Leitsatz (amtlich)

Die Haftungsprivilegierung im Sinne des § 106 Abs. 3, 3. Alternative SGB VII kommt auch einem versicherten Unternehmer zugute, der selbst eine vorübergehende betriebliche Tätigkeit auf einer gemeinsamen Betriebsstätte verrichtet und dabei den Versicherten eines anderen Unternehmens verletzt.

 

Normenkette

SGB VII § 106 Abs. 3 Alt. 3

 

Verfahrensgang

OLG Stuttgart

LG Hechingen

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des 14. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 22. März 2000 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Feststellung, daß der Beklagte, ein selbständiger Tierarzt, ihr sämtliche materiellen und immateriellen Schäden aus einem Unfall vom 27. Juni 1998 zu ersetzen hat, soweit Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen sind. Der Ehemann der Klägerin betrieb auf einem landwirtschaftlichen Anwesen einen Reitstall und war bei einer gesetzlichen Unfallversicherung Mitglied; die Klägerin arbeitete in seinem Betrieb in den Bereichen „Haushalt, Pferde und Landwirtschaft” mit. Der Beklagte war nach dem Tatbestand des Berufungsurteils ebenfalls gesetzlich unfallversichert.

Am Unfalltag hatte der Ehemann der Klägerin den Beklagten zu dem Reitstall gerufen. Dort stellte der Beklagte bei einer Stute eine Zwillingsträchtigkeit fest. Man kam überein, daß der Beklagte versuchen sollte, eine der beiden Schwangerschaften zu beenden. Dazu führte er die Sonde eines Ultraschallgeräts mit der Hand in den Mastdarm der Stute ein und versuchte, durch Reiben eine der Fruchtblasen zum Platzen zu bringen. Hierbei wurde zum Schutz des Beklagten das linke Hinterbein des Pferdes mit einem Spannstrick fixiert, der nach vorne um den Hals geführt und von der Klägerin, die dabei links neben dem Kopf der Stute stand, gehalten wurde. Plötzlich setzte sich die Stute nach hinten ab und bewegte sich aus dieser Position nach vorne, wodurch die Klägerin gegen eine eiserne Anbindestange gedrückt wurde und sich schwerste Verletzungen zuzog. Aufgrund einer nachfolgenden Embolie kam es zu einer schweren Hirnschädigung; die Klägerin befindet sich seitdem im Wachkoma. Ihr Unfall wurde von der Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft als Arbeitsunfall nach § 8 SGB VII anerkannt.

Die Klägerin wirft dem Beklagten vor, ihre Verletzungen fahrlässig verursacht zu haben. Er habe den Eingriff entweder in anderer Form durchführen oder sie während der Behandlung aus dem Gefahrenbereich verweisen müssen. Der Beklagte stellt ein tierärztliches Fehlverhalten in Abrede und ist im übrigen der Auffassung, daß seine Haftung gemäß § 106 Abs. 3, 3. Alt. SGB VII jedenfalls ausgeschlossen sei.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg. Mit ihrer Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.

 

Entscheidungsgründe

I.

Das Berufungsgericht hat offengelassen, ob den Beklagten ein Verschulden an dem Unfall trifft. Es hat ebenfalls offengelassen, ob eine Haftungsbeschränkung des Beklagten bereits unmittelbar aus § 104 Abs. 1 SGB VII folge, weil die Klägerin bei der Tätigkeit, die zu ihrer Verletzung geführt hat, für den Betrieb des Beklagten wie eine Beschäftigte im Sinne des § 2 Abs. 2 SGB VII tätig oder in den Unfallbetrieb des Beklagten eingegliedert gewesen sei. Jedenfalls greife eine Haftungsprivilegierung des Beklagten nach § 106 Abs. 3, 3. Alt. SGB VII, weil sich der Unfall bei einer vorübergehenden betrieblichen Tätigkeit auf einer gemeinsamen Betriebsstätte ereignet habe und dem Beklagten allenfalls Fahrlässigkeit zur Last fallen könne. Die Haftungsbeschränkung gemäß § 106 Abs. 3 SGB VII gelte nicht nur im Verhältnis mehrerer Arbeitnehmer der beteiligten Betriebe zueinander, sondern auch im Verhältnis eines geschädigten Arbeitnehmers zu dem Unternehmer des fremden Betriebes, hier also dem Beklagten.

