten auf das Sachleistungsprinzip rechtsmißbräuchlich.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet.

Das LSG hat zulässigerweise in der Sache entschieden. Die Berufung des Klägers gegen das sozialgerichtliche Urteil war nach § 143 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft. Berufungsausschlußgründe nach § 144 SGG greifen nicht ein. Die Berufung betrifft keinen Anspruch auf einmalige Leistungen iS des § 144 Abs 1 Nr 1 SGG, sondern auf wiederkehrende Leistungen iS von § 144 Abs 1 Nr 2 SGG. Eine einmalige Leistung liegt nur vor, wenn es sich um ein Geschehen handelt, das sich seiner Natur nach in einem bestimmten, verhältnismäßig kurzen Zeitraum abspielt und sich im wesentlichen in einer einzigen Handlung (Gewährung) erschöpft (BSGE 2, 135, 136; 43, 134, 135; BSG SozR 1500 § 144 Nr 35). Von diesen Merkmalen sind ärztliche Behandlung und Krankenpflege grundsätzlich nicht gekennzeichnet (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 29. Februar 1972 - 4 RJ 237/71 = SozR Nr 29 § 144). So verhält es sich auch hier. Der Kläger ist über mehrere Jahre in unterschiedlichen Zeitabständen ärztlich und zahnärztlich behandelt und aufgrund ärztlicher Verordnungen mit Heil- und Hilfsmitteln versorgt worden. Daß es sich im vorliegenden Rechtsstreit nicht mehr um die Leistungen der Krankenpflege selbst handelt, sondern nur noch die Übernahme der aufgewendeten Kosten in einem Betrag geltend gemacht wird, ändert nichts an der Natur des für die Zulässigkeit der Berufung maßgebenden Prozeßanspruchs (BSGE 19, 270, 272; BSG SozR 1500 § 144 Nr 10 und Nr 35).

Die Berufung ist auch nicht durch § 144 Abs 1 Nr 2 SGG ausgeschlossen. Nach den den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG), die sich durch die Inbezugnahme in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils auch auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten beziehen, betrifft der Rechtsstreit wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum von mehr als 13 Wochen (vgl hierzu im einzelnen BSG SozR 1500 § 144 Nr 10). Zwar ist nicht die Erstattung der Aufwendungen für einen zusammenhängenden Behandlungszeitraum im Streit, sondern der Kostenersatz für mehrere voneinander unabhängige Krankenpflegeleistungen. Dies schließt aber nicht die Zusammenrechnung im Rahmen des § 144 Abs 1 Nr 2 SGG aus. Gegen eine derartige Zusammenrechnung bestehen nämlich dann keine Bedenken, wenn die erhobenen Ansprüche - wie hier - inhaltlich im wesentlichen gleichartig sind und demselben Rechtsverhältnis entspringen (vgl BSG SozR 1500 § 144 Nr 1 und Nr 6 zu zeitlich getrennten Honorarabrechnungszeiträumen; BSG SozR 1500 § 144 Nr 14 und Nr 18 zu Sperrzeitbescheid und darauf folgendem Erlöschensbescheid).

In der Sache selbst hat das LSG zu Recht den Anspruch des Klägers auf Ersatz ärztlicher Behandlungs- und Verordnungskosten bejaht.

Der Kläger ist bereits mit dem Erwerb der landwirtschaftlichen Grundstücke im Jahre 1974 kraft Gesetzes (§ 2 KVLG) in der Krankenversicherung der Landwirte versicherungspflichtig geworden. Die beklagte landwirtschaftliche Krankenkasse konnte den Kläger mit dem - iS des § 77 SGG bindend gewordenen - Bescheid vom 4. November 1983 auch rückwirkend ab 1. Dezember 1978 gemäß § 64 KVLG zu Beiträgen heranziehen, weil die Beitragsansprüche des Versicherungsträgers nach § 25 Abs 1 Satz 1 SGB 4 erst in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres verjähren, in dem sie fällig geworden sind. Entsprechend konnte aber auch der Kläger rückwirkend die ihm aus dem gesetzlich begründeten Versicherungsverhältnis zustehenden Sozialleistungen (vgl § 11 Satz 1 SGB 1) beanspruchen. Auch sie verjähren, selbst soweit sie wie bei ärztlicher Behandlung und Versorgung mit Arzneimitteln nicht Geld-, sondern Naturalleistungen (Dienst- und Sachleistungen) sind (vgl zB Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Vorbem 1 vor § 179 RVO), nach § 45 Abs 1 SGB 1 erst in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie entstanden sind (vgl zB Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band II S 446h). Einen Anspruch des Klägers auf Krankenhilfe nach §§ 7 Nr 2, 12 Nr 1 KVLG (= § 179 Abs 1 Nr 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO) in der Form der ärztlichen Behandlung und Versorgung mit Arzneimitteln (§ 13 Abs 1 Nr 1 und 2 KVLG = § 182 Abs 1 Nr 1 Buchst a und b RVO) hätte die beklagte Kasse zur Zeit des (erstmaligen) Erlasses des "Mitglieds- und Beitragsbescheids" vom 4. November 1983 in bezug auf die zurückliegende streitumfaßte Zeit trotz nicht eingetretener Verjährung freilich nicht erfüllen können. Der Kläger hatte sich, ohne die Beklagte zuvor in Anspruch zu nehmen, diese Leistungen seinerzeit bereits selbst beschafft. Damit war es der Beklagten unmöglich geworden, dem Kläger ärztliche Behandlung und Versorgung mit Arzneimitteln als Naturalleistung - nachträglich - zuzuwenden (vgl dazu auch § 368d RVO und BSGE 34, 172, 174 = SozR Nr 6 zu § 368d RVO). Diese Unmöglichkeit der nachträglichen Erbringung einer bereits selbstbeschafften Naturalleistung (Dienst- und Sachleistung) läßt aber entgegen der Auffassung der Beklagten nicht auch den vom Kläger als Geldleistungsanspruch erhobenen Anspruch auf Kostenerstattung entfallen:

Es trifft zu, daß die Versicherten nach dem das Recht der sozialen Krankenversicherung beherrschenden Sachleistungsprinzip (§§ 7, 12 ff KVLG; §§ 182 ff RVO) gegen ihre gesetzlichen Krankenkassen, soweit nicht das Gesetz oder zulässigerweise die Satzung ausdrücklich anderes bestimmt, grundsätzlich keinen Anspruch auf Kostenersatz für selbstbeschaffte Leistungen haben (BSG SozR 2200 § 182 Nr 86 mwN aus Rechtsprechung und Schrifttum); das die Privatversicherung prägende Kostenerstattungsprinzip ist der gesetzlichen Krankenversicherung fremd (vgl dazu die eingehenden Darlegungen unter Berücksichtigung der geschichtlichen Entwicklung in BSGE 19, 21, 23 = SozR Nr 14 zu § 184 RVO; BSGE 42, 117, 119, 120). Ausnahmen von diesem Grundsatz hat die Rechtsprechung jedoch bereits bisher - abgesehen von der gesetzlich normierten Notfallbehandlung (§ 368d RVO; vgl hierzu BSGE 34, 172, 174 = SozR Nr 6 zu § 368d RVO) - zugelassen, wenn die Krankenkasse den Antrag des Versicherten auf Gewährung der Sachleistung zu Unrecht abgelehnt und ihn dadurch zur Behandlung auf eigene Kosten gezwungen hat (BSGE 35, 10, 14; 53, 273, 277) oder wenn der Berechtigte zwar nicht versucht hat, eine Sachleistung zu erlangen, jedoch von vornherein feststand, daß ihm diese vom Versicherungsträger verweigert würde (BSG SozR 2200 § 182 Nr 86; BSG SozR 3100 § 18 Nr 9).

Aber auch bei einer Fallgestaltung der vorliegenden Art wandelt sich der ursprüngliche Naturalleistungsanspruch in einen auf Geld gerichteten Kostenerstattungsanspruch um, weil nur so dem das sozialrechtliche Versicherungsverhältnis prägende Äquivalenzprinzip ausreichend Rechnung getragen werden kann.

Das sozialrechtliche Versicherungsverhältnis als Instrument der Daseinsvorsorge kennzeichnet, daß unter den Beteiligten gegenseitige Rechte und Pflichten bestehen. Die Wechselbeziehung zwischen Beitragsanspruch des Krankenversicherungsträgers und Leistungsanspruch des Versicherten im Sinne eines Gegenleistungs- und Äquivalenzprinzips (zum Begriff vgl von Einem, ZfS 1988, 231, 232 mwN) ist offenkundig gestört, wenn der Träger - wie vorliegend die Beklagte - aus dem Versicherungsverhältnis einseitig Rechtspositionen in Gestalt von Beitragsansprüchen gegen den Versicherten ableitet, ohne dafür diesem gegenüber selbst nur das Risiko einer möglichen Gewährung von Versicherungsschutz durch Gewährung von Sozialleistungen zu tragen. Eine solche Äquivalenzstörung wird hingenommen werden können, wenn sie auf ein dem Versicherten nach dem Inhalt des sozialrechtlichen Versicherungsverhältnis vorwerfbares Verhalten zurückgeht, zB auf den Versuch, das das Recht der sozialen Krankenversicherung tragende Naturalleistungsprinzip zu umgehen oder auszuhöhlen. In Fällen aber, in denen in einer bestimmten zurückliegenden Zeitspanne bei dem Versicherten nicht anders als beim Krankenversicherungsträger allein die schlichte Unkenntnis über die kraft Gesetzes eingetretene Krankenversicherungspflicht ursächlich dafür war, daß der Versicherte den Naturalleistungsanspruch nicht geltend machte und der Träger Beiträge trotz Fälligkeit (zunächst) nicht erhob, kann der Versicherte nicht beitragspflichtig sein, ohne zugleich einen Leistungsanspruch zu haben: Eine solche schwere Störung des Äquivalenzprinzips ist nicht hinnehmbar, weil kein Grund ersichtlich ist, der es rechtfertigen könnte, daß bei der für beide Teile des Versicherungsverhältnisses gleichen, ihr Verhalten bestimmenden und erklärenden subjektiven Ausgangslage - Unwissenheit über das Bestehen eines Versicherungsverhältnisses schon in der Vergangenheit - der eine Teil (Träger) für die gleiche Zeit nur (durch Beitragsanspruch ohne Leistungsverpflichtung) begünstigt, der andere Teil (Versicherter) für die gleiche Zeit ausschließlich (durch Beitragspflicht ohne Leistungsanspruch) benachteiligt wäre. Diese nach allem nicht tolerierbare Äquivalenzstörung ist dadurch hintanzuhalten, daß dem Versicherten aus dem Versicherungsverhältnis derjenige Schutz gewährt wird, der bei dieser Sachlage noch erbringbar ist. Das ist hier eine Kostenerstattung.

Ein solcher Fall ist hier gegeben. Nach den den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) hatte der Kläger bis zum Erlaß des "Mitglieds- und Beitragsbescheids" der Beklagten vom 4. November 1983 keine Kenntnis davon, daß Versicherungspflicht in der gesetzlichen landwirtschaftlichen Krankenversicherung bereits 1974 eingetreten war. Die Beklagte bestreitet dies zwar, hat aber gegen die gegenteiligen Feststellungen des LSG keine zulässigen und begründeten Rügen der Verletzung von Normen des Verfahrensrechts vorgebracht (§§ 163 Halbsatz 2, 164 Abs 2 Satz 3 SGG). Ihre Behauptung, dem Kläger sei seine Unternehmereigenschaft durch Beitragsentrichtung an die landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft bereits bekannt gewesen, stellt eine vom LSG abweichende unbeachtliche Würdigung der Tatumstände des Falles dar.

Die Beklagte ist daher verpflichtet, dem Kläger als Sachleistungs-Surrogat (vgl zu diesem Begriff BVerwG vom 21. März 1979, ZBR 1979, 340 und 25. Juni 1979, ZBR 1980, 67; Stamm in BKK 1983, 286, 287) die Kosten zu erstatten, die ihr nach damaligem Recht auch bei Inanspruchnahme von Sachleistungen entstanden wären. Dies ist nach ihren eigenen Berechnungen ein Betrag von 2.670,92 DM. Hierbei handelt es sich nicht um einen Schadensersatzanspruch des Klägers, sondern um einen öffentlich-rechtlichen Geldanspruch, der aus dem Sozialrechtsverhältnis erwachsen ist (BSGE 53, 273, 277; BSG SozR 3100 § 18 Nr9).

Mit dieser Rechtsprechung weicht der Senat nicht iS von § 42 SGG von den Urteilen des 11. Senats vom 24. Februar 1961 (BSGE 14, 59, 63) und des 3. Senats vom 24. April 1972 (BSGE 34, 172, 173 f) ab. Diese Entscheidungen, die einen Kostenerstattungsanspruch unter dem Gesichtspunkt der "ungerechtfertigten Bereicherung" oder der "Geschäftsführung ohne Auftrag" auch dann verneint haben, wenn die vom Versicherten selbst beschafften Leistungen sich nach Art und Umfang im Rahmen der kassenärztlichen Versorgung gehalten haben, entsprechende Leistungen der Kassenärzte also "erspart" worden sind, betreffen andere Sachverhalte, die auch der erkennende Senat im Ergebnis ebenso beurteilt hätte. In beiden Fällen bestand nämlich für den Versicherten ein echtes Wahlrecht, ob er auf die vom Versicherungsträger angebotenen Sachleistungen zurückgreifen oder die - aus seiner Sicht möglicherweise wirksameren - selbstbeschafften Behandlungen in Anspruch nehmen wollte. An einer solchen - vom Gesetz vorausgesetzten - Entscheidungsmöglichkeit fehlt es aber im vorliegenden Fall.

Dem Erstattungsanspruch des Klägers steht kein rechtshindernder Einwand entgegen. § 44 Abs 4 Satz 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10), der nach ständiger Rechtsprechung (vgl BSG SozR 1300 § 44 Nrn 17, 23, 24, 25) und herrschender Auffassung im Schrifttum (vgl die Nachweise Nr 17 aaO S 37 und Nr 23 aaO S 53 f) eine von Amts wegen zu beachtende materiell-rechtlich wirkende vierjährige Ausschlußfrist enthält, ist weder unmittelbar - mangels Vorliegens eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes - noch entsprechend anwendbar. Entsprechend kann eine Vorschrift nur angewendet werden, wenn eine anfängliche oder nachträgliche Gesetzeslücke besteht, der nicht geregelte Tatbestand dem gesetzlich festgelegten ähnlich ist und beide Tatbestände wegen ihrer Ähnlichkeit gleich zu bewerten sind (Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl 1983, S 354 ff, 365, 366). Eine solche Fallkonstellation liegt hier nicht vor. Ein weitergehender allgemeiner Rechtsgrundsatz, wonach Sozialleistungen - auch beim Fehlen eines aufzuhebenden Verwaltungsaktes - unabhängig von den Verjährungsregelungen nicht über vier Jahre hinaus rückwirkend zu erbringen sind, läßt sich weder aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift noch aus ihrer systematischen Stellung im Gesetz ableiten (Urteil des erkennenden Senats vom 26. Mai 1987 - 4a RJ 49/86 = BSGE 62, 10, 13 ff = SozR 2200 § 1254 Nr 7 mit ausführlicher Begründung).

Die von der Beklagten erhobene Einrede der Verjährung läßt den Anspruch des Klägers auf Erstattung von 2.670,92 DM unberührt; auch soweit sich der streitige Erstattungsanspruch aus den auf das Jahr 1979 entfallenden Aufwendungen zusammensetzt, ist er nicht verjährt. Gemäß § 45 Abs 1 SGB 1 verjähren Ansprüche auf Sozialleistungen, zu denen auch die Ansprüche aus der gesetzlichen Krankenversicherung der Landwirte zählen (§ 19 SGB 4 iVm §§ 11, 12, 21 SGB 1), in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie entstanden sind. Nach § 38 Abs 1 KVLG entsteht der Anspruch auf Leistungen mit Beginn der Mitgliedschaft. Diese Vorschrift regelt jedoch entgegen ihrem Wortlaut nicht das Entstehen des einzelnen Leistungsanspruchs, sondern das Entstehen einer Anwartschaft auf Leistungen (Noell/Janssen, Die Krankenversicherung der Landwirte, 11. Aufl, Stand 1. März 1987, S 155; Hauck/Haines, SGB 1, Allgemeiner Teil, Kommentar, Stand 1. April 1988, K § 40 II RdNr 2). Nur das Recht auf die konkrete Einzelleistung unterliegt aber der Verjährung (vgl BSGE 34, 1, 4, 13). Ein derartiger Einzelanspruch ist entstanden, sobald seine im Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes bestimmten Voraussetzungen vorliegen (§ 40 Abs 1 SGB 1). Für den Anspruch auf Krankenpflege bedeutet dies, daß er mit jedem Tag neu entsteht, an dem die Notwendigkeit für diese Leistung vorliegt (Noell/Janssen aaO; Peters, SGB AT, Stand 1. August 1986, § 45 RdNr 6), ohne daß es eines Leistungsantrags als weiteren rechtsbegründenden Faktors bedarf. Deshalb sind die dem Kläger eigentlich zustehenden Sachleistungsansprüche spätestens zum jeweiligen Zeitpunkt der Inanspruchnahme ärztlicher Behandlung - also teilweise bereits im Jahr 1979 - entstanden. Nichts entscheidend anderes kann aber für die sie ersetzenden Kostenerstattungsansprüche gelten. Als Surrogate der Sachleistungsansprüche sind sie entstanden, sobald die Erbringung der jeweiligen Sachleistung rechtlich unmöglich geworden war. Soweit das LSG für den Beginn der Verjährung auf den Zeitpunkt des Erlasses des Mitglieds- und Beitragsbescheides schlechthin abstellt, berücksichtigt es nicht genügend, daß dem Bescheid lediglich deklaratorische Bedeutung zukommt und die mitgliedschaftlichen Rechte des Klägers im Sinne einer Anwartschaft - unabhängig von einer Beitragszahlung - kraft Gesetzes mit der Aufnahme seiner Tätigkeit als landwirtschaftlicher Unternehmer entstanden sind (§§ 38, 47 Nr 1 KVLG). Auch die Rückabwicklung des privaten Krankenversicherungsverhältnisses ist unabhängig vom Entstehen der Ansprüche gegenüber der Beklagten und von diesen zu trennen.

Dennoch kann sich die Beklagte im Hinblick auf Umstände und Besonderheiten des vorliegenden Falles sowie auch wegen ihres eigenen Verhaltens nicht auf Verjährung berufen und die Leistung verweigern, soweit sich der geltend gemachte Erstattungsbetrag aus in 1979 entstandenen Einzelansprüchen zusammensetzt.

Die Erhebung der Einrede der Verjährung ist unzulässig, wenn damit eine unzulässige Rechtsausübung, ein Verstoß gegen Treu und Glauben iS des § 242 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) verbunden ist (zB BSGE 42, 219, 222; VerbKomm, SGB 1, Stand 1. Juli 1984, § 45 Anm 5 mwN). Dabei braucht der Eintritt der Verjährung vom Schuldner, hier von der Beklagten, nicht absichtlich oder auch nur schuldhaft herbeigeführt worden zu sein, sondern die Verjährungseinrede ist auch unzulässig, wenn der Schuldner den Gläubiger, obgleich schuldlos, von der Wahrung der Frist abgehalten hatte (BGH 9, 50; 70, 96).

Im vorliegenden Fall hatte die Beklagte mit dem "Mitglieds- und Beitragsbescheid" vom 4. November 1983 Beiträge für die Zeit seit Dezember 1978 erhoben. Um die Verjährung aus Einzelansprüchen, die 1979 entstanden sind, zu vermeiden, wäre es erforderlich gewesen, noch in der verbliebenen kurzen Zeit des Jahres 1983 den Erstattungsanspruch geltend zu machen. Der Kläger hat aber gegen den Bescheid vom 4. November 1983, der im übrigen nur die gesetzliche Bestimmung über die Versicherungspflicht nennt, aber nicht die ihn tragenden wesentlichen rechtlichen und tatsächlichen Gründe enthält (vgl § 35 Abs 1 Satz 2 SGB 10), Widerspruch erhoben, also seine Mitgliedschaft und Beitragspflicht bestritten. Bei dieser Sachlage konnte von ihm als Laien auf versicherungsrechtlichem Gebiet nicht erwartet werden, gleichzeitig - um Rechtsverluste zu vermeiden - praktisch den gegenteiligen Standpunkt einzunehmen und hilfsweise, für den Fall des Bestehens der von ihm verneinten Mitgliedschaft und Beitragspflicht, Erstattung zu verlangen; er durfte vielmehr mangels Belehrung davon ausgehen, daß seine etwaigen Gegenrechte aus dem von der Beklagten damals zunächst ab dem 1. Dezember 1978 angenommenen Versicherungsverhältnis gewahrt bleiben würden, zumal die bindende Feststellung der Mitgliedschaft und Beitragspflicht vorgreiflich gegenüber einem Anspruch aus dem Versicherungsverhältnis war. Die damit gekennzeichnete Fallkonstellation kommt Umständen zumindest nahe, die eine Hemmung der Verjährung nach § 202 Abs 1 BGB, der über § 45 Abs 2 SGB 1 entsprechend anwendbar ist, aus Rechtsgründen rechtfertigen, "wenn der Verpflichtete" (hier die Beklagte) "aus einem anderen Grunde" (weil der Kläger die Beitragspflicht bestritt) "vorübergehend zur Verweigerung der Leistung berechtigt ist" (solange der Kläger die Beitragspflicht bestritt, also bis der Widerspruchsbescheid vom 28. März 1984 bindend geworden war).

Sofern aber die Beklagte trotz aller dieser Gegebenheiten meinen sollte, gleichwohl die Verjährungseinrede erheben zu können, muß sie sich entgegenhalten lassen, daß sie dann um so eher selbst verpflichtet gewesen wäre, den Kläger bereits anläßlich der Beitragserhebung über seine Gegenrechte auch dann aufzuklären, wenn sie deren Bestehen - im Gegensatz zu anderen Krankenkassen, wie aus dem später erteilten, in diesem Verfahren angefochtenen Bescheid vom 3. September 1984 ersichtlich - ablehnen wollte.

Das mit Bescheid vom 4. November 1983 festgestellte Versicherungsverhältnis begründete nach alledem für die Beklagte die Pflicht, hinsichtlich des 1979 entstandenen Teils des Erstattungsanspruchs von der Einrede der Verjährung abzusehen. Die dennoch erhobene Einrede ist unzulässig. Die Revision der Beklagten konnte daher keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1663927

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