Leitsatz (amtlich)

1. Die Einschränkung der Änderungsbefugnis gemäß § 176 Abs.2 AO 1977 ist auch bei der Aufhebung oder Änderung von Bescheiden zu beachten, die unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO 1977) stehen.

2. § 176 Abs.2 AO 1977 bezieht sich nicht nur auf Fälle, in denen ein oberster Gerichtshof des Bundes eine allgemeine Verwaltungsvorschrift ausdrücklich als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend bezeichnet, sondern auch auf solche Entscheidungen, in denen dies sinngemäß zum Ausdruck kommt.

 

Orientierungssatz

Der Erlaß der obersten Finanzbehörden der Länder betreffend die gewerbesteuerliche Behandlung der Seeschiffahrtsunternehmen ab 1974 vom 1.4.1977 (BStBl I 1977, 194) ist eine allgemeine Verwaltungsvorschrift i.S. des § 176 Abs. 2 AO 1977.

 

Normenkette

AO 1977 §§ 164, 176 Abs. 2

 

Verfahrensgang

FG Hamburg (Entscheidung vom 08.10.1986; Aktenzeichen I 5/83)

 

Tatbestand

Das seinerzeit der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) gehörige, in einem inländischen Seeschiffsregister eingetragene Motorschiff "MS", wurde im Streitjahr zur Beförderung von Gütern im Verkehr zwischen ausländischen Häfen eingesetzt. Bis zum 15.Juli 1979 fuhr das Schiff unter deutscher, ab 16.Juli 1979 unter panamaischer Flagge. Dieses Schiff ist im Einheitswert des gewerblichen Betriebs der Klägerin auf den 1.Januar 1979 enthalten.

Bei der ursprünglichen, nach § 164 Abs.1 der Abgabenordnung (AO 1977) ergangenen Festsetzung des Gewerbesteuermeßbetrags und der Gewerbesteuer für den streitigen Erhebungszeitraum berücksichtigte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) trotz Kenntnis vom Flaggenwechsel im Erhebungszeitraum die ermäßigte Steuermeßzahl auf das Gewerbekapital ungekürzt. Nach Bekanntwerden der Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 22.April 1982 IV R 216/79 (BFHE 136, 123, BStBl II 1982, 609) änderte das FA die Festsetzungen des Gewerbesteuermeßbetrags und der Gewerbesteuer für den streitigen Erhebungszeitraum nach § 164 Abs.2 AO 1977 und berücksichtigte hierbei die ermäßigte Steuermeßzahl auf das Gewerbekapital nur noch zeitanteilig mit 196/365. Gegen die geänderten Festsetzungen des Gewerbesteuermeßbetrags und der Gewerbesteuer für den Erhebungszeitraum 1979 legte die Klägerin rechtzeitig Einspruch ein, den das FA zurückwies.

Auch die Klage hatte keinen Erfolg. Das Urteil des Finanzgerichts (FG) ist in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1987, 413 veröffentlicht.

Mit der Revision rügt die Klägerin die unzutreffende Anwendung des § 13 Abs.3 des Gewerbesteuergesetzes (GewStG). Sie macht ferner geltend, daß der Änderung des ursprünglichen Bescheids § 176 Abs.2 AO 1977 entgegenstehe. Sie beantragt, das Urteil des FG sowie die Änderungsbescheide über Gewerbesteuermeßbetrag und Gewerbesteuer 1979 vom 11.November 1982 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 14.Dezember 1982 aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Es vertritt die Auffassung, daß nach der für das Streitjahr maßgeblichen Fassung des § 34c Abs.4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) es für die Anwendung dieser Vorschrift nicht erforderlich gewesen sei, daß ein Schiff im Wirtschaftsjahr überwiegend in einem inländischen Seeschiffsregister eingetragen war und die Flagge der Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) geführt hat. Dies schlage auch auf § 13 Abs.3 GewStG durch. Es müsse deshalb eine zeitraumbezogene Aufteilung der ermäßigten Steuermeßzahl vorgenommen werden. Die Grundsätze, die der BFH im Urteil in BFHE 136, 123, BStBl II 1982, 609 für die Einflaggung eines Schiffes ausgesprochen habe, seien in gleicher Weise bei der Ausflaggung eines Schiffes während des Erhebungszeitraums anzuwenden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils sowie des angefochtenen Verwaltungsakts in Gestalt der Einspruchsentscheidung (§ 126 Abs.3 Nr.1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Denn unabhängig von der materiellen Rechtslage war das FA gemäß § 176 Abs.2 AO 1977 an dem Erlaß eines Änderungsbescheids gehindert.

