Leitsatz (amtlich)

Zur Begründung der Ermessensentscheidung der Verwaltung bei der Inanspruchnahme eines Geschäftsführers als Haftungsschuldner.

 

Orientierungssatz

Nimmt das FA den Geschäftsführer der Komplementär-GmbH wegen Nichtabführung einbehaltener und angemeldeter Lohnsteuern der KG in Haftung, so reicht es zur Begründung der Ermessensentscheidung aus, wenn das FA in der Einspruchsentscheidung über den Haftungsbescheid ausführt, Vollstreckungsmaßnahmen gegen die KG, über deren Vermögen die Eröffnung des Konkursverfahrens mangels Masse abgelehnt worden ist, seien erfolglos geblieben und könnten nicht mehr durchgeführt werden. Ausführungen und BFH-Rechtsprechung zu: Darlegung von Auswahlermessen und Entschließungsermessen, Vorprägung der Ermessensentscheidung bei erschwerter Verschuldensform, gerichtliche Nachprüfung der Ermessensentscheidung.

 

Normenkette

AO § 103; AO 1977 § 44 Abs. 1; AO § 105; AO 1977 § 5; AO § 109 Abs. 1; AO 1977 § 121 Abs. 1; AO § 118 S. 1; AO 1977 §§ 126, 34; StAnpG § 2; AO 1977 § 69; StAnpG § 7; AO 1977 § 191 Abs. 1; FGO § 102

 

Tatbestand

I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war seit November 1974 alleiniger Geschäftsführer einer GmbH, die ihrerseits geschäftsführende Komplementärin einer GmbH & Co. KG (KG) war. Die KG, die seit spätestens September 1975 zahlungsunfähig war, stellte am 14.November 1975 ihren Geschäftsbetrieb ein. Spätere Anträge des Klägers und eines Gläubigers auf Eröffnung des Konkursverfahrens wurden mangels Masse abgelehnt.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) nahm den Kläger durch Haftungsbescheid in der Fassung der Einspruchsentscheidung wegen angemeldeter, aber nicht an das FA abgeführter Lohnsteuer für die Monate Februar bis November 1975 gemäß §§ 103, 105, 109 der Reichsabgabenordnung (AO) in Anspruch. Die Klage des Klägers ... blieb ohne Erfolg.

Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung der §§ 105, 109, 118 AO und des § 2 des Steueranpassungsgesetzes (StAnpG). Er macht geltend, nach diesen Vorschriften setze die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners die Ausübung eines Entschließungsermessens und die eines Auswahlermessens durch das FA voraus. Die Verwaltungsentscheidung müsse erkennen lassen, daß bei der Geltendmachung der Haftung durch die Finanzbehörde Ermessen überhaupt ausgeübt worden sei und welche Ermessenserwägungen die getroffene Entscheidung trügen. Floskelhafte Feststellungen über Billigkeit und Zweckmäßigkeit der Inanspruchnahme reichten für die Abwägung nicht aus. Aus dem Haftungsbescheid und aus der Einspruchsentscheidung des FA sei dagegen nicht zu entnehmen, daß es sich des Umstandes bewußt gewesen sei, eine Ermessensentscheidung zu treffen. Das FA hätte bei ordnungsgemäßer Ermessensausübung darlegen müssen, warum es anstelle der Steuerschuldner --der Arbeitnehmer-- den Kläger als Haftungsschuldner in Anspruch nehme. Denn entgegen der Auffassung des FG hätten im Streitfall auch die Arbeitnehmer als Gesamtschuldner zur Zahlung der Lohnsteuer herangezogen werden können.

Der Kläger beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung den Haftungsbescheid und die Einspruchsentscheidung in vollem Umfang aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist unbegründet.

1. Der Kläger hat den Haftungstatbestand der §§ 103, 105 Abs.1, 109 Abs.1 AO, der auf den vorliegenden Haftungszeitraum --1975-- noch Anwendung findet (Art.97 § 11 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung --EGAO 1977--), erfüllt, weil er als (mittelbarer) Geschäftsführer der KG die ihm obliegende Pflicht zur Abführung der einbehaltenen und dem FA angemeldeten Lohnsteuern schuldhaft verletzt hat und dadurch Steueransprüche verkürzt worden sind. Die Ausführungen des FG zu den lohnsteuerlichen Pflichten des Arbeitgebers und seiner gesetzlichen Vertreter, zur anteiligen Befriedigung der Arbeitnehmer und des FA im Wege der Kürzung der Löhne bei nicht ausreichenden Geldmitteln, zum Zeitpunkt des Eintritts der Steuerverkürzung und zum Verschulden des Klägers sind zutreffend und entsprechen der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. Urteil vom 20.April 1982 VII R 96/79, BFHE 135, 416, BStBl II 1982, 521, m.w.N., und Beschluß vom 19.November 1985 VII S 13/85, BFH/NV 1986, 266). Dasselbe gilt hinsichtlich der mangelnden Entschuldbarkeit der Nichtzahlung zum Zeitpunkt der Fälligkeit im Vertrauen auf eine Tilgung der Rückstände aus später zufließenden Mitteln und der Unerheblichkeit von Stundungsanträgen, soweit diese nicht bereits vor dem Zahlungstermin positiv beschieden worden sind. Der Senat nimmt deshalb, um Wiederholungen zu vermeiden, wegen der Haftung des Klägers dem Grunde nach, die von der Revision auch nicht mehr ernsthaft bestritten wird, auf die Urteilsbegründung des FG Bezug.

