Entscheidungsstichwort (Thema)

(Pflegekind - Kinderlastenausgleich für Eltern mit vier Kindern in 1988 - Aussetzung des Verfahrens wegen vor dem BVerfG anhängiger Musterverfahren)

 

Leitsatz (amtlich)

1. In der Regel kann angenommen werden, daß ein Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen einem alleinerziehenden Elternteil und seinem bei Pflegeeltern lebenden, noch nicht schulpflichtigen Kind nicht mehr besteht, wenn der Elternteil mindestens ein Jahr lang keine für die Wahrung des Obhuts- und Pflegeverhältnisses ausreichenden Kontakte zu dem Kind hat.

2. Der steuerliche Kinderlastenausgleich für Eltern mit vier Kindern im Jahre 1988 ist verfassungsgemäß.

 

Orientierungssatz

1. Bei schulpflichtigen Kindern mag ein größerer Zeitraum (etwa 2 Jahre) erforderlich sein, um einen Abbruch des Obhutsverhältnisses und Pflegeverhältnisses des Kindes zu den leiblichen Eltern zu vermuten. Bei noch älteren Kindern wird sich überhaupt kein fester Zeitraum mehr nennen lassen.

2. § 32 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 2 EStG setzt nicht voraus, daß das Obhutsverhältnis und Pflegeverhältnis des Kindes zu den leiblichen Eltern endgültig --ohne Aussicht auf Wiederaufnahme-- nicht mehr besteht.

3. Die Aussetzung eines Verfahrens wegen vor dem BVerfG anhängiger Musterverfahren ist nur dann gerechtfertigt, wenn die oder das Musterverfahren und das Verfahren, dessen Aussetzung in Frage steht, hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Streitfrage im wesentlichen gleichgelagert sind.

 

Normenkette

EStG § 32 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 6; FGO § 74

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute und wurden 1988 (Streitjahr) gemeinsam zur Einkommensteuer veranlagt. Sie haben drei gemeinsame Kinder. Außerdem sind sie die Großeltern des am 15. Oktober 1985 geborenen K A. Dessen Eltern sind der Sohn der Kläger, C A und M A. Nach dem Auszug von M A aus der Familienwohnung in B nahmen die Kläger ihr Enkelkind am 7. Oktober 1988 in ihren Haushalt in C auf. Die Ehe von C und M A wurde am 11. Januar 1989 geschieden. Das Sorgerecht für K A wurde dem Vater C A übertragen. Die Übertragung der elterlichen Sorge begründete das Amtsgericht B im Urteil vom 11. Januar 1989 u.a. damit, daß K A bei den Klägern unter Betreuung durch seinen Vater lebe.

Nach der Aufnahme von K A in den Haushalt der Kläger studierte C A weiterhin Medizin an der Universität B. Am 20. März 1990 legte er sein zweites Staatsexamen ab. Anschließend verzog er nach C und bewohnte auf dem Grundstück der Kläger eine eigene Wohnung. Ab April 1990 absolvierte er das praktische Jahr in E. Danach war er als Arzt im Praktikum in N tätig.

Die Kläger begehrten für das Streitjahr einen Kinderfreibetrag auch für ihr Enkelkind K A. Dies lehnte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) bei der Einkommensteuerveranlagung ab. Einspruchs- und Klageverfahren hatten keinen Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) führte im wesentlichen aus, daß im Streitfall die Voraussetzungen für den Abzug eines Kinderfreibetrages nach § 32 Abs. 6 des Einkommensteuergesetzes (EStG) mangels eines zwischen den Klägern und ihrem Enkelkind vorliegenden Pflegekindschaftsverhältnisses gemäß § 32 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nicht gegeben seien. Es fehle an dem Tatbestandsmerkmal des auf längere Dauer berechneten familienähnlichen Bandes zwischen den Klägern und ihrem Enkelkind sowie eines damit verbundenen Willens des Sohnes der Kläger, sich von seinem Kind zu trennen und es endgültig den Klägern zu überlassen. Die Frage, ob in der Zeit vom 7. Oktober 1988 bis zum Umzug ihres Sohnes nach C im April 1990 ein Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen ihrem Sohn und ihrem Enkelkind bestanden habe und damit bereits ein Pflegekindschaftsverhältnis zu den Klägern ausscheide, könne offenbleiben. Trotz der geringen Besuchsintensität des Sohnes der Kläger bei seinem Kind in der Zeit von 1988 bis April 1990 neige der Senat dazu, diese Frage zu bejahen, da auch das Amtsgericht B in seinem Urteil vom 11. Januar 1989 von einem Aufenthalt von K A bei den Klägern "unter Betreuung" durch den Sohn der Kläger ausgegangen sei.

Jedenfalls habe aber vom Zeitpunkt des Einzugs des Sohnes der Kläger in seine Wohnung in C ab April 1990 ein Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen dem Sohn der Kläger und ihrem Enkelkind bestanden. Die von C A bezogene Wohnung befinde sich auf dem Grundstück der Kläger in unmittelbarer Nähe des von ihnen geführten Haushalts, so daß, unbeschadet der Frage, ob der Sohn der Kläger vom Einzug in diese Wohnung an einen eigenen Haushalt geführt habe, er jedenfalls ab diesem Zeitpunkt jederzeit --d.h. an jedem Tag-- in der Lage gewesen sei, das ihm zustehende Personensorgerecht für sein Kind auszuüben. Bei derartigen Umständen seien die das Obhuts- und Pflegeverhältnis begründenden tatsächlichen Einwirkungsmöglichkeiten auch durch eine häufige Abwesenheit aus beruflichen Gründen nicht eingeschränkt gewesen. Demgemäß sei die Unterbringung von K A bei den Klägern vom 7. Oktober 1988 bis zum Einzug des Sohnes der Kläger in seine Wohnung in C im April 1990 lediglich als eine Übergangslösung von kürzerer Dauer anzusehen und reiche nicht aus, um ein auf "längere Dauer" berechnetes familienähnliches Band zwischen den Klägern und ihrem Enkelkind zu begründen.

Mit der Revision rügen die Kläger im wesentlichen die Verletzung des § 32 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 32 Abs. 6 Satz 2 EStG. Die Auslegung dieser Bestimmungen durch das FG weiche ab von dem Beschluß des Großen Senats des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 25. Januar 1971 GrS 6/70 (BFHE 101, 247, BStBl II 1971, 274) sowie von den Urteilen des BFH vom 9. März 1989 VI R 94/88 (BFHE 157, 66, BStBl II 1989, 680) und vom 12. Juni 1991 III R 108/89 (BFHE 165, 201, BStBl II 1992, 20). Nach diesen Entscheidungen und zudem nach den Urteilen des BFH vom 7. Februar 1992 III R 103/90 (BFH/NV 1992, 589) und vom 22. Februar 1991 VI R 87/88 (BFH/NV 1992, 90) hätten sie --die Kläger-- die Voraussetzungen für ein tatsächlich bestehendes Obhuts- und Pflegeverhältnis zu ihrem Enkelkind i.S. des § 32 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG erfüllt.

Die Anzahl und Dauer der Besuche des Kindesvaters seien derart gering gewesen, daß dieser im Streitjahr und in den Folgejahren außerstande gewesen sei, für eine dem Kindeswohl i.S. der §§ 1671, 1672 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) entsprechende Pflege und Erziehung seines Kindes zu sorgen. Hierbei sei zu berücksichtigen, daß für den damals 24-jährigen Kindesvater seine Lebens- und Berufsplanung durch die plötzliche Trennung und spätere Scheidung von seiner Ehefrau völlig unerwartet zerbrochen und die Übertragung der Pflege und Erziehung seines Kindes in die Obhut der Kläger unvermeidbar gewesen sei.

Soweit der Kindesvater im April 1990 berufsbedingt eine Wohnung auf dem Grundstück der Kläger bezogen habe, komme dieser geographischen Veränderung kein entscheidendes Gewicht zu, da das Kind sich mit drei Jahren in seiner ersten Lebensphase befunden habe und seit der Aufnahme in den Haushalt der Kläger lediglich diese als seine (Pflege-)Eltern ansehe. Das Kind sei bereits aus dem Obhuts- und Pflegeverhältnis zu seinem Vater ausgeschieden gewesen. Wie die weitere Entwicklung im Jahre 1993 durch den Umzug des Kindesvaters vom Grundstück seiner Eltern nach M verdeutliche, sei der Verbleib seines Kindes im Haushalt der Kläger auch keine "Übergangslösung von kürzerer Dauer" gewesen.

Die Verweigerung des Kinderfreibetrages für sie --die Kläger-- bedeute eine Verletzung der Grundrechte aus Art. 1, Art. 3, Art. 6 in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1) des Grundgesetzes (GG). Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe dem Gesetzgeber in seinen Beschlüssen vom 29. Mai 1990 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86 (BVerfGE 82, 60) und vom 12. Juni 1990 1 BvL 72/86 (BVerfGE 82, 198) zur Frage eines verfassungsgemäßen Kinderlastenausgleichs Grundlagen vorgegeben, die vom FG bei der Auslegung und Anwendung des einfachen materiellen Rechts nicht hinreichend beachtet worden seien. Das FG habe nämlich außer acht gelassen, daß das zuständige Arbeitsamt das Kindergeld ihnen --den Klägern-- zugebilligt habe. Das FG habe verkannt, daß der Familienlastenausgleich durch Leistungen nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG) und den Kinderfreibeträgen nach dem EStG eine untrennbare Einheit darstelle.

