Leitsatz (amtlich)

1. Großeltern wird für ein Enkelkind der Kinderfreibetrag nach § 32 Abs. 2 EStG nur gewährt, wenn das Kind ihr Pflegekind ist.

2. Die Verwaltungsanweisung in Abschn. 183 Abs. 1 EStR 1961 ist weder ein sogenannter fortgeltender Milderungserlaß aus der autoritären Zeit, noch hat er eine ausreichende Rechtsgrundlage in § 131 Abs. 2 AO. Er ist deshalb von den Steuergerichten nicht zu beachten.

2. Großeltern kann für ein Enkelkind, das sie in ihrem Haushalt aufgenommen haben, ein steuerfreier Betrag nur nach § 33a Abs. 1 und 2 EStG gewährt werden. Das setzt voraus, daß sie "zwangsläufig" Kosten des Unterhalts für das Kind übernehmen. Das ist nicht der Fall, wenn die Eltern des Kindes in der Lage sind, die Kosten des Unterhalts selbst zu tragen.

2. Zur Abgrenzung der Aufgaben von Gesetzgebung und Verwaltung beim Erlaß allgemeiner begünstigender Verwaltungsvorschriften.

 

Normenkette

EStG 1960 § 32 Abs. 2, §§ 33, 33a; AO § 131

 

Tatbestand

Das FA versagte für das Streitjahr 1961 den steuerpflichtigen Eheleuten (Steuerpflichtigen) den beantragten Kinderfreibetrag nach § 32 Abs. 2 EStG für das im Jahre 1957 geborene und seit seiner Geburt in ihrem Haushalt lebende Enkelkind. Die Mutter des Kindes hatte im Streitjahr 1961 als Ärztin in einem Krankenhaus Einkünfte von 8 565 DM; der Vater war ohne Einkünfte. Die Eltern des Kindes lebten im Jahre 1961 getrennt; ihre Ehe wurde im Jahre 1962 geschieden. Das FA lehnte es auch ab, den Steuerpflichtigen für Aussteueraufwendungen von 6 488 DM eine Steuerermäßigung nach § 33 EStG zu gewähren, weil sie über erhebliches Vermögen verfügten, aus dem sie Aussteuer hätten gewähren können.

Der Einspruch und die Berufung der Steuerpflichtigen hatten in den Streitpunkten keinen Erfolg. Das FG führte im wesentlichen aus, nach den Vorschriften des EStG könne ein Kinderfreibetrag für Enkelkinder nur gewährt werden, wenn das Enkelkind zugleich Pflegekind seiner Großeltern sei. Eine Pflegekindschaft setze voraus, daß zwischen dem Kind und seinen Pflegeeltern eine familienartige, auf die Dauer berechnete Bindung bestehe. Das Kind müsse mit dem Willen seiner Eltern aus ihrer Obhut und Fürsorge ausgeschieden und wie ein leibliches Kind von den Pflegeeltern aufgenommen sein. Das sei hier nicht der Fall; denn die Mutter habe die Beziehungen zu dem Kind dadurch, daß es in den Haushalt der Großeltern aufgenommen worden sei, nicht gelöst. Sie habe die Sorge für das Kind den Verhältnissen entsprechend ausüben wollen und ausgeübt, vor allem durch regelmäßige Wochenendbesuche. Die Voraussetzungen für die in Abschnitt 183 EStR 1961 von der Bundesregierung aus Billigkeitsgründen eingeräumte Möglichkeit, einen Kinderfreibetrag für ein in den Haushalt der Großeltern aufgenommenes Enkelkind zu gewähren, lägen nicht vor; denn bei dem Jahreseinkommen der Mutter von 8 565 DM habe kein wirtschaftliches Bedürfnis bestanden, dem Enkelkind im Haushalt der Großeltern Unterhalt zu gewähren.

Hinsichtlich der Aussteueraufwendungen stellte das FG fest, die Steuerpflichtigen hätten die Aussteuer aus ihrem Vermögen gewähren können; denn ihr Vermögen sei nicht unerheblich gewesen. Selbst wenn man die erhöhten Freibeträge des § 5 Abs. 1 VStG 1960 anwende und danach die Grenze für die Unerheblichkeit des Vermögens für den Streitfall auf 65 000 DM bemesse, so liege doch das Vermögen der Steuerpflichtigen um rund 13 000 DM über der Grenze von 65 000 DM. Setze man das Grundvermögen nicht nur mit den Einheitswerten, sondern mit den Verkehrswerten und das Einfamilienhaus mit dem doppelten Einheitswert an, so betrage das Vermögen sogar rund 100 000 DM. Die besonderen persönlichen Verhältnisse der Steuerpflichtigen, z. B. Alter, Krankheit, Aufwand für die Ausbildung weiterer Töchter, Unterbringung einer dauernd pflegebedürftigen Tochter in einem Heim sowie die Notwendigkeit, für das Alter durch Vermögensbildung Vorsorge zu treffen, seien demgegenüber unerheblich.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision, mit der die Steuerpflichtigen unrichtige Rechtsanwendung rügen, kann in den Streitpunkten keinen Erfolg haben.

Die Ausführungen, mit denen das FG das Enkelkind nicht als Pflegekind der Steuerpflichtigen anerkannt hat, sind rechtlich einwandfrei. Nach der Rechtsprechung des Senats, insbesondere im Urteil VI 99/62 S vom 14. Dezember 1962 (BFH 76, 342, BStBl III 1963, 124), setzt eine Pflegekindschaft steuerlich voraus, daß das Kind von den Pflegeeltern auf die Dauer wie ein eigenes Kind betreut wird und daß, sofern sie noch leben, die Eltern die Obhut und Pflege über ihr Kind tatsächlich nicht ausüben. Auf Grund seiner tatsächlichen Feststellungen konnte das FG diese Voraussetzungen für den Streitfall ohne Rechtsverstoß verneinen. Die Mutter hatte die Beziehungen zu ihrem Kind nicht aufgegeben. Daß das Kind im Haushalt der Großeltern untergebracht war, bedeutete offenbar nur eine durch das Alter des Kindes, die Familienverhältnisse der Eltern und die Art der Berufstätigkeit der Mutter erzwungene Lösung für eine Übergangszeit. Erfahrungsgemäß werden in Fällen dieser Art, sobald die Verhältnisse es gestatten, vor allem wenn die Eltern einen eigenen Hausstand geschaffen haben, die Kinder in den Haushalt der Eltern übernommen. Daß während des Streitjahres 1961 die Ehe der Eltern tatsächlich schon zerfallen war und im Jahre 1962 geschieden wurde, ist nicht entscheidend. Denn daraus ergibt sich nicht, daß die Mutter sich auf die Dauer von ihrem Kind trennen und es endgültig den Großeltern überlassen wollte. Die Feststellung des FG, daß keine Pflegekindschaft bestanden habe, war danach rechtlich möglich und bindet den Senat nach § 118 Abs. 2 FGO.

Die Steuerpflichtigen stützen ihren Antrag auf einen Kinderfreibetrag auch auf Abschn. 183 Abs. 1 EStR 1961, wonach Großeltern für Enkelkinder ein Kinderfreibetrag zu gewähren ist, wenn ein wirtschaftliches Bedürfnis für die Aufnahme des Enkelkindes in den Haushalt der Großeltern bestanden hat. Der erwähnte Abschnitt enthält eine Verwaltungsanweisung der obersten Finanzbehörden an die nachgeordneten Verwaltungsbehörden, die die Steuergerichte nicht bindet, die nach Art. 20 Abs. 3 GG nur das Gesetz auslegen und anwenden dürfen. Im EStG selbst findet die erwähnte Verwaltungsanweisung aber keine Grundlage. Nach dem EStG steht, wie das FG zutreffend darlegt, Großeltern für ein Enkelkind ein Kinderfreibetrag nur zu, wenn das Enkelkind zugleich ihr Pflegekind ist. Die Bundesregierung stützt dann auch ihre Verwaltungsanweisung nicht auf eine Vorschrift des EStG, sondern auf die allgemeine Billigkeitsvorschrift des § 131 AO; sie betrachtet die Anweisung offensichtlich als Maßnahme der sogenannten Gruppenbilligkeit im Sinne von § 131 Abs. 2 AO.