2. Das FG hat im Ergebnis auch zutreffend entschieden, daß die Ermessensentscheidung des FA, den Kläger als Haftungsschuldner in Anspruch zu nehmen, nicht zu beanstanden ist und daß die Ermessensentscheidung der Verwaltung nicht an einem Begründungsmangel leidet.

a) Zu Recht ist das FG davon ausgegangen, daß es sich bei der Inanspruchnahme eines nach den §§ 103, 109 AO Haftenden um eine nach § 118 AO zu treffende Ermessensentscheidung handelt, die nach § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) darauf zu überprüfen ist, ob der Haftungsbescheid deshalb rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 13.April 1978 V R 109/75, BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508, und Urteil des erkennenden Senats vom 3.Februar 1981 VII R 86/78, BFHE 133, 1, BStBl II 1981, 493). Wegen der Befugnis und Verpflichtung des Gerichts zur Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen, die dem Gericht keinen Raum für eigene Ermessenserwägungen läßt, trifft die Auffassung der Revision zu, daß die Ermessensentscheidung der Verwaltung im Haftungsbescheid, spätestens aber in der Einspruchsentscheidung begründet werden muß (vgl. § 121 Abs.1, § 126 Abs.1 Nr.2 und Abs.2 der Abgabenordnung --AO 1977--), anderenfalls sie im Regelfall fehlerhaft ist. Dabei müssen die bei der Ausübung des Verwaltungsermessens angestellten Erwägungen --hier die Abwägung des Für und Wider der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners-- aus der Entscheidung erkennbar sein (BFHE 133, 1, BStBl II 1981, 493). Insbesondere muß die Behörde zum Ausdruck bringen, warum sie den Haftungsschuldner anstatt des Steuerschuldners oder anstelle anderer ebenfalls für die Haftung in Betracht kommender Personen in Anspruch nimmt. Entgegen der Auffassung der Revision reicht im Streitfall indes die in der Einspruchsentscheidung enthaltene Begründung für die Inanspruchnahme des Klägers als Haftungsschuldner aus. Die Ermessensausübung des FA läßt auf ihrer Grundlage weder eine Ermessensüberschreitung noch einen Ermessensfehlgebrauch erkennen.

b) Auf die Darlegung der die Ermessensausübung bestimmenden Erwägungen in den angefochtenen Verwaltungsentscheidungen konnte allerdings nicht --wie das FG meint-- bereits deshalb verzichtet werden, weil der Kläger, wie in der Vorentscheidung ausgeführt wird, seine Verpflichtung zur rechtzeitigen Abführung der Lohnsteuer vorsätzlich verletzt hat. Von einer Vorprägung der Ermessensentscheidung durch die Tatbestandsverwirklichung in erschwerter Verschuldensform und einer daran anknüpfenden stillschweigend sachgerechten Ermessensausübung durch das FA kann in Anwendung des Urteils in BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508 nur dann ausgegangen werden, wenn das FA selbst bei seiner Entscheidung über den Haftungstatbestand von einem schweren Verschulden (Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit) des Haftungsschuldners ausgegangen ist. Im Streitfall hat aber das FA sowohl im Haftungsbescheid als auch in der Einspruchsentscheidung gegen den Kläger lediglich den Vorwurf "schuldhafter" Pflichtverletzung erhoben, ohne den Verschuldensvorwurf näher zu qualifizieren. In diesem Falle bedurfte es, wie der erkennende Senat wiederholt entschieden hat (Urteile vom 2.Oktober 1986 VII R 28/83, BFH/NV 1987, 349; vom 11.November 1986 VII R 3/82, BFH/NV 1987, 361, und vom 30.April 1987 VII R 48/84, BFHE 149, 511), einer Darlegung der Ermessenserwägungen, um die Ermessensbetätigung der Verwaltung gemäß § 102 FGO richterlich überprüfen zu können.

c) Die Einspruchsentscheidung des FA enthält entgegen dem Vorbringen der Revision auch eine Begründung zur Ermessensausübung. Das FA führt am Ende dieser Entscheidung aus, die Heranziehung des Klägers sei nicht ermessensfehlerhaft, weil ein Vorgehen gegen die KG ohne Erfolg bleiben müsse. Zuvor hatte es bereits ausgeführt, daß Vollstreckungsmaßnahmen gegen die KG erfolglos geblieben seien und nicht mehr durchgeführt werden könnten. Diese Begründung enthält eine ausreichende und nicht zu beanstandende Darlegung des Auswahlermessens (vgl. §§ 2, 7 Abs.1 und 3 StAnpG, §§ 5, 44 Abs.1 AO 1977). Denn es ist offensichtlich, daß gegen eine Gesellschaft, über deren Vermögen die Eröffnung des Konkursverfahrens mangels Masse abgelehnt worden ist, nicht mit Aussicht auf Erfolg vollstreckt werden kann.