1. § 176 Abs.2 AO 1977 gilt auch im Verhältnis zu § 164 Abs.2 Satz 1 AO 1977 (im Schrifttum weit überwiegend vertretene Meinung, siehe u.a. Förster in Koch, Abgabenordnung, 3.Aufl., § 176 Anm.2; Klein/Orlopp, Abgabenordnung, 3.Aufl., § 176 Tz.2; Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15.Aufl., § 176 AO Anm.1; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12.Aufl., § 176 Anm.I, 1; v. Wallis in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8.Aufl., § 176 AO Tz.3; a.A. Rössler, Betriebs-Berater --BB-- 1981, 842; FG Rheinland-Pfalz, EFG 1981, 511; offenlassend BFH-Urteil vom 31.März 1987 IX R 111/86, BFHE 150, 7, BStBl II 1987, 668).

Zwar könnte die systematische Stellung der Vorschrift im Abschnitt "III. Bestandskraft" des Gesetzes dafür sprechen, daß nur die in diesem Abschnitt geregelten Aufhebungs- und Änderungsbescheide erfaßt werden sollen. Zu diesen gehört der Änderungsbescheid nach § 164 Abs.2 Satz 1 AO 1977 nicht. Auch spricht das Wesen des vorläufigen Bescheids, der häufig ohne gründliche Rechtsprüfung lediglich nach Maßgabe der Steuererklärungen erlassen wird, dafür, die spätere endgültige Veranlagung als nicht durch den vorläufigen Bescheid präjudiziert erscheinen zu lassen.

Beide Überlegungen sind indes nicht gewichtig genug, um eine Auslegung der Vorschrift gegen ihren eindeutigen Wortlaut zu rechtfertigen. In § 164 Abs.2 Satz 1 AO 1977 wird die Formulierung "... kann die Steuerfestsetzung aufgehoben oder geändert ... werden" verwendet. § 176 AO 1977 enthält die Wortfassung "bei der Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids". Angesichts dieser Gleichheit der verwendeten Ausdrücke "aufheben" und "ändern" könnte eine restriktive Gesetzesauslegung des § 176 AO 1977 zuungunsten der Steuerpflichtigen allenfalls dann in Betracht gezogen werden, wenn sich die Sinnwidrigkeit der Anwendung dieser Vorschrift auf vorläufige Steuerbescheide geradezu aufdrängen würde. Dies ist nicht der Fall.

Hinzu kommt, daß auch in der Gesetzesbegründung davon ausgegangen wird, daß die Vorschrift auch für unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehende Bescheide gilt (vgl. BTDrucks VI/1982, S.155 zu § 157 des Entwurfs der AO 1977, Abs.1 Satz 2 sowie Abs.1 letzter Satz der Begründung).

2. § 176 Abs.2 Satz 1 AO 1977 ist einschlägig. Denn der den ursprünglichen Bescheid ändernde Verwaltungsakt beruht, wie sich aus seinem Inhalt ergibt, auf dem Urteil in BFHE 136, 123, BStBl II 1982, 609. In diesem Urteil wurde sinngemäß der gleichlautende Erlaß der obersten Finanzbehörden der Länder vom 1.April 1977 (BStBl I 1977, 194), soweit er § 13 Abs.3 GewStG betrifft, als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend bezeichnet.