In dem amtlich nicht veröffentlichten Urteil VI 225/63 vom 13. März 1964 (Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Einkommensteuergesetz, § 32, Rechtsspruch 43) hat der Senat die Frage offengelassen, ob Abschn. 183 EStR ein fortgeltender Milderungserlaß aus der autoritären Zeit ist, den die Steuergerichte unter diesem Gesichtspunkt beachten könnten. Nach nochmaliger Prüfung ist der Senat zu dem folgenden Ergebnis gekommen: Es kann dahingestellt bleiben, ob und in welchem Umfang fast 20 Jahre nach dem Inkrafttreten des GG sogenannte Milderungserlasse aus der autoritären Zeit, die nicht die im GG vorgesehene Form von Rechtsnormen haben, überhaupt noch als "rechtsnormähnlich" von den Steuergerichten zu beachten sind. Denn die Regelung des Abschn. 183 EStR stammt gar nicht aus der Zeit des autoritären Regimes. Nach § 32 Abs. 5 Nr. 4 EStG 1939 konnte bis zu der Veranlagung für 1945 eine Kinderermäßigung - außer für Kinder - auch für Angehörige im Sinne von § 10 Nrn. 3 bis 6 StAnpG gewährt werden, also auch für Enkelkinder, die zu den Verwandten in gerader Linie rechnen. Seit dem Jahre 1946 wurde aber Kinderermäßigung nur noch für die "Kinder" gewährt, die in § 32 EStG aufgezählt waren (vgl. die erste Ausführungsanweisung der Finanzleitstelle vom 11. März 1946 Nr. 2 zum Gesetz Nr. 12 des Kontrollrats vom 11. Februar 1946, Steuerund Zollblatt für die britische Zone 1946 S. 8/9). Dazu gehörten Enkelkinder nicht. Das Gesetz Nr. 64 zur vorläufigen Neuordnung von Steuern vom 20. Juni 1948 (Gesetz- und Verordnungsblatt des Wirtschaftsrats des Vereinigten Wirtschaftsgebietes - WiGBl - 1948, Beilage 4, Amtsblatt des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen - BayFMBl - 1948 S. 129) übernahm diese Regelung in § 32 Abs. 4 Nr. 4 EStG, die seither unverändert fortgeführt wurde.

Eine dem Abschn. 183 Abs. 1 EStR 1961 entsprechende Billigkeitsanordnung der obersten Verwaltungsbehörden wurde erstmals in Abschn. 145 Abs. 1 EStR 1946 getroffen, also erst, nachdem das autoritäre Regime zusammengebrochen war. Wenn auch damals die staatsrechtliche Lage hinsichtlich des Rechts zum Erlaß von Rechtsnormen und Verwaltungsanweisungen unklar war, so sieht der Senat doch keinen Anlaß, in der damaligen Zeit ergangene Verwaltungsanweisungen, die in den geltenden und oft überarbeiteten Gesetzen keine Grundlage haben, als "rechtsnormähnlich" und damit für die Steuergerichte als verbindlich zu behandeln.

Abschn. 183 Abs. 1 EStR 1961 hat auch in § 131 AO keine ausreichende Rechtsgrundlage. Ob und unter welchen Voraussetzungen Steuerpflichtige für den Unterhalt mittelloser Angehöriger, für die sie keinen Kinderfreibetrag erhalten, eine Steuerermäßigung gewährt werden kann, ist seit dem EStG 1955 in § 33a Abs. 1 EStG geregelt. Nachdem seit dem EStG 1958 an Stelle der Kinderermäßigungen Kinderfreibeträge gewährt werden, entspricht der steuerfreie Betrag des § 33a EStG dem Kinderfreibetrag für das erste Kind. Nach § 33a Abs. 2 EStG werden die Freibeträge für Kinder, die zur Berufsausbildung auswärts untergebracht sind, erhöht, gleichviel, ob der Steuerpflichtige für das Kind einen Freibetrag nach § 32 oder nach § 33a Abs. 1 EStG erhält. Die im EStG 1955 eingeleitete Entwicklung, die selbst im wesentlichen von Gesichtspunkten der Billigkeit bestimmt ist, erstreckt sich auch auf Enkelkinder, die in dem Haushalt der Großeltern aufgenommen worden sind und ermöglicht es, eine dadurch entstehende wirtschaftliche Belastung der Großeltern steuerlich ausreichend und angemessen zu berücksichtigen. Abschn. 183 Abs. 1 EStR 1961 ist also durch die gesetzliche Entwicklung zumindestens überholt, sofern man überhaupt annimmt, daß die Verwaltungsanweisung vorher in § 131 Abs. 2 AO eine ausreichende Rechtsgrundlage hatte.

