Entscheidungsstichwort (Thema)

Nullschrumpfung des Ermessens. Prozeßökonomie. schutzwürdiges Interesse. Fristwahrung bei rechtswidrigem Rücknahmebescheid

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes (§ 45 SGB 10) ist eine Ermessensentscheidung (zuletzt BSG vom 15.10.1987 - 1 RA 37/85 -).

2. Das Rücknahmeermessen ist auf anderen Rechtsgebieten als dem des Versorgungsrechts im Regelfall nicht auf Null geschrumpft (Abgrenzung zu BSG 25.6.1986 9a RVg 2/84 = BSGE 60, 147 = SozR 1300 § 45 Nr 24).

3. Eine Ermessensentscheidung nach § 45 SGB 10 darf auf Anfechtungsklage hin wegen fehlender Ermessensausübung in der Regel nur beim Vorliegen der gesetzlichen Ermessensvoraussetzungen aufgehoben werden (Fortführung zu BSG vom 17.4.1986 - 7 RAr 127/84 und Abgrenzung zu BSG vom 15.10.1987 1 RA 37/85 -).

 

Orientierungssatz

1. Eine Schrumpfung des Ermessens auf Null setzt voraus, daß es nach dem festgestellten Sachverhalt ausgeschlossen ist, daß Umstände vorliegen, die eine anderweitige Ausübung des Ermessens rechtsfehlerfrei zuließen.

2. Die Prozeßökonomie fordert, daß der gesamte Rechtsstreit möglichst in einem Verfahren erledigt wird. Unter dem Gesichtspunkt der Prozeßökonomie ist das Interesse des Klägers, soweit es ihm nicht nur auf einen prozessualen Zwischenerfolg, sondern auf das Gesamtergebnis ankommt, schutzwürdig.

3. Sowie die Jahresfrist des § 45 Abs 4 S 2 SGB 10 durch eine rechtswidrige und deshalb aufzuhebende Rücknahme gewahrt bleibt, wenn der Rücknahmebescheid unverzüglich fehlerfrei wiederholt wird (vgl BSG vom 26.8.1987 11a RA 30/86 = SozR 1300 § 48 Nr 39), gilt das für die Fristen des § 45 Abs 3, die ebenfalls dem Vertrauensschutz dienen, entsprechend.

 

Normenkette

SGB 10 § 45 Abs. 2, 4 S. 2, Abs. 3 S. 1; SGB 1 § 39

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 29.10.1986; Aktenzeichen L 6 Ar 240/86)

SG Gießen (Entscheidung vom 10.11.1983; Aktenzeichen S 5 Ar 116/81)

 

Tatbestand

Streitig ist die Herabsetzung eines bewilligten Unterhaltsgeldes (Uhg) für die Zukunft.

Die beklagte Bundesanstalt beriet in einer gemeinsamen Veranstaltung mehrere als Krankenpflegehelfer (-helferin) beim beigeladenen Landeswohlfahrtsverband (LWV) im Psychiatrischen Krankenhaus in G. (PKH) Beschäftigte über die beabsichtigte Fortbildung zum Krankenpfleger (Krankenschwester), insbesondere über die Höhe des zu erwartenden Uhg. Die Uhg-Bewilligung erfolgte auf der Grundlage einer Arbeitsentgeltbescheinigung des Beigeladenen über ein festes Monatsentgelt, das Zulagen für Sonntags-, Feiertags-, Nacht- und Bereitschaftsdienste enthielt, die nach Auffassung der Beteiligten nicht zum Arbeitsentgelt iS des § 112 Abs 2 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) gehören. Der Beigeladene gab aufgrund einer späteren Rücksprache mit der Beklagten in einer neuen Entgeltbescheinigung ein um die Zulagen vermindertes festes Monatsentgelt an. Die Beklagte setzte daraufhin mit Wirkung für die Zukunft das Uhg auf einen entsprechend niedrigeren Betrag herab. Die von der Beklagten gegen den Beigeladenen erhobene Klage auf Schadenersatz wegen unrichtiger Arbeitsentgeltbescheinigung wurde rechtskräftig abgewiesen.

Das Sozialgericht (SG) hat den Herabsetzungsbescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, das Uhg nach dem ursprünglich zugrundegelegten Arbeitsentgelt zu gewähren. Die Berufung der Beklagten wurde vom Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 18. Juli 1984). Der erkennende Senat hat dieses Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen (Urteil vom 28. November 1985, veröffentlicht in BSGE 59, 206 = SozR 1300 § 45 Nr 29).

Das LSG hat die Berufung der Beklagten erneut zurückgewiesen (Urteil vom 29. Oktober 1986). § 45 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) lasse unter den dort genannten Voraussetzungen die Rücknahme nur nach Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens zu. Im vorliegenden Fall schrumpfe die rechtlich gegebene Ermessensfreiheit derart zusammen, daß nur eine einzige ermessensfehlerfreie Entschließung, nämlich das Absehen von einer Rücknahme, möglich sei.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 45 SGB 10 und der §§ 131 Abs 1, 54 Abs 2, 170 Abs 5 SGG.

Die Beklagte beantragt, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Der Beigeladene hat von einer Stellungnahme abgesehen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten mußte erneut im Sinne einer Zurückverweisung Erfolg haben. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der mit der Klage angefochtene Bescheid, mit dem die Beklagte unter Teilrücknahme des ursprünglichen Bewilligungsbescheides das Uhg für die Zukunft auf einen erheblich niedrigeren Betrag festgesetzt hat. Der Senat braucht insoweit den Anhaltspunkten dafür nicht nachzugehen, daß die Beklagte während des Berufungsverfahrens die Uhg-Berechnung erneut geringfügig korrigiert hat. Der angefochtene Bescheid hat dadurch seine Bedeutung nicht verloren und es genügt, wenn die neuen Bescheide nach Zurückverweisung vom Berufungsgericht ermittelt und berücksichtigt werden (ähnlich bei vergleichbarem Sachverhalt Urteil des BSG vom 28. Oktober 1987 - 7 RAr 87/85 -).

Das LSG hat die Klage als begründet angesehen, weil das von der Beklagten nach § 45 SGB 10 auszuübende Rücknahmeermessen auf Null geschrumpft sei und rechtsfehlerfrei nur im Sinne eines Absehens von der Rücknahme ausgeübt werden könne. Hiergegen wendet die Beklagte unter anderem ein, daß § 45 SGB 10 kein Rücknahmeermessen einräume.

Bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 45 SGB 10 ist die Behörde nicht schlechthin verpflichtet, einen begünstigenden Verwaltungsakt zurückzunehmen; die Rücknahme steht dann noch in ihrem Ermessen, wie der Senat bereits mehrfach entschieden hat (SozR 1300 § 45 Nr 12; BSGE 55, 250 = SozR 1300 § 50 Nr 3). Dem haben sich angeschlossen der 7. Senat (SozR 1300 § 45 Nr 19), der 1. Senat (Urteil vom 15. Oktober 1987 - 1 RA 37/85 -) und der 10. Senat (Urteil vom 9. Dezember 1987 - 10 RKg 3/86 -); auch das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) versteht den § 45 SGB 10 in diesem Sinne (BVerwGE 70, 69; Urteil vom 17. September 1987 - BVerwG 5 C 20.84 -). Der 9a Senat des BSG hat allerdings, und dem tritt die Beklagte bei, Bedenken geäußert und angenommen, bei der Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes nach § 45 Abs 1 SGB 10 bleibe im Regelfall für die Ausübung von Ermessen kein Raum (BSGE 60, 147 = SozR 1300 § 45 Nr 24).

Nach Auffassung des 9a Senats wäre es mit Wortlaut und -sinn vereinbar, wie früher zu entsprechenden Formulierungen im Rücknahmetatbestand des § 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) und in der Bestimmung über einen Zugunstenbescheid in § 40 KOVVfG die Bestimmung als bloße Handlungsermächtigung auszulegen. Das könnte iS der Annahme zu verstehen sein, der Gesetzgeber habe die frühere Regelung der Rücknahme im Recht der Kriegsopferversorgung in § 45 SGB 10 nunmehr für alle Verwaltungsbereiche als verbindlich vorsehen wollen. Eine solche Annahme findet in den Gesetzesmaterialien keine Stütze. Das SGB 10 ist dem Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) nachgestaltet, und Abweichungen werden regelmäßig in der Gesetzesbegründung erwähnt. Nach § 48 VwVfG steht die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte im Ermessen der Behörde. Hiervon geht auch der Große Senat des BVerwG aus, wenn er die Jahresfrist des § 48 Abs 4 Satz 1 VwVfG mit der Kenntnis aller für die Vertrauensabwägung sowie der "für die Ermessensausübung wesentlichen Umstände" beginnen läßt (BVerwGE 70, 356, 362; ähnlich BVerwG Urteil vom 19. Juli 1985 - 4 C 23/82 - NVwZ 1986, 119).

Gegen einen Ermessensspielraum soll ferner sprechen, daß bei der Interessenabwägung nach § 45 Abs 2 SGB 10 praktisch alle Gesichtspunkte erörtert werden müssen, die die Verwaltung auch bei einer Ermessensausübung nach Abs 1 dieser Vorschrift zu berücksichtigen hätte. Der Einwand läßt die Fälle unberücksichtigt, in denen nach § 45 Abs 2 Satz 2 ein Vertrauensschutz von vornherein ohne umfassende Abwägung ausgeschlossen ist. Hat zB der Begünstigte Angaben gemacht, die er ohne grobe Fahrlässigkeit als rechtlich unerheblich ansah, deren Unrichtigkeit er aber kannte oder grob fahrlässig nicht kannte, so schließt das den Rechtsanspruch auf Vertrauensschutz aus, nicht aber ein Absehen von der Rücknahme nach Ermessen wegen der besonderen Umstände des Einzelfalles. Das gilt entsprechend, wenn der Begünstigte für ein unredliches Verhalten seines gesetzlichen Vertreters einzustehen hat, kommt aber auch bei gewillkürter Vertretung in Betracht.

Die Annahme des 9a Senats, beim Vorliegen der Rücknahmevoraussetzungen des § 45 Abs 2 SGB 10 sei der Ermessensspielraum, wie ihn die herrschende Meinung annehme, im Regelfall auf Null geschrumpft im Sinne einer Rückforderung, räumt der Verwaltung nur ein "Soll-Ermessen" ein, also ein Ermessen in atypischen Fällen, wie dies der Rechtsprechung zu § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10 entspricht (SozR 1300 § 48 Nr 30 mwN). Wortlaut und Entstehungsgeschichte des § 45 SGB 10 geben keinen Anhaltspunkt für eine derartige Einschränkung des Ermessensspielraums.

Der Fortführung der bisherigen Rechtsprechung, daß das Rücknahmeermessen in Anwendung des § 45 SGB 10 auf anderen Rechtsgebieten als dem des Versorgungsrechts im Regelfall auszuüben ist, steht das angeführte Urteil des 9a Senats nicht entgegen (so im Ergebnis auch die angeführten Urteile des 1. Senats vom 15. Oktober 1987 und des 10. Senats vom 9. Dezember 1987; zweifelnd Urteil vom 9. April 1987 - 5b RJ 36/86 - SozR 1300 § 45 Nr 29). Soweit das Urteil einen Ermessensspielraum allgemein oder doch für den Regelfall verneint, stützt es sich vorrangig auf die Rechtsentwicklung der Kriegsopferversorgung und macht nicht deutlich, daß die aufgestellten Rechtssätze über dessen Bereich hinaus gelten sollen. Umgekehrt läßt der erkennende Senat offen, ob § 45 SGB 10 im Bereich der Kriegsopferversorgung eine abweichende Auslegung erfahren kann.

Für eine "Nullschrumpfung" des Ermessens im umgekehrten Sinne, wie vom LSG angenommen, fehlen ausreichende Feststellungen. Das LSG meint einerseits, die Beklagte habe das nach § 45 SGB 10 auszuübende Ermessen nicht ausgeübt, was auf den Widerspruchsbescheid zu beziehen ist, und andererseits, daß der Ermessensspielraum auf Null geschrumpft sei, was dann zur Vermeidung eines inneren Widerspruchs auf die spätere gerichtliche Entscheidung zu beziehen ist. Eine Schrumpfung des Ermessens auf Null setzt voraus, daß es nach dem festgestellten Sachverhalt ausgeschlossen ist, daß Umstände vorliegen, die eine anderweitige Ausübung des Ermessens rechtsfehlerfrei zuließen. Welche Umstände insoweit in Betracht zu ziehen sind, richtet sich nach Sinn und Zweck der Ermessenseinräumung (vgl BSGE 61, 189, 192 = SozR 1300 § 48 Nr 31).

Das Berufungsurteil sagt nicht ausdrücklich, aus welchen Gründen die Beklagte in Ausübung ihres Ermessens von der Rücknahme absehen mußte. Es führt zur Ermessensausübung auch unter Berücksichtigung seines ersten Urteils lediglich allgemein aus, die Beklagte hätte die Beratung durch den Zeugen G. bzw den Umfang und die Intensität dieser Beratung, die außergewöhnlichen Umstände, die zur Bewilligung des Uhg geführt hatten, und den Umstand berücksichtigen müssen, daß die Teilnehmer des Beratungsgespräches für die Beklagte ersichtlich ihren Entschluß zur Teilnahme von der Auskunft zur Höhe des zu erwartenden Uhg abhängig machen wollten. Der Senat hat im ersten zurückverweisenden Urteil bereits zur Abwägung des Vertrauensschutzes bemängelt, es bleibe zu Unrecht unberücksichtigt, daß die vorgelegte Arbeitsentgeltbescheinigung die Gesamtbezüge als Festgehalt ausweise, so daß sich auf der Grundlage dieser Bescheinigung die Frage, ob Zulagen als lohnsteuerfrei oder als unregelmäßig gezahlt beim Bemessungsentgelt unberücksichtigt zu bleiben haben, für die Beklagte gar nicht gestellt habe. An dem Tatbestand unrichtiger Angaben fehle es nur, wenn besondere Umstände die Annahme rechtfertigten, die Beklagte werde die Arbeitsentgeltbescheinigung im Sinne des tatsächlich vorliegenden Sachverhalts verstehen. Das LSG habe die vom SG getroffenen Feststellungen zur Absprache zwischen dem Arbeitgeber und der Beklagten über die Ausfüllung der Arbeitsentgeltbescheinigung nicht als eigene Feststellung übernommen, so daß offen bleiben könne, ob sich hieraus die Kenntnis der Beklagten von der Zahlung der fraglichen Zulagen ableiten lasse. Ohne Klärung dieser Umstände kann weder die nach § 45 Abs 2 Satz 1 SGB 10 erforderliche Abwägung vorgenommen werden, wie vom Senat im ersten Urteil bereits entschieden, noch die auf eine besondere Verantwortlichkeit der Beklagten gestützte, zu deren Lasten gehende Nullschrumpfung begründet werden. Die Auffassung des LSG, das Rücknahmeermessen sei auf Null geschrumpft, da die Beklagte ihr Ermessen nicht ausgeübt, die hierzu erforderlichen Feststellungen nicht getroffen und überdies ihrer Darlegungslast im Widerspruchsbescheid hinsichtlich der Ermessensgründe nicht genügt habe, verkennt, daß hier eine fehlende oder fehlerhafte Ausübung des Ermessens oder eine fehlerhafte Ermessensbegründung nur die Aufhebung des Rücknahmebescheides rechtfertigt, aber nicht den Ermessensspielraum einschränkt. Ferner hat das LSG die Bedeutung des Rücknahmeermessens, das alle Billigkeitsgesichtspunkte zu berücksichtigen hat, auch in anderer Hinsicht verkannt. In der letzten mündlichen Verhandlung hat es nach Beratung den Beteiligten nämlich einen Vergleichsvorschlag unterbreitet, wonach die Beklagte zusätzlich von der Berücksichtigung eines Bemessungsentgelts von 60 vH der Differenz ausgehen sollte. Wenn dieser Vergleichsvorschlag der Billigkeit entsprach, so ist kein Grund ersichtlich, der die Beklagte an einer entsprechenden Ausübung des Rücknahmeermessens hindern könnte.

