Entscheidungsstichwort (Thema)

Beginn der Festsetzungsfrist bei Erfüllung der Anzeigepflicht des § 30 ErbStG 1974 nicht durch den Erwerber, sondern durch die Steuererklärung eines anderen Erben - Bekanntgabe eines Steuerbescheids vor Ablauf der Festsetzungsfrist an falsche Adresse und Zugang beim Steuerpflichtigen nach Ablauf der Festsetzungsfrist

 

Leitsatz (amtlich)

1. Wird ein der Erbschaftsteuer unterliegender Erwerb entgegen § 30 Abs.1 ErbStG 1974 bei dem für die Verwaltung der Erbschaftsteuer zuständigen FA nicht angezeigt, wird der Beginn der Festsetzungsfrist für die von dem anzeigepflichtigen Erwerber geschuldete Erbschaftsteuer gemäß § 170 Abs.2 Nr.1 AO 1977 dann nicht weiter hinausgeschoben, wenn dem FA aufgrund der Angaben in der vom Erben eingereichten Erbschaftsteuererklärung der Name des Erblassers und der des (anzeigepflichtigen) Erwerbers sowie der Rechtsgrund für den Erwerb bekannt werden.

2. Die Festsetzungsfrist ist nicht gemäß § 169 Abs.1 Satz 3 Nr.1 AO 1977 gewahrt, wenn der vom FA innerhalb der Festsetzungsfrist abgesandte Steuerbescheid dem Adressaten nach dem Ablauf der Festsetzungsfrist auf einem nach dem Inhalt der Steuerakten nicht vorgesehenen Weg bekannt wird.

 

Orientierungssatz

1. Im Streitfall: Bekanntgabe eines Steuerbescheids an falsche Adresse (Mutter des Steuerpflichtigen) und Weiterleitung an den Steuerpflichtigen nach Ablauf der Festsetzungsfrist.

2. Nach dem BFH-Urteil vom 31.10.1989 VIII R 60/88 ist die Festsetzungsfrist i.S. des § 169 Abs.1 Satz 3 Nr.1 AO 1977 gewahrt, wenn ein Steuerbescheid vor ihrem Ablauf den Bereich des zuständigen FA verlassen hat und das FA alle Voraussetzungen eingehalten hat, die für den Erlaß eines wirksamen Steuerbescheids vorgeschrieben sind, so daß der Bescheid nach dem Inhalt der Steuerakten hätte wirksam werden können. Es bleibt offen, ob sich der Senat dieser Rechtsprechung anschließen könnte.

 

Normenkette

AO 1977 § 169 Abs. 1 S. 3 Nr. 1, § 170 Abs. 2 Nr. 1; ErbStG 1974 § 30 Abs. 1

 

Verfahrensgang

Hessisches FG (Entscheidung vom 21.06.1994; Aktenzeichen 1 K 2856/93)

 

Tatbestand

I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist der Sohn des am 15. Februar 1985 verstorbenen A. Dieser hatte seine Ehefrau durch Verfügung von Todes wegen zur Alleinerbin eingesetzt. Der Kläger hatte den Pflichtteil geltend gemacht, den Erwerb jedoch nicht gemäß § 30 Abs.1 des Erbschaftsteuergesetzes (ErbStG) 1974 dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) angezeigt. In der von der Alleinerbin nach Aufforderung durch das FA abgegebenen Erbschaftsteuererklärung sind in Abschn.F (Angaben über die Erben, Vermächtnisnehmer, pflichtteilsberechtigten und sonstigen anspruchs- und abfindungsberechtigten Personen) u.a. der Kläger mit seinem Namen und seinem Verwandtschaftsverhältnis zum Erblasser, der Grund für den Erwerb, die Höhe des Pflichtteilsanspruchs sowie der Wert des Erwerbs angegeben.

Am 19. Dezember 1991 gab das FA einen Erbschaftsteuerbescheid als einfachen Brief zur Post, durch den es gegen den Kläger wegen seines Erwerbs als Pflichtteilsberechtigter Erbschaftsteuer festsetzte. Adressiert war der Bescheid an den Kläger; als Anschrift verwendete das FA die Adresse der Alleinerbin, bei der der Kläger jedoch nicht gewohnt hatte. Der Bescheid wurde an den Kläger weitergeleitet und ist diesem am 9. Januar 1992 unter seiner richtigen Adresse zugegangen.

Den Einspruch des Klägers, mit dem er Festsetzungsverjährung geltend gemacht hatte, wies das FA durch Entscheidung vom 12. Oktober 1993 als unbegründet zurück. Durch die Aufgabe des Bescheides zur Post am 19. Dezember 1991 sei die Festsetzungsfrist gemäß § 169 Abs.1 Satz 3 Nr.1 der Abgabenordnung (AO 1977) gewahrt worden, denn es komme nicht auf den Zeitpunkt des Zugangs des Steuerbescheides an, maßgebend sei vielmehr, ob und wann der Bescheid den Bereich der Finanzbehörde verlassen habe (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 31. Oktober 1989 VIII R 60/88, BFHE 160, 7, BStBl II 1990, 518). Diese Voraussetzung sei innerhalb der Festsetzungsfrist erfüllt gewesen.