Entgegen der Auffassung der Revision bedurfte es keiner Begründung dafür, warum das FA nicht die Arbeitnehmer als Steuerschuldner anstelle des Klägers als Haftungsschuldner in Anspruch genommen hat. Denn eine Heranziehung der Arbeitnehmer war, wie das FG zutreffend ausgeführt hat, rechtlich nicht möglich. Nach § 42d Abs.3 Satz 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) kann der Arbeitnehmer im Rahmen der Gesamtschuldnerschaft (mit dem Arbeitgeber) nur in Anspruch genommen werden, (1.) wenn der Arbeitgeber die Lohnsteuer nicht vorschriftsmäßig vom Arbeitslohn einbehalten hat, (2.) wenn der Arbeitnehmer weiß, daß der Arbeitgeber die einbehaltene Lohnsteuer nicht vorschriftsmäßig angemeldet hat, soweit er dies nicht unverzüglich dem FA mitgeteilt hat. Diese Voraussetzungen lagen im Streitfall nicht vor, da nach den Feststellungen des FG die nichtabgeführte Lohnsteuer vom Arbeitslohn der Arbeitnehmer sowohl vorschriftsmäßig einbehalten als auch vorschriftsmäßig an das FA angemeldet worden war. Aus der Sicht der Arbeitnehmer, denen nur die Nettolöhne ausbezahlt worden sind, war damit die Lohnsteuer entrichtet.

d) Aus den vorgenannten Ausführungen zur Ermessensbetätigung in der Einspruchsentscheidung ergibt sich zugleich, daß sich das FA des Umstandes bewußt war, daß es mit der Heranziehung des Klägers als Haftungsschuldner eine Ermessensentscheidung gemäß § 118 AO (§ 191 Abs.1 AO 1977) zu treffen hatte. Die angeführte Begründung ist nach den Umständen des Streitfalles auch als ausreichende Darlegung des Entschließungsermessens, nämlich der Entscheidung des FA, seinen Haftungsanspruch aus § 109 AO gegen den Kläger geltend zu machen, anzusehen.

Die Finanzbehörden haben die Steuern nach Maßgabe der Gesetze gleichmäßig festzusetzen und zu erheben. Insbesondere haben sie sicherzustellen, daß die Steuern nicht verkürzt werden (§ 201 AO, § 85 AO 1977). Dabei dient das Rechtsinstitut der Steuerhaftung der Verstärkung und Sicherung des Steueranspruchs (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12.Aufl., Tz.2 vor § 69 AO 1977). Es kann dahinstehen, ob es angesichts dieser Besteuerungsgrundsätze überhaupt ein Entschließungsermessen des FA gibt, das diesem die Befugnis einräumt, auf die Inanspruchnahme eines Haftungsschuldners zu verzichten, obwohl der Steueranspruch beim Steuerschuldner oder Primärhaftenden nicht zu realisieren ist (vgl. hierzu bejahend: Tipke/Kruse, a.a.O., § 191 AO 1977 Tz.6; Offerhaus in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8.Aufl., § 191 AO 1977 Anm.55; Mösbauer, Inanspruchnahme durch Steuerhaftungsbescheid, Deutsches Steuerrecht 1984, 94, 96; ablehnend: Tipke, Steuerrecht, 11.Aufl., 1987, 156). Im Hinblick auf die dem Steuergläubiger im öffentlichen Interesse obliegende Aufgabe, die geschuldeten Abgaben nach Möglichkeit zu erheben, könnte jedenfalls der Erlaß eines Haftungsbescheids bei Uneinbringlichkeit der Erstschuld nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen ermessensfehlerhaft sein (vgl. Urteil des Senats in BFH/NV 1987, 349; Offerhaus in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 191 AO 1977 Anm.58).

Das FA braucht deshalb im Regelfall, wenn solche außergewöhnlichen Umstände nicht vorgetragen und nicht ersichtlich sind, seine Entschließung, den Haftenden in Anspruch zu nehmen, jedenfalls dann nicht besonders zu begründen, wenn eine anderweitige Realisierung des Steueranspruchs --beim Steuerschuldner oder bei einem anderen Haftungsschuldner-- nicht möglich ist. Im Streitfall kam für das FA allein die Inanspruchnahme des Klägers in Betracht. Besondere Umstände, die es hätten veranlassen können, von der Geltendmachung des Haftungsanspruchs abzusehen, lagen nicht vor und sind auch von der Revision nicht vorgetragen worden. Unter diesen Voraussetzungen konnte auf eine nähere Darlegung des Entschließungsermessens verzichtet werden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 61610

BStBl II 1988, 176

BFHE 151, 111

BFHE 1988, 111

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