Ohne Rechtsverstoß hat das FG dargelegt, daß der Ländererlaß vom 1.April 1977 eine allgemeine Verwaltungsvorschrift i.S. von § 176 Abs.2 AO 1977 ist und daß in diesem Erlaß die streitige Rechtsfrage in einer für die Klägerin günstigeren Weise als im Urteil in BFHE 136, 123, BStBl II 1982, 609 geregelt ist.

Der Anwendung des § 176 Abs.2 AO 1977 steht nicht entgegen, daß das Urteil in BFHE 136, 123, BStBl II 1982, 609 keine ausdrückliche Auseinandersetzung mit dem allgemeinen Ländererlaß vom 1.April 1977 enthält, insbesondere, daß in dieser Entscheidung die im Erlaß enthaltenen Regelungen nicht ausdrücklich für gesetzwidrig erklärt wurden. Denn ausreichend für das Eingreifen des § 176 Abs.2 AO 1977 ist, daß sich die sachlich rechtlichen Aussagen der allgemeinen Verwaltungsanweisung einerseits und des Urteils des obersten Gerichtshofs des Bundes andererseits widersprechen.

Dies ergibt sich daraus, daß Grundgedanke der Vorschrift der Vertrauensschutz ist (vgl. BTDrucks VI/1982, a.a.O., Abs.1 Satz 1 der Begründung; Tipke/Kruse, a.a.O., § 176 AO 1977 Tz.7; Urteil des BFH vom 7.Juni 1984 IV R 180/81, BFHE 141, 451, BStBl II 1984, 780). Der Adressat eines Steuerbescheides, der auf einer dem Steuerpflichtigen günstigen allgemeinen Verwaltungsanweisung beruht, soll darauf vertrauen können, daß es im Falle einer späteren Änderung dieses Bescheids ohne jede Ausnahme bei der Rechtsauslegung im Sinne der allgemeinen Verwaltungsanweisung verbleibt und daß dies selbst dann gelten soll, wenn in der Zwischenzeit ein oberstgerichtliches Urteil ergangen ist, dem eine dem Steuerpflichtigen ungünstigere Rechtsauslegung zugrunde liegt. Ausweislich der Gesetzesbegründung (a.a.O.) sollen die Steuerpflichtigen "praktisch so gestellt" werden, "als sei die frühere Steuerfestsetzung unabänderlich, soweit sie auf der früheren Rechtsauffassung beruht". Aus dem Sinn dieser Regelung ist zu schließen, daß, wenn schon der ausdrückliche Richterspruch, die allgemeine Verwaltungsanweisung stehe nicht im Einklang mit dem Gesetz, keine Änderung des Bescheids zuungunsten des Steuerpflichtigen rechtfertigen kann, dies erst recht nicht in Betracht kommt, wenn das Urteil diese Aussage nur sinngemäß enthält.

Dies gilt auch dann, wenn der dem höchstrichterlichen Urteil zugrunde liegende Sachverhalt von dem "Änderungsfall" abweicht (hier: Einflaggung/Ausflaggung), die Rechtsgedanken des höchstrichterlichen Urteils (hier: die zeitanteilige Gewährung der Steuervergünstigung) aber in beiden Fällen eingreifen.

Auf Grund der hier gebotenen Folgerung kann es --entgegen der Auffassung des FG-- auch nicht darauf ankommen, ob die im oberstgerichtlichen Urteil dargelegte Rechtsauffassung für jenen Streitfall entscheidungserheblich war. Denn wenn schon eine entscheidungserhebliche Rechtsauffassung eines obersten Gerichtshofs des Bundes nicht bei der Änderung von Verwaltungsakten zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden darf, so dürfen noch viel weniger sog. obiter dicta in derartigen Fällen zu Lasten der Steuerpflichtigen herangezogen werden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 61732

BStBl II 1988, 40

BFHE 151, 107

BFHE 1988, 107

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