Die Kinderfreibeträge des § 32 EStG sind im übrigen nach Höhe und Auswirkungen anders gestaltet als der steuerfreie Betrag nach § 33a Abs. 1 und 2 EStG. Die Kinderfreibeträge erhöhen sich nämlich für das zweite, dritte und weitere Kinder. Sie ziehen auch noch andere Steuervergünstigungen nach sich, z. B. die erweiterte Anwendung des Splittingtarifs gemäß § 32a Abs. 3 Nr. 2 EStG, die Erhöhung des Sonderausgaben-Höchstsatzes nach § 10 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 3 Buchst. a EStG und die Senkung der Überbelastungsgrenze des § 64 EStDV. Diese gesetzlichen Auswirkungen der Kinderfreibeträge können die Verwaltungsbehörden nicht unter Berufung auf § 131 AO im Billigkeitswege auf andere Fälle ausweiten, ohne die verfassungsrechtliche Kompetenz des Gesetzgebers anzugreifen. § 131 AO legitimiert die Verwaltungsbehörden nicht wie der Gesetzgeber über dessen erkennbaren Willen hinaus für nach Zahl und Zeit nicht abgegrenzte Fälle allgemein Steuererleichterungen zu gewähren.

Nach allem fehlt der Verwaltungsanweisung in Abschnitt 183 Abs. 1 EStR 1961 die gesetzliche Grundlage, so daß sie von den Steuergerichten nicht beachtet werden darf. Aus ähnlichen Überlegungen haben auch die "Untersuchungen zum Einkommensteuerrecht - Bericht der Einkommensteuer-Kommission" (Heft 7 der Schriftenreihe des Bundesministeriums der Finanzen, S. 242/243) unter Berufung auf das Urteil des Senats VI 229/61 U vom 6. Juli 1962 (BFH 75, 551, BStBl III 1962, 469) Bedenken gegen die Rechtsgültigkeit des Abschnitts 183 EStR geäußert, weil sie darin eine "das Gesetz ausweitende steuerrechtliche Behandlung der Enkelkinder" sahen. Es muß dem Gesetzgeber überlassen bleiben, zu entscheiden, ob er Großeltern für Enkelkinder über § 33a Abs. 1 EStG hinaus eine Steuerermäßigung gewähren will.

Nach dem geltenden Recht könnte den Steuerpflichtigen also nur nach § 33a Abs. 1 EStG ein Freibetrag gewährt werden. Wenn das FG zur Anwendung des § 33a Abs. 1 EStG auch nicht ausdrücklich Stellung genommen hat, so lassen seine Ausführungen doch erkennen, daß es die Voraussetzungen der Vorschrift mit Recht als nicht erfüllt betrachtet. Der Freibetrag nach § 33a Abs. 1 EStG wird nämlich nur gewährt, wenn den Steuerpflichtigen die Unterhaltsaufwendungen "zwangsläufig" erwachsen. Die Steuerpflichtigen waren als Großeltern weder bürgerlichrechtlich noch sittlich gehalten, die Kosten des Unterhalts für das Kind zu tragen, da die Mutter, der auch der Kinderfreibetrag nach § 32 Abs. 2 Nr. 1 EStG zustand, als die zunächst zum Unterhalt des Kindes Verpflichtete wirtschaftlich in der Lage war, die Unterhaltskosten zu tragen.

Die Aussteueraufwendungen hat das FG ohne Rechtsverstoß nicht nach § 33 EStG berücksichtigt. Die Vorentscheidung entspricht insoweit der Rechtsprechung des Senats, besonders in den Urteilen VI 21/65 vom 16. August 1967 (BFH 90, 55, BStBl III 1967, 755) und VI R 22/66 vom 16. August 1967 (BFH 90, 57, BStBl III 1967, 756). Nach der Rechtsprechung des Senats ist es auch unerheblich, ob das Vermögen der Altersversorgung der Steuerpflichtigen dient.

 

Fundstellen

Haufe-Index 68131

BStBl II 1968, 674

BFHE 1968, 53

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