II.

Das Berufungsurteil hält im Ergebnis den Angriffen der Revision stand.

1. Zu Recht geht das Berufungsgericht davon aus, daß es sich – wenn die Hilfstätigkeit der Klägerin nicht schon eine solche für den Betrieb des Beklagten mit der Folge eines direkten Haftungsausschlusses nach § 104 Abs. 1 SGB VII war – jedenfalls um eine vorübergehende gemeinsame Betriebsstätte der Unternehmen des Ehemanns der Klägerin und des Beklagten im Sinne des § 106 Abs. 3, 3. Alt. SGB VII handelte. Denn die betrieblichen Tätigkeiten – Versuch der Beendigung einer Trächtigkeit durch den Beklagten mittels einer Ultraschallsonde einerseits und das Festhalten des Pferdes unter Fixierung eines Hinterbeines andererseits – waren Aktivitäten, die bewußt und gewollt ineinandergriffen und miteinander verknüpft waren; sie ergänzten sich gegenseitig, und die Klägerin unterstützte den Beklagten, der seine Tätigkeit nicht ausführen konnte, ohne daß das Pferd von einer anderen Person fixiert wurde (vgl. zu den Voraussetzungen einer gemeinsamen Betriebsstätte im Sinne von § 106 Abs. 3, 3. Alt. SGB VII Senatsurteile vom 17. Oktober 2000 – VI ZR 67/00 – BGHZ 145, 331 ff. = VersR 2001, 336 f.; v. 23. Januar 2001 – VI ZR 70/00VersR 2001, 372 f.).

2. Im Ergebnis zutreffend hat das Berufungsgericht gemäß § 106 Abs. 3, 3. Alt. SGB VII das Haftungsprivileg bei vorübergehenden betrieblichen Tätigkeiten auf einer gemeinsamen Betriebsstätte auch dem Beklagten zugute kommen lassen. Freilich besteht ein Ausschluß der möglichen Haftung des Beklagten für Personenschäden der Klägerin auf Grund fahrlässigen Fehlverhaltens entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht bereits deshalb, weil die Haftung des Unternehmers bei Schädigung des Versicherten eines anderen Unternehmens auf gemeinsamer Betriebsstätte nach dieser Vorschrift grundsätzlich ausgeschlossen wäre. Wie der Senat mit Urteil vom gleichen Tage in der Sache VI ZR 284/00 entschieden hat, kann dem § 106 Abs. 3, 3. Alt. SGB VII eine so weitgehende Bedeutung nicht beigemessen werden. Vielmehr kommt die Haftungsfreistellung nur dem versicherten Unternehmer zugute, der selbst auf einer gemeinsamen Betriebsstätte i. S. des § 106 Abs. 3 SGB VII eine vorübergehende betriebliche Tätigkeit verrichtet und dabei den Versicherten eines anderen Unternehmens verletzt.

a) Dies folgt aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift, deren Rechtfertigung sich (nur) in dem Gesichtspunkt der sog. Gefahrengemeinschaft findet (vgl. hierzu BVerfGE 34, 118, 136). Hiernach erhalten die in enger Berührung miteinander Tätigen als Schädiger durch den Haftungsausschluß einen Vorteil. Sie haben dafür andererseits als Geschädigte den Nachteil hinzunehmen, daß sie selbst gegen den unmittelbaren Schädiger keine Schadensersatzansprüche wegen ihrer Personenschäden geltend machen können. Andere Gesichtspunkte, die in den Fällen der §§ 104, 105 SGB VII eine Rolle spielen (Wahrung des Betriebsfriedens, Haftungsersetzung durch die an die Stelle des Schadensersatzes tretenden Leistungen der Unfallversicherung, die vom Unternehmer finanziert wird, vgl. BVerfGE 34, 118, 132), kommen hier dagegen nicht zum Tragen (vgl. Senatsurteil vom 3. Juli 2001 – VI ZR 284/00 – aaO) und können deshalb einen Haftungsausschluß, der generell auch für den Unternehmer wirkt, nicht rechtfertigen.