Die Klage hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) bestätigte durch das in Entscheidungen der Finanzgerichte 1995, 56 veröffentlichte Urteil die Rechtsauffassung des FA.

Hiergegen wendet sich die Revision des Klägers, mit der er sinngemäß beantragt, die Vorentscheidung, die Einspruchsentscheidung sowie den Erbschaftsteuerbescheid aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist begründet; Vorentscheidung, Einspruchsentscheidung und Erbschaftsteuerbescheid werden aufgehoben.

1. Das Urteil des FG ist aufzuheben.

Entgegen der Vorentscheidung ist der Erbschaftsteuerbescheid vom 19. Dezember 1991 rechtswidrig, weil im Zeitpunkt seiner Bekanntgabe an den Kläger die Festsetzungsfrist abgelaufen war (§ 169 Abs.1 AO 1977).

a) Zutreffend ist das FG zu dem Ergebnis gelangt, daß die Festsetzungsfrist von 4 Jahren mit Ablauf des 31. Dezember 1987 begonnen und mit Ablauf des 31. Dezember 1991 geendet hat (§ 170 Abs.1 i.V.m. Abs.2 Nr.1, Abs.5 AO 1977). Insbesondere folgt der erkennende Senat der Auffassung des FG, daß die Angaben in der Steuererklärung der Alleinerbin über den Erwerb des Klägers genügen, um die Anlaufhemmung des § 170 Abs.2 Nr.1 AO 1977 zu beenden.

Nach der genannten Vorschrift beginnt in den Fällen, in denen eine Steuererklärung oder eine Steueranmeldung einzureichen oder eine Anzeige zu erstatten ist, die Festsetzungsfrist --abweichend von § 170 Abs.1 AO 1977-- mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuererklärung, die Steueranmeldung oder die Anzeige eingereicht wird. Da der Kläger der aus § 30 Abs.1 ErbStG 1974 sich ergebenden Verpflichtung, seinen Erwerb als Pflichtteilsberechtigter dem zuständigen FA anzuzeigen, nicht nachgekommen ist, ist der Beginn der Festsetzungsfrist nach § 170 Abs.2 Nr.1 AO 1977 über den in § 170 Abs.1 AO 1977 genannten Zeitpunkt, das ist im Streitfall der 31. Dezember 1985, hinausgeschoben worden. Die Festsetzungsfrist hätte spätestens mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist, also mit Ablauf des 31. Dezember 1988, zu laufen begonnen. Der Erbschaftsteuerbescheid vom 19. Dezember 1991 wäre mithin nicht nur innerhalb der am 31. Dezember 1992 endenden Festsetzungsfrist von 4 Jahren vom FA abgesandt worden, sondern auch dem Kläger zugegangen. Die Festsetzungsfrist hat jedoch bereits mit Ablauf des 31. Dezember 1991 geendet, so daß zwar der Zeitpunkt der Absendung nicht aber der Zugang des Erbschaftsteuerbescheides innerhalb der Festsetzungsfrist gelegen hat.

Zwar hat der Kläger seinen Erwerb nicht gemäß § 30 Abs.1 ErbStG 1974, § 170 Abs.2 Nr.1 AO 1977 angezeigt, er kann sich auch nicht darauf berufen, daß es einer Anzeige nicht bedurft hätte, denn die Voraussetzungen des § 30 Abs.3 ErbStG 1974 haben nicht vorgelegen. Dem Kläger kommen jedoch die Angaben über seinen Erwerb zugute, die in der dem FA von der Alleinerbin eingereichten Erbschaftsteuererklärung aufgeführt waren. Denn damit sind dem auch für die Besteuerung des Klägers zuständigen FA (§ 35 Abs.1 Satz 1 ErbStG 1974 i.V.m. § 19 AO 1977) alle Umstände bekanntgeworden, die es für die Prüfung benötigte, ob ein steuerbarer Vorgang vorliegt und ein Besteuerungsverfahren einzuleiten (§ 86 AO 1977), insbesondere vom Kläger eine Steuererklärung anzufordern ist (§ 31 Abs.1 ErbStG 1974, § 149 AO 1977), wie dies bei der Abgabe einer Anzeige durch den Kläger selbst der Fall gewesen wäre. Der Sicherungszweck des § 170 Abs.2 Nr.1 AO 1977 erfordert in diesem Fall kein weiteres Hinausschieben des Beginns der Festsetzungsfrist, denn für die vom FA anzustellende Prüfung reicht regelmäßig die namentliche Bezeichnung des Erblassers bzw. Schenkers und Erwerbers sowie die Mitteilung des Rechtsgrundes für den Erwerb aus. Bereits im Urteil vom 4. August 1976 II R 20/71 (BFHE 119, 387, BStBl II 1977, 123) hat der Senat für einen die Verjährung von Grunderwerbsteuer betreffenden Fall zu § 145 Abs.3 Nr.3 der Reichsabgabenordnung ausgeführt, daß ein Hinausschieben des Verjährungsbeginns, auch wenn es vom Gesetzeswortlaut noch gedeckt wäre, in einem solchen Fall außerhalb des Normzwecks läge. Auf der Überlegung, daß der Beginn der Festsetzungsfrist nicht weiter hinausgeschoben werden muß, wenn das FA von allen für die Entstehung der Steuerschuld wesentlichen Umständen positiv Kenntnis erlangt hat, beruht auch das Urteil des erkennenden Senats vom 21. Juni 1995 II R 11/92 (BFHE 178, 228, BStBl II 1995, 802).

b) Der Senat teilt jedoch nicht die Auffassung des FG, daß die Festsetzungsfrist durch die Absendung des Steuerbescheids am 19. Dezember 1991, also vor ihrem Ablauf am 31. Dezember 1991, gewahrt worden ist; § 169 Abs.1 Satz 3 Nr.1 AO 1977 ist auf die Gestaltung im Streitfall nicht anwendbar. Nach der Auslegung dieser Vorschrift im BFH-Urteil in BFHE 160, 7, BStBl II 1990, 518 ist die Festsetzungsfrist gewahrt, wenn der Steuerbescheid vor ihrem Ablauf den Bereich der für die Steuerfestsetzung zuständigen Finanzbehörde verlassen hat und die Finanzbehörde alle Voraussetzungen eingehalten hat, die für den Erlaß eines wirksamen Steuerbescheides vorgeschrieben sind, so daß der Bescheid nach dem Inhalt der Steuerakten hätte wirksam werden können. Der erkennende Senat kann offenlassen, ob er sich dieser Auslegung der Vorschrift anschließen könnte, denn auch auf der Grundlage dieser Auffassung trifft § 169 Abs.1 Satz 3 Nr.1 AO 1977 im Streitfall nicht zu. Die im Urteil in BFHE 160, 7, BStBl II 1990, 518 an die Anwendung der Vorschrift gestellten Voraussetzungen sind nicht erfüllt, weil der vom FA am 19. Dezember 1991 zur Post gegebene Steuerbescheid nach dem Inhalt der Steuerakten nicht hätte wirksam werden können. Da der Steuerbescheid mit einer falschen Adresse versehen war, hätte er in dieser Form dem Adressaten des Steuerbescheides nicht zugehen und deshalb mangels Bekanntgabe nicht wirksam werden können (§ 122 Abs.2, § 124 Abs.1 AO 1977). Zwar ist nach dem Urteil in BFHE 160, 7, BStBl II 1990, 518 der Nachweis der Bekanntgabe des rechtzeitig abgesandten Bescheides für die Fristwahrung nicht erforderlich. Der Bescheid muß aber alle Voraussetzungen erfüllen, daß davon auszugehen ist, daß er so, wie er nach dem Inhalt der Akten das FA verlassen hat, bei einem diesem Inhalt entsprechenden Ablauf dem Adressaten bekannt wird. Für die Fristwahrung nach § 169 Abs.1 Satz 3 Nr.1 AO 1977 genügt die Möglichkeit, daß der Steuerbescheid dem Adressaten auf eine andere Weise als vom FA vorgesehen bekannt wird, nicht. Deshalb ist es entgegen den Ausführungen des FG auch ohne Bedeutung, daß der Erbschaftsteuerbescheid im Streitfall dem Kläger dadurch bekannt wurde, daß er an ihn durch den unter der angegebenen Adresse Wohnenden weitergeleitet worden ist. Denn dieser Bekanntgabeweg (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 1. Februar 1990 V R 74/85, BFH/NV 1991, 2) entsprach nicht dem Inhalt der Steuerakten.

2. Die Sache ist spruchreif. Die Einspruchsentscheidung vom 12. Oktober 1993 und der Erbschaftsteuerbescheid vom 19. Dezember 1991 werden aufgehoben. Sie sind rechtswidrig, weil die Steuerfestsetzung erst nach Ablauf der Festsetzungsfrist erfolgt ist (§ 155 Abs.1 Sätze 1 und 2, § 169 Abs.1 Satz 1 AO 1977) und die Voraussetzungen des § 169 Abs.1 Satz 3 Nr.1 AO 1977 nicht vorliegen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 66015

BFH/NV 1997, 77

BStBl II 1997, 11

BFHE 181, 274

BFHE 1997, 274

BB 1997, 86 (Leitsatz)

DB 1997, 141-142 (Leitsatz und Gründe)

DStRE 1997, 78-80 (Leitsatz und Gründe)

DStZ 1997, 340-342 (Leitsatz und Gründe)

HFR 1997, 137-138 (Leitsatz)

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