Die vom LSG bestätigte Aufhebung des Rücknahmebescheides kann auch nicht mit der Begründung gehalten werden, daß der Rücknahmebescheid jedenfalls wegen fehlender Ermessensausübung rechtswidrig sei. Zu den Tatbestandsvoraussetzungen einer Rücknahme gehört zwar auch die fehlerfreie Ausübung des Rücknahmeermessens neben den übrigen Tatbestandsmerkmalen, an deren Vorliegen das Gesetz die Ermessensausübung knüpft (Ermessensvoraussetzungen). Der erkennende Senat hat es jedoch schon im ersten Urteil als untunlich bezeichnet, ohne Klärung der gesetzlichen Rücknahmevoraussetzungen den Rücknahmebescheid allein wegen fehlender Ermessensausübung aufzuheben. Dem hat sich der 7. Senat angeschlossen und den Rechtsstreit über die Anfechtung eines Rücknahmebescheides trotz fehlender Ermessensausübung an das Berufungsgericht zur Klärung der Ermessensvoraussetzungen zurückverwiesen (Urteil des BSG vom 17. April 1986 - 7 RAr 127/84 - Die Beiträge 1986, 254 = USK 8675). Diese Rechtsprechung ist dahin fortzuentwickeln, daß in der Regel eine Ermessensentscheidung nach § 45 SGB 10 auf Anfechtungsklage hin wegen fehlender (oder fehlerhafter) Ermessensausübung nur beim Vorliegen der gesetzlichen Ermessensvoraussetzungen aufgehoben werden darf; ist ausnahmsweise mit einem wiederholenden Verwaltungsakt nicht zu rechnen, so dürfen die Ermessensvoraussetzungen offen bleiben.

Zwar gilt im Verwaltungsprozeß wie im Zivilprozeß die Grundregel, daß das Gericht bei der Auswahl des Grundes (also in der Prüfungsreihenfolge) - abgesehen von den hier nicht betroffenen Sachurteilsvoraussetzungen - frei ist: Ist eine Klage aus mehreren Gründen gerechtfertigt oder aus mehreren Gründen abzuweisen, so ist es Sache des Gerichts, auf welchen Grund es seine Entscheidung stützt. Das gilt auch bei der Anfechtungsklage, wenn ein Verwaltungsakt aus mehreren Gründen rechtswidrig und deshalb aufzuheben ist. Jedoch ist die unterschiedliche Tragweite der Aufhebung einer Ermessensentscheidung einerseits wegen fehlender Ermessensvoraussetzungen und andererseits wegen fehlender Ermessensausübung zu berücksichtigen. Werden zu einem Rücknahmebescheid die Ermessensvoraussetzungen verneint, so braucht der Kläger nicht mit einer erneuten Inanspruchnahme zu rechnen. Ist nämlich auf eine Anfechtungsklage hin der Verwaltungsakt aufgehoben worden, weil er inhaltlich gegen das Gesetz verstößt, so ist eine Wiederholung ohne Änderung der Sach- und Rechtslage nicht zulässig (Meyer-Ladewig, SGG, 3. Aufl, RdNr 10 zu § 141; Peters/Sautters/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl, Anm 3b, bb zu § 141, S II/257; BSGE 8, 185; 49, 197, 199 = SozR 4100 § 119 Nr 11; SozR 3100 § 62 Nr 5). Werden die Ermessensvoraussetzungen bejaht und wird die Ermessensentscheidung nur wegen fehlender oder fehlerhafter Ermessensausübung aufgehoben, so hat der Kläger mit einer erneuten Ermessensausübung zu rechnen. Bleiben die Ermessensvoraussetzungen offen, so weiß weder die Behörde noch der Kläger, ob - nach dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung - das Ermessen erneut auszuüben ist. Das birgt die Gefahr einer erneuten Inanspruchnahme der Gerichte. Die Rechtsauffassung, daß das Gericht bei der Wahl zwischen den verschiedenen Klagegründen oder Tatbestandsmerkmalen des § 45 SGB 10 deren Tragweite berücksichtigen muß, ergibt sich aus dem Grundsatz der Prozeßökonomie, der mit dem wohlverstandenen Interesse sowohl des klagenden Betroffenen als auch der beklagten Behörde verschränkt ist. Die Prozeßökonomie fordert, daß der gesamte Rechtsstreit möglichst in einem Verfahren erledigt wird. Unter dem Gesichtspunkt der Prozeßökonomie ist das Interesse des Klägers, soweit es ihm nicht nur auf einen prozessualen Zwischenerfolg, sondern auf das Gesamtergebnis ankommt, schutzwürdig. Für die Beklagte ist es zweckmäßig, wenn die Frage, ob ein erneuter Rücknahmebescheid - nach dem Prinzip der gesetzmäßigen Verwaltung - vorgenommen oder unterlassen werden muß, möglichst rasch geklärt und nicht erst in einem weiteren Prozeß endgültig entschieden wird. Die aufgezeigten Unterschiede in der Tragweite der einen Rücknahmebescheid aufhebenden Urteile findet im Zivilprozeß keine Entsprechung. Das schließt insoweit einen Rückgriff auf Grundsätze des Zivilprozeßrechts aus.

Der 5. Senat des BVerwG hat in der bereits angeführten Entscheidung vom 17. September 1987 - 5 C 20.84 - das Vorliegen der gesetzlichen Ermessensvoraussetzungen offen gelassen und den Rücknahmebescheid allein wegen fehlender Ermessensausübung aufgehoben. In mehreren anderen Entscheidungen vom selben Tage hat er jedoch die von der Behörde aufgrund des Bundesausbildungsförderungsgesetzes ohne Ermessensausübung ausgesprochene Rückforderung in Anwendung des § 45 SGB 10 wegen fehlender Ermessensvoraussetzungen, insbesondere wegen Versäumung der nach § 45 Abs 3 SGB 10 zu beachtenden Fristen, aufgehoben (5 C 16.86 und 5 C 19.86). Das zeigt, daß auch nach Auffassung des 5. Senats des BVerwG die Ermessensvoraussetzungen jedenfalls im Regelfall nicht offen bleiben dürfen. Wenn der 1. Senat des BSG in seinem Urteil vom 15. Oktober 1987 - 1 RA 37/85 - in einem Einzelfall das Vorliegen der Ermessensvoraussetzungen unentschieden gelassen hat, so ist auch das im Sinne einer Ausnahme zu verstehen.

Die unterschiedliche Tragweite einer Aufhebung des Verwaltungsaktes in diesen Fällen je nach Aufhebungsgrund kann nicht mit der Begründung in Zweifel gezogen werden, daß das Verwaltungsrecht eine gesteigerte Rechtswidrigkeit nicht kenne. Bei der Prüfungsreihenfolge geht es um ein Problem des Prozeßrechts (und der Prozeßökonomie), nicht um das Wesen der (materiellen) Rechtswidrigkeit. Wenn das Revisionsgericht dem Prozeßrecht in den vorgenannten engen Grenzen unter dem Gesichtspunkt der Prozeßökonomie eine im Regelfall verbindliche Prüfungsreihenfolge entnimmt, so entspricht das dem Vorrang der Prozeßvoraussetzungen. Darin liegt jedenfalls keine unzulässige "Weisung" an das Berufungsgericht.

Besondere Umstände, die eine Befürchtung der Prozeßwiederholung ausschließen könnten, sind hier nicht ersichtlich. Eine solche Befürchtung entfällt nicht schon dann, wenn der Kläger zu erkennen gibt, daß er eine Aufhebung allein wegen fehlender Ermessensausübung begehrt und auf eine weitergehende Aufhebung wegen fehlender Ermessensvoraussetzungen "verzichtet". Denn ein solches Verhalten hindert die Klageerhebung gegen eine erneute Rücknahme nicht. Der zwischenzeitliche Ablauf der Zweijahresfrist des § 45 Abs 3 Satz 1 SGB 10 schließt eine Prozeßwiederholung nicht aus. Der Senat hat bereits entschieden, daß die Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 durch eine rechtswidrige und deshalb aufzuhebende Rücknahme gewahrt bleibt, wenn der Rücknahmebescheid unverzüglich fehlerfrei wiederholt wird (Urteil vom 26. August 1987 - 11a RA 30/86 - SozR 1300 § 48 Nr 39). Das gilt für die Fristen des § 45 Abs 3, die ebenfalls dem Vertrauensschutz dienen, entsprechend.

An die Entscheidung, daß der bisher festgestellte Sachverhalt die vom LSG getroffene Entscheidung weder mit der vom LSG gegebenen Begründung noch aus anderen Gründen rechtfertigt noch eine anderweitige Sachentscheidung ermöglicht (§ 170 SGG), ist das LSG gebunden.

Für das weitere Verfahren gibt der Senat folgende Hinweise: Die Annahme des LSG, daß die steuerfrei gezahlten Zuschläge bei der Bemessung des Uhg nicht als Entgelt zu berücksichtigen seien, entspricht der Rechtsprechung des Senats zur Höhe des Übergangsgeldes (BSGE 60, 201 = SozR 4100 § 59 Nr 4). Das LSG sieht den Bewilligungsbescheid "zumindest" insoweit als rechtswidrig an, als Zeitzuschläge für Nacht-, Samstags- und Sonntagsarbeit berücksichtigt wurden, und meint, daß damit der Bescheid rechtswidrig im Sinne des § 45 Abs 1 SGB 10 sei. Damit wird verkannt, daß § 45 SGB 10 die Rücknahme nur zuläßt, "soweit" ein Verwaltungsakt rechtswidrig ist. Es ist also zwischen der Rücknahme hinsichtlich dieser Zuschläge und hinsichtlich der Vergütung für Bereitschaftsdienst zu unterscheiden. Soweit der Kürzungsbetrag auf diese Zuschläge entfällt, ist zu klären, ob die Beklagte aufgrund der Angaben im Leistungsantrag oder aufgrund der Angaben gegenüber dem Zeugen G., oder aufgrund eines Telefongesprächs zwischen Arbeitgeber und Arbeitsamt bei der Bewilligung hätte berücksichtigen müssen, daß das angegebene Arbeitsentgelt beitrags- und lohnsteuerfreie Zulagen enthielt. Ferner ist zu klären, ob der Leistungsempfänger hinsichtlich dieser Zuschläge die Unrichtigkeit der Arbeitsentgeltbescheinigung erkannt hat, und ob er gleichwohl davon ausging, die Beklagte werde die Bescheinigung schon richtig verstehen, was dann der näheren Begründung bedarf.

Nach dem Vorbringen der Beklagten entfällt der Differenzbetrag etwa zur Hälfte auf vorgenannte Zuschläge und zur anderen Hälfte auf die Vergütung für Bereitschaftsdienst. Die Beklagte meint, sie müsse den Bereitschaftsdienst unberücksichtigt lassen, weil dieser "regelmäßig" geringer entlohnt werde als Normalarbeitszeit und damit zu einer Minderung des Bemessungsentgelts führe. Insoweit bedarf es der Feststellung, inwieweit der Verdienst und die Arbeitszeit im Bezugszeitraum auf Bereitschaftsdienst entfielen (vgl hierzu BSG SozR 4100 § 112 Nr 22). Hinsichtlich des Vertrauensschutzes ist insoweit zu klären, ob der Beklagten bei Erlaß des Bewilligungsbescheides aufgrund der Angaben im Leistungsantrag, der Verdienstbescheinigung oder aufgrund der gegenüber dem Zeugen G. gemachten Angaben bekannt war oder bekannt sein mußte, daß das angegebene Arbeitsentgelt teilweise auf Bereitschaftsdienst entfiel, der bei der wöchentlichen Arbeitszeit nicht berücksichtigt war. Auch insoweit bedarf es dann der Feststellung, ob der Leistungsempfänger erkannt hat, daß die wöchentliche Arbeitszeit in der Arbeitsentgeltbescheinigung unrichtig angegeben war, und ggf, ob er davon ausgehen durfte, daß die Beklagte die Angabe dennoch richtig verstehen werde.

Soweit sich ergibt, daß der von der Beklagten erstellte Vordruck für die Entgeltbescheinigung des Arbeitgebers hinsichtlich der Zuschläge und/oder des Bereitschaftsdienstes mißverstanden wurde, bedarf es zum Inhalt des Vordrucks und zu dessen Mißverständlichkeit näherer Feststellungen, da im Falle eines Mißverständnisses die Verantwortlichkeit zu berücksichtigen ist.

Für den Fall, daß das LSG wiederum die Anfechtungsklage als begründet ansieht, wird erneut darauf hingewiesen, daß mit der Aufhebung des Rücknahmebescheides der Bewilligungsbescheid wieder wirksam wird, so daß die Beklagte nicht noch, wie im Urteil des SG geschehen, zur Leistung verurteilt werden darf (BSGE 58, 49).

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem Endurteil vorbehalten. Der Senat hat bei der Zurückverweisung nach § 170 Abs 2 Satz 2 SGG in entsprechender Anwendung des § 565 Abs 1 Satz 2 der Zivilprozeßordnung von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Sache an einen anderen Senat des Berufungsgerichts zurückzuverweisen (vgl Urteil des BSG vom 24. März 1976 - 9 RV 72/74 - Breithaupt 1976, 803).

 

Fundstellen

Haufe-Index 1652593

BSGE, 37

NVwZ-RR 1989, 284

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