b) Diese Auslegung wird auch von dem Wortlaut der Vorschrift getragen. Auch der Unternehmer kann ein „für sein Unternehmen Tätiger” sein, wenn er persönlich vorübergehend betriebliche Tätigkeiten auf einer gemeinsamen Betriebsstätte verrrichtet. Das Gesetz verwendet den Begriff des Unternehmers und den des Unternehmens nicht synonym. Dies ergibt sich beispielsweise aus § 136 III SGB VII, der den Unternehmer unter Verwendung des Begriffs des Unternehmens definiert.

c) Diese Auslegung steht auch im Einklang mit dem gesamten System des SGB VII. Über die frühere Regelung in der RVO hinaus ist der Unternehmer in vielen Fällen als Versicherter in die Unfallversicherung einbezogen (vgl. §§ 3, 6 SGB VII). Daraus ergeben sich für ihn mögliche Leistungsansprüche an den Unfallversicherungsträger; das hat aber gleichzeitig zur Folge, daß der Unternehmer als Geschädigter nach § 105 Abs. 1 SGB VII in der Regel keine zivilrechtlichen Ansprüche gegen den in seinem Betrieb tätigen Schädiger geltend machen kann. § 105 Abs. 2 SGB VII erweitert dies sogar noch auf nicht versicherte Unternehmer. Unter anderem aufgrund des schon erläuterten Gedankens der Gefahrengemeinschaft gilt die Regelung des § 105 Abs. 1 SGB VII für andere im Betrieb tätige Personen wechselseitig, d. h. es trifft sie nicht nur als Geschädigte, sondern privilegiert sie gleichzeitig als Schädiger. Für den Unternehmer selbst brauchte das an dieser Stelle nur deshalb nicht ebenfalls angeordnet zu werden, weil er in derartigen Fällen ohnehin immer schon nach § 104 Abs. 1 SGB VII (dort allerdings aus anderen Gründen) in seiner Haftung beschränkt ist. Wenn diese wechselseitige Haftungsbeschränkung der in einem Betrieb eng miteinander tätigen Versicherten (die sich auch auf den Unternehmer erstreckt) nun unter bestimmten Voraussetzungen nach § 106 Abs. 3, 3. Alt. SGB VII auch auf miteinander in Berührung kommende Tätige verschiedener Unternehmen ausgedehnt wird, entspricht es diesem System, hier ebenfalls den auf der gemeinsamen Betriebsstätte tätigen, versicherten Unternehmer einzubeziehen.

3. Schließlich haben mit der Klägerin und dem Beklagten auch „Versicherte mehrerer Unternehmen” vorübergehend betriebliche Tätigkeiten auf der gemeinsamen Betriebsstätte verrichtet. Die Klägerin war über das Unternehmen ihres Ehemannes bei der Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft versichert. Der Beklagte war – wie die Revision in der mündlichen Verhandlung nicht mehr in Zweifel gezogen hat – bei der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege für das Unternehmen der Tierarztpraxis (freiwillig) versichert.

III.

Nach allem hat das Berufungsgericht die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen, so daß die Revision der Klägerin kostenpflichtig zurückzuweisen ist.

 

Unterschriften

Dr. Müller, Dr. v. Gerlach, Dr. Dressler, Wellner, Diederichsen

 

Veröffentlichung

Veröffentlicht am 03.07.2001 durch Holmes, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

 

Fundstellen

Haufe-Index 625277

BGHZ

BGHZ, 209

BB 2001, 2011

DB 2001, 2093

NJW 2001, 3127

BGHR 2001, 680

NZA 2001, 1080

Nachschlagewerk BGH

ZAP 2001, 1453

AP, 0

DAR 2001, 455

JuS 2002, 409

MDR 2001, 1239

NVersZ 2001, 575

NZS 2001, 605

NZV 2001, 423

VersR 2001, 1156

ZfS 2001, 454

PVR 2001, 365

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Personal Office Platin. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge