Leitsatz (amtlich)

Zur Frage des Ermessensmißbrauchs beim Verlangen des FA, die Protokolle über die Sitzungen des Vorstands und des Aufsichtsrats einer AG in ihrer Gesamtheit (en bloc) für eine bestimmte Zeit dem leitenden Betriebsprüfer vorzulegen.

 

Normenkette

GG Art. 20; AO § 162 Abs. 9, 10 S. 2, § 171 Abs. 2, §§ 175, 194, 195 S. 2, §§ 201-202; AktG § 92 Abs. 2, § 93 Abs. 1, § 95

 

Tatbestand

Bei der Klägerin wurde im Mai 1962 mit einer Betriebsprüfung begonnen. Als "erste Maßnahme" richtete der Betriebsprüfer an die Klägerin die Aufforderung, die gesamten und ungekürzten Vorstands- und Aufsichtsratsprotokolle mit den dazugehörenden Unterlagen für vier Jahre vorzulegen. Da die Klägerin dieser Aufforderung nicht nachkam, verlangte das FA durch Verfügung vom 19. Juli 1962 schriftlich die Vorlegung dieser Protokolle an den leitenden Betriebsprüfer. Es begründete die Aufforderung durch den Hinweis auf die Vorschriften der AO, insbesondere auf §§ 162, 194, 195, 175 und 201 AO, und drohte für den Fall der Nichtbefolgung ein Erzwingungsgeld von 50 DM an. Die Beschwerde der Klägerin blieb erfolglos. Die OFD stützte sich unter anderem auch auf § 171 Abs. 2 AO. Das FG hob unter Änderung der Beschwerdeentscheidung die Verfügung des FA mit der Begründung auf, die Vorlegung könne höchstens von dem Vorsteher des FA, nicht von dem leitenden Betriebsprüfer verlangt werden. Die OFD hat Rb. - Revision - eingelegt. Sie beanstandet, daß das FG die eigentliche Rechtsfrage nicht entschieden habe. Sie hält das Verlangen des FA aus §§ 162, 195, 171 AO wie auch aus § 201 AO für berechtigt. Wesen und Durchführbarkeit der Betriebsprüfung, insbesondere bei datenverarbeitenden Betrieben, erforderten eine derartige Mitwirkung der Steuerpflichtigen im Interesse einer richtigen Steuerfestsetzung. Die Vorlegung sei auch zumutbar. Ein begründeter Anlaß sei nach der Rechtsprechung des BFH nicht Zulässigkeitsvoraussetzung für die Maßnahme des FA. Die Entscheidung darüber, was steuerpflichtig und was steuerrechtlich von Bedeutung sei, habe die Verwaltung zu treffen. Das Interesse des Steuerpflichtigen an der Geheimhaltung sei durch § 22 und § 412 AO sowie durch Art. 34 GG in Verbindung mit § 839 BGB ausreichend gewährleistet. Betriebsprüfungen könnten Maßnahmen der allgemeinen Steueraufsicht (§ 201 AO) wie der besonderen Steueraufsicht (§ 162 AO) sein; sie könnten aber auch im Steuerermittlungsverfahren vorgenommen werden.

Die Verwaltung hat beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Berufung (Klage) gegen die Beschwerdeentscheidung der OFD zurückzuweisen.

Der dem Verfahren gemäß § 122 Abs. 2 FGO beigetretene BdF ist der Meinung, daß die En-bloc-Vorlegung der Vorstands- und der Aufsichtsratsprotokolle selbst dann von der Finanzverwaltung gefordert werden könne, wenn eine solche Vorlegung nur der Erleichterung der Betriebsprüfung diene; sie sei aber sogar zur Durchführung der Betriebsprüfung notwendig.

Die Klägerin wendet sich gegen das Verlangen der Verwaltung, die vertraulichen und im wesentlichen steuerrechtlich uninteressanten Protokolle en bloc vorzulegen. Sie enthielten überwiegend reine Pläne und Erwägungen; auch seien sie sehr umfangreich. Im übrigen gingen Auszüge der Protokolle zu den einzelnen Abteilungen der Klägerin; sie seien dort als Geschäftsunterlagen von der Verwaltung überprüfbar. Ein "ungezieltes Ausforschen ins Blaue hinein", wie die Verwaltung es für zulässig halte, sei nicht rechtsstaatlich; es widerspreche dem GG wie dem einfachen Recht. Die Behauptung der Verwaltung, infolge des Verhaltens der Klägerin bestehe Anlaß zu der Annahme, sie wolle steuerrechtlich relevante Sachverhalte verheimlichen, sei ungerechtfertigt. Die Aufdekkung unbekannter Steuerfälle sei nur mit Hilfe des § 201 AO unter dessen Voraussetzungen - bei begründetem Anlaß - zulässig. Auch bei datenverarbeitenden Betrieben sei die En-bloc-Vorlegung der Vorstands- und der Aufsichtsratsprotokolle keineswegs erforderlich, um die Betriebsprüfung ordnungsgemäß durchführen zu können. Im Gegenteil führten geschulte Prüfer auch ohne die Vorlegung dieser Protokolle Betriebsprüfungen bei Aktiengesellschaften erfolgreich durch. Erst nach Ausschöpfung aller anderen betrieblichen Informationsquellen, einschließlich der Auskünfte der Unternehmensleitung, könne - wenn die sonstigen Rechts- und Ermessensvoraussetzungen vorlägen - ein "gezieltes" Verlangen auf Vorlegung einzelner steuerrechtlich relevanter Protokollpunkte oder Auszüge aus den Protokollen in Betracht kommen. Die Aufsichtsrats- und die Vorstandsprotokolle seien wegen ihres im wesentlichen steuerrechtlich uninteressanten und höchst vertraulichen Inhalts mit anderen betrieblichen Unterlagen rechtlich nicht vergleichbar. Auch das verfassungsrechtliche Prinzip der Verhältnismäßigkeit müsse gewahrt werden. Eine Mitwirkungspflicht der Klägerin ginge nur bis zur Grenze der Zumutbarkeit. Die Klägerin weist in dieser Hinsicht darauf hin, es sei zu berücksichtigen, daß die Vorstandsund die Aufsichtsratsprotokolle zum großen Teil wichtige Themen von größter Vertraulichkeit enthielten, die unbedingt der Geheimhaltung bedürften. Es gehe bei dem Verlangen der Vorlegung solcher Protokolle um wichtige Fragen der Rechtsstaatlichkeit. Die Klägerin hat beantragt, die Revision mit einer gesetzes- und verfassungskonformen Begründung kostenpflichtig zurückzu weisen.

Der erkennende Senat hatte nach mündlicher Verhandlung durch Beschluß VII 243/63 vom 11. Juli 1967 (vgl. auch BFH 89, 177, BStBl III 1967, 572) den Großen Senat des BFH zur Entscheidung folgender Rechtsfragen angerufen:

1. Ist für Steueraufsichtsmaßnahmen nach § 201 Abs. 1 AO Zulässigkeitsvoraussetzung, daß ein begründeter Anlaß für die Maßnahme im Einzelfall vorliegt?

2. Ist für das Verlangen der Finanzverwaltung, die Protokolle über die Sitzungen des Vorstands und des Aufsichtsrats einer AG in ihrer Gesamtheit (en bloc) für eine bestimmte Zeit zur Einsichtnahme vorzulegen, ein begründeter Anlaß erforderlich?

Der Große Senat des BFH hat nach mündlicher Verhandlung vom 12. Februar 1968 in der Sitzung vom 13. Februar 1968 beschlossen:

1. Die Protokolle über die Sitzungen des Vorstands und des Aufsichtsrats einer AG sind für die steuerliche Betriebsprüfung in Betracht kommende Schriftstücke im Sinne des § 195 Satz 2 AO.

2. Es steht im Ermessen der FÄ, in welchem Umfang sie die Vorlegung dieser Protokolle im Einzelfall verlangen. Eine Vorlegung en bloc wird jedoch im allgemeinen nicht in Betracht kommen.

3. Auf Grund von § 201 Abs. 1 AO dürfen die FÄ Steueraufsichtsmaßnahmen ergreifen, wenn nach den gesamten Umständen des Falles ein begründeter Anlaß für die Annahme besteht, daß durch Steuerflucht oder in sonstiger Weise zu Unrecht Steuereinnahmen verkürzt werden oder verkürzt worden sind.

Der erkennende Senat hat sodann erneut mündlich verhandelt.

Die OFD hat in der mündlichen Verhandlung eine Aufstellung der Mehrsteuerergebnisse der Betriebsprüfungen bei der Klägerin überreicht. Für den Fall, daß diese Mehrsteuerergebnisse bestritten würden, oder daß "das Gericht erhebliche Zweifel" habe, hat die OFD um die Bewilligung einer Frist für die Vorlegung der Betriebsprüfungsberichte und der dazugehörigen Prüfungsunterlagen gebeten. Die Verwaltung hat ferner geltend gemacht, zwischen der (1958/1959 begonnenen) "Vor"-Betriebsprüfung und der im Streitfall in Betracht kommenden Betriebsprüfung bei der Klägerin bestehe ein "Zusammenhang"; es handle sich um einen einheitlichen Vorgang. Schon in der "Vor"-Betriebsprüfung habe sich die Klägerin geweigert, ihrer Vorlegungspflicht hinsichtlich der Vorstands- und der Aufsichtsratsprotokolle nachzukommen. Die Verwaltung habe damals davon abgesehen, ihr Verlangen durchzusetzen, für die neue Betriebsprüfung aber die Durchsetzung angekündigt.

Der Vertreter des BdF hat noch geltend gemacht, daß zu der Zeit, in der die Aktiengesellschaften darangingen, datenverarbeitende Buchungsmaschinen einzusetzen, die Verwaltung die Vorlegung von Vorstands- und Aufsichtsratsprotokollen en bloc benötigt habe.

Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung insbesondere geltend gemacht: Die Entscheidung des Großen Senats vom 13. Februar 1968 verletze verfassungsrechtliche Grundsätze. Der Rechtssatz 1 gehe über die im Vorlagebeschluß des erkennenden Senats vom 11. Juli 1967 dem Großen Senat gestellten beiden Fragen hinaus. Der erkennende Senat sei deshalb an den Rechtssatz 1 des Beschlusses des Großen Senats nicht gebunden. § 195 Satz 1 AO erfasse die nicht "vorgeschriebenen" Vorstandsprotokolle der AG nicht; auch die Führung von Aufsichtsratsprotokollen sei nach dem im Streitfall noch anzuwendenden früheren Aktiengesetz (AktG) von 1937 nicht zwingend vorgeschrieben gewesen. Daß ein besonderer Anlaß für das Verlangen der Vorlegung vorhanden gewesen sei, habe die Verwaltung zu spät vorgetragen.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision führt nicht zum Erfolg.

I.

Die OFD rügt zutreffend, daß sich das FG in der Vorentscheidung mit derjenigen Frage, die die Beteiligten zur steuergerichtlichen Entscheidung unterbreitet haben, nicht befaßt hat; es hat die Frage, ob die Verwaltung "als erste Maßnahme" der Betriebsprüfung die En-bloc-Vorlegung der Vorstands- und der Aufsichtsratsprotokolle der Klägerin fordern durfte, dahingestellt gelassen. Der Grund, aus dem das FG "unter Änderung der Beschwerdeentscheidung" der OFD die Verfügung des FA vom 19. Juli 1962 aufgehoben hat, ist nicht stichhaltig. Wenn die En-bloc-Vorlegung von vornherein überhaupt verlangt werden durfte, dann war es richtig, eine Vorlegung an den leitenden Betriebsprüfer zu fordern, der die Prüfung durchführte und der dafür zu sorgen gehabt hätte, daß von den Protokollen nicht solche Personen Kenntnis erhielten, die nicht zwingend davon dienstlich Kenntnis erhalten mußten. Dennoch bedarf es keiner Aufhebung der Vorentscheidung, weil sie sich als im Ergebnis zutreffend erweist.

II.

Wenn die Klägerin beanstandet, daß FA und OFD sich auf eine Reihe von Vorschriften der AO aus verschiedenen, zum Teil sich überschneidenden Verfahrensarten stützten, wodurch ihre Verfügungen nicht ausreichend klar seien, so kann ihr darin nicht gefolgt werden. Wie der Große Senat in dem Beschluß Gr. S. 5/67 vom 13. Februar 1968 (BFH 91, 35, BStBl II 1968, 365) unter II der Begründung dargelegt hat, kann in der Benennung mehrerer Rechtsgrundlagen kein Mangel der Anordnung erblickt werden. Auf II der Begründung des Beschlusses des Großen Senats nimmt der erkennende Senat Bezug.

III.

Das FA hat seine Verfügung vom 19. Juli 1962 u. a. auf die Vorschrift des § 201 AO gestützt. Diese Vorschrift bietet jedoch keine Rechtsgrundlage für sein Vorgehen im Streitfall.

Wie der Große Senat des BFH in dem erwähnten Beschluß Gr. S. 5/67, auf dessen Begründung zu V Bezug genommen wird, mit Recht dargelegt hat, muß im Hinblick auf Wortlaut des § 201 AO, Systematik und rechtsstaatliche Auffassungen, eine verfassungskonforme Auslegung des § 201 AO davon ausgehen, daß er durch Rechtsschranken eingeengt ist (vgl. Hensel in Steuer und Wirtschaft 1932 Sp. 1347, 1362 - StuW 1932, 1347, 1362 -; Meßmer in Mattern-Meßmer, Reichsabgabenordnung, Tz. 1299). Der Betriebsprüfer der Finanzverwaltung kann nach § 201 AO von einer AG eine Vorlegung der Aufsichtsrats- und der Vorstandsprotokolle en bloc verlangen, wenn dies zur Aufdeckung oder zur Verhinderung von Steuerverkürzungen erforderlich ist, d. h. wenn nach den gesamten Umständen des einzelnen Falles ein begründeter Anlaß für die Annahme besteht, daß durch Steuerflucht oder in sonstiger Weise zu Unrecht Steuereinnahmen verkürzt werden oder verkürzt worden sind. Ein Anlaß zur Vorlegung der Protokolle en bloc ist aber nicht dadurch gegeben, daß in dem Betrieb einer AG datenverarbeitende Buchungsmaschinen eingesetzt wurden und eingesetzt sind. Im Streitfall kann keine Rede davon sein, daß ein begründeter Anlaß für die Annahme bestanden habe, daß die Klägerin durch Steuerflucht oder in sonstiger Weise zu Unrecht Steuereinnahmen verkürze oder verkürzt habe; ein Anhaltspunkt hierfür ergibt sich weder aus der Vorentscheidung, noch ist dem Vorbringen der Beteiligten in der Tatsacheninstanz etwas Stichhaltiges für eine solche Annahme zu entnehmen. Ob der von der Beklagten und Revisionsklägerin in der mündlichen Verhandlung überreichten Übersicht der Mehrsteuerergebnisse der Betriebsprüfung bei der Klägerin in dieser Hinsicht eine Bedeutung zukommt, braucht nicht erörtert zu werden, da es sich hierbei um im Revisionsverfahren nicht mehr zulässige neue Tatsachenbehauptungen handelt.

IV.

Der Große Senat hat bereits in dem erwähnten Beschluß dargelegt, daß die Vorschrift des § 162 Abs. 10 AO, früher § 162 Abs. 9 AO, für die im Streitfall zu entscheidende Rechtsfrage nicht von ausschlaggebender Bedeutung ist, daß § 171 Abs. 2 AO in Fällen der vorliegenden Art nicht zum Zuge kommt und daß auch die §§ 175 und 194 AO ausscheiden. Der erkennende Senat nimmt insoweit auf II der Begründung des genannten Beschlusses des Großen Senats Bezug.

V.

Nach III und IV der Begründung des erwähnten Beschlusses des Großen Senats, auf die ebenfalls Bezug genommen wird, ist aber zu prüfen, ob im Streitfall § 195 AO, auf den sich das FA auch berufen hat, das Begehren der Beklagten und Revisionsklägerin zu rechtfertigen vermag. Der Große Senat hat entschieden, daß die Aufsichtsratsprotokolle einer AG für die steuerrechtliche Betriebsprüfung in Betracht kommende Schriftstücke im Sinne des § 195 Satz 2 AO sind. Nach der Entscheidung des Großen Senats ist jedoch das Verlangen der Verwaltung nach Vorlegung aller dieser Protokolle en bloc im allgemeinen nicht gerechtfertigt. Der Große Senat hat hierzu ausgeführt: Die Aufsichtsrats- und die Vorstandsprotokolle sind wegen ihres Inhalts Urkunden besonderer Art. Ebenso wie einerseits an sich alle Aufsichtsrats- und Vorstandsprotokolle steuerrechtlich bedeutsame Vorgänge enthalten können, wird sich nach der Erfahrung des Lebens ein Teil dieser Protokolle nicht auf steuerrechtlich bedeutsame Sachverhalte beziehen. Es besteht aber kein Anlaß zur Vorlegung von Protokollen, die sich ausschließlich auf innere Angelegenheiten des Unternehmens beziehen und die für die steuerrechtliche Betriebsprüfung nicht in Betracht kommen. Die Verwaltung kann die Protokolle nach ihrem Ermessen anfordern, das sich nach § 2 Abs. 2 StAnpG im Rahmen von Recht und Billigkeit zu halten hat. Die Verwaltung würde aber ermessenswidrig handeln, wenn sie auch solche Protokolle anfordern würde, von denen sie annehmen muß, daß sie mit Fragen der Besteuerung nichts zu tun haben. Daraus folgt, daß das Verlangen nach Vorlegung aller Aufsichtsrats- und Vorstandsprotokolle der AG en bloc im allgemeinen nicht gerechtfertigt ist. Von der Vorlegungspflicht sind deshalb solche Protokolle ausgenommen, von denen die gesetzlichen Vertreter der AG glaubhaft versichern, daß sie keine Beziehung zu steuerrechtlich bedeutsamen Tatbeständen haben. Bestehen Zweifel an der Richtigkeit der Versicherung, so ist dem Prüfer Gelegenheit zu geben, sich von dem Inhalt des Protokolls anhand der Tagesordnung und gegebenenfalls durch Einsichtnahme zu überzeugen. Das hat auch zu gelten, wenn von der Einsichtnahme bestimmter Punkte der Tagesordnung Abstand genommen werden soll.

Das Wort "Zweifel" kann nach Auffassung des Senats dem Sinn und dem Zusammenhang mit dem vorangehenden Satz des Beschlusses des Großen Senats nach nur bedeuten: begründete Zweifel; nicht etwa reichen nur Vermutungen der Verwaltung aus. Würde das Wort "Zweifel" in IV der Begründung des Beschlusses des Großen Senats anders ausgelegt werden, so würde der dort vorhergehende Satz seinen Sinn verlieren.

Gegen den Beschluß des Großen Senats vom 13. Februar 1968 bestehen entgegen den Ausführungen der Klägerin nach Auffassung des Senats keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Insbesondere sind weder Art. 2 Abs. 1 GG noch Art. 3 GG verletzt. Daß der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall zu wahren ist, hat der Große Senat ausdrücklich betont. Der Senat vermag den Ausführungen der Klägerin auch darin nicht beizupflichten, daß er an den Rechtssatz 1 des Beschlusses des Großen Senats nicht gebunden sei. Es trifft nicht zu, daß der Große Senat in dem Rechtssatz 1 über die in dem Vorlagebeschluß des erkennenden Senats vom 11. Juli 1967 gestellten Fragen hinausgegangen sei. Die Frage 2 des Vorlagebeschlusses bezog sich nicht nur auf die Fälle des in Frage 1 erwähnten § 201 AO. Daher war es, um die Frage 2 des Vorlagebeschlusses zu beantworten, notwendig, daß der Große Senat auch die Frage der Anwendbarkeit oder der Nichtanwendbarkeit der Vorschrift des § 195 AO in Fällen der vorliegenden Art prüfte und entschied; das hat der vorlegende (jetzt erkennende) Senat in seinem Vorlagebeschluß vom 11. Juli 1967 auch angedeutet. Er hält sich darum nach § 11 Abs. 5 Satz 2 FGO für an den Rechtssatz 1 des Beschlusses des Großen Senats, der unter III a. a. O. eingehend begründet ist, gebunden.

VI.

Im Streitfall hat die Verwaltung "als erste Maßnahme der neuen Betriebsprüfung", wie es in dem gemeinsamen Protokoll der OFD und der Klägerin vom 14. Mai 1962 ausdrücklich heißt, die Vorlegung der gesamten und ungekürzten Vorstands- und Aufsichtsratsprotokolle mit den dazugehörenden Unterlagen für vier Jahre von der Klägerin verlangt. Die Klägerin hat demgegenüber unter Bezugnahme auf ein früher überreichtes Gutachten u. a. ausgeführt, die für die Betriebsprüfung erforderlichen Unterlagen ergäben sich bereits aus dem ihr zur Verfügung stehenden Rechenwerk und anderen seitens der Klägerin vorgelegten Unterlagen; selbst steuerrechtlich "relevante Tatbestände" würden in ihren sonstigen, den Betriebsprüfern allgemein zugänglichen Unterlagen so erkennbar, daß eine zutreffende steuerrechtliche Beurteilung stets möglich sei. Ohne auf die von der Klägerin geltend gemachten Gründe einzugehen, hat das FA mit der Verfügung vom 19. Juli 1962 die Klägerin unter Androhung eines Erzwingungsgeldes aufgefordert, die erwähnten Protokolle der Jahre 1957 bis 1960 mit den dazugehörenden Unterlagen "in ihrer Gesamtheit" (en bloc) bis spätestens 7. August 1962 dem leitenden Betriebsprüfer vorzulegen. Die Beschwerde der Klägerin, in der sie auf ihr bisheriges Vorbringen Bezug nahm, hat die OFD mit Entscheidung vom 11. September 1962 als unbegründet zurückgewiesen. Die OFD hat in der Verfügung des FA vom 19. Juli 1962 weder einen Rechts- noch einen Ermessensverstoß erblickt; die Betriebsprüfung bei der Klägerin sei nur nach einem zuvor erarbeiteten "Prüfungssystem" durchführbar; die Behauptung, die Vorstands- und die Aufsichtsratsprotokolle einer AG vermittelten meist keine steuerrechtlich interessierenden Erkenntnisse, entspreche nicht den Erfahrungen, die von der Finanzverwaltung bei der Durchführung von Betriebsprüfungen gemacht worden seien.

Der Standpunkt der Finanzverwaltung entspricht nicht der Rechtsauffassung, die der Große Senat des BFH in dem Beschluß Gr. S. 5/67 vertreten hat. Um ermessensgerecht, also im Einklang mit Recht und Billigkeit, zu handeln, hätte das FA auf die Einwendungen der Klägerin hin (§ 202 Abs. 10 AO) nicht alsbald ein Erzwingungsgeld festsetzen dürfen; es hätte vielmehr die Klägerin zumindest zunächst auffordern müssen, durch ihre gesetzlichen Vertreter zu versichern, welche der Vorstands- und der Aufsichtsratsprotokolle keine Beziehungen zu steuerrechtlich bedeutsamen Tatbeständen haben. Hätten dann begründete Zweifel an der Richtigkeit der Versicherung bestanden, so hätte von der Klägerin verlangt werden dürfen, dem Betriebsprüfer Gelegenheit zu geben, sich von dem Inhalt des Protokolls anhand der Tagesordnung und gegebenenfalls durch Einsichtnahme zu überzeugen. Das Verfahren des FA dagegen entsprach nicht den Grundsätzen von Recht und Billigkeit (§ 2 Abs. 2 StAnpG). Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, daß die OFD bereits in der früheren Betriebsprüfung bei der Klägerin von der Durchsetzung ihres Verlangens der Vorlegung der gesamten Vorstands- und Aufsichtsratsprotokolle der Klägerin abgesehen hatte. Die im Mai 1962 bei der Klägerin begonnene Betriebsprüfung war eine von der Verwaltung selbst als "neue Betriebsprüfung" bezeichnete Betriebsprüfung. Es gab für diese keine Rechtfertigung der Verwaltung, unter Berufung auf die frühere Betriebsprüfung bei der Klägerin von dem dargelegten ermessensgerechten Verfahren abzugehen.

Die Vorentscheidung war deshalb im Ergebnis zu bestätigen, ohne daß es noch einer Prüfung bedurfte, ob im Streitfall der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. u. a. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 10 S. 89, 103, 117 C III 1 a, IV 7; Bd. 19 S. 342, 347 ff. III; Bd. 21 S. 220 und 239, 243 II 4 b, und Mattern-Meßmer, Reichsabgabenordnung, Tz. 1327) gewahrt war, der eine sehr sorgfältige Abwägung der wichtigen für das Gemeinwohl wie für die Klägerin auf dem Spiel stehenden öffentlichen wie privaten Interessen einerseits und der strikten Durchsetzung der Ermittlung von Steueransprüchen bei der Klägerin andererseits geboten hätte. Es ist auch steuerrechtlich anerkannt, daß aus rechtsstaatlichen Gründen die Finanzverwaltungsbehörden die Ermittlung der Steueransprüche nicht "um jeden Preis" durchsetzen dürfen (vgl. dazu Spitaler-Paulick in Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, Anm. 38 zu § 162 AO S. 60).

 

Fundstellen

Haufe-Index 68094

BStBl II 1968, 592

BFHE 1968, 354

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