Soweit das Gesetz im Streitjahr lediglich einen Kinderfreibetrag in Höhe von 2 484 DM vorsehe, sei das Ruhen des Verfahrens gemäß § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 251 der Zivilprozeßordnung (ZPO) anzuordnen, bis der Gesetzgeber den Kinderfreibetrag aufgrund der Beschlüsse des BVerfG in BVerfGE 82, 60 und 198 im Rahmen des verfassungsrechtlich geprägten Familienlastenausgleichs verfassungskonform umgesetzt habe. Das BVerfG habe über den Vorlagebeschluß des BFH vom 16. Juli 1993 III R 206/90 (BFHE 171, 534, BStBl II 1993, 755) noch nicht entschieden, so daß zur Vermeidung von Rechtsnachteilen von der Möglichkeit des § 74 FGO Gebrauch zu machen sei.

Die Kläger beantragen sinngemäß,

1. das Urteil des FG und die ablehnenden Entscheidungen

des FA aufzuheben und den Kinderfreibetrag gemäß § 32

Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG i.V.m. § 32 Abs. 6 Satz 2 EStG

zu gewähren;

2. das Ruhen des Verfahrens gemäß § 74 FGO i.V.m. § 251

ZPO anzuordnen, bis das BVerfG über den Vorlagebeschluß

in BFHE 171, 534, BStBl II 1993, 755 entschieden hat

und der Gesetzgeber den im Streitjahr gemäß § 32 Abs. 6

Satz 2 EStG mit 2 484 DM normierten Kinderfreibetrag

aufgrund der Entscheidung des BVerfG verfassungskonform

umgesetzt hat.

Das FA beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der

Vorentscheidung und zur Entscheidung in der Sache (§ 126 Abs. 3

Nr. 1 FGO).

1. Auf der Grundlage der vom FG getroffenen tatsächlichen

Feststellungen steht den Klägern für das Streitjahr ein

Anspruch auf den begehrten Kinderfreibetrag gemäß § 32 Abs. 6

EStG für ihr Enkelkind zu. Das FG ist zu Unrecht davon

ausgegangen, daß das von den Klägern in ihren Haushalt

aufgenommene Enkelkind im Streitjahr kein Pflegekind der

Kläger gemäß § 32 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG war.

Der Begriff des Pflegekindes ist für Veranlagungszeiträume ab

1986 in § 32 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG erstmals

einkommensteuerlich geregelt worden. Danach sind Pflegekinder

Personen, mit denen der Steuerpflichtige durch ein

familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band

verbunden ist und die er in seinen Haushalt aufgenommen hat.

Voraussetzung ist, daß das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den

Eltern nicht mehr besteht und der Steuerpflichtige das Kind

mindestens zu einem nicht unwesentlichen Teil auf seine Kosten

unterhält.

Diese Merkmale sind zwischen den Klägern und ihrem Enkelkind

für das Streitjahr erfüllt. Das Kind wurde im Oktober 1988 in

den Haushalt der Kläger aufgenommen und von diesem Zeitpunkt

ab von ihnen versorgt und erzogen (vgl. Urteil des BFH vom 28.

Juni 1984 IV R 49/83, BFHE 141, 154, BStBl II 1984, 571). Es

hat im Haushalt der Kläger ein Zuhause gefunden, und die

Pflegeeltern standen zu ihm in einer familienähnlichen

Beziehung wie zu einem eigenen Kind (vgl. zu den

Voraussetzungen u.a. Blümich/Stäuber, Einkommensteuergesetz,

Körperschaftsteuergesetz, Gewerbesteuergesetz, § 32 EStG

Anm. 13). Dabei war es unerheblich, wem zu dieser Zeit das

Sorgerecht für die Person des Kindes zustand, denn --wie die

Kläger zu Recht ausführen-- kann die Personensorge auch darin

bestehen, daß das Kind einer dritten Person als Pflegekind

überlassen wird (vgl. Urteil des BFH vom 17. Dezember 1952 IV

359/52 U, BFHE 57, 186, BStBl III 1953, 74).

Nach der Aufnahme des Kindes in den Haushalt der Kläger bestand auch kein Obhuts- und Pflegeverhältnis des Kindes zu dem Sohn der Kläger, seinem leiblichen Vater, mehr. Dies ergibt sich allerdings nicht schon daraus, daß der Sohn der Kläger selbst nicht mehr im Haushalt der Kläger lebte und deshalb sein Kind nicht mehr täglich sah (offengelassen im Urteil des BFH in BFHE 157, 66, BStBl II 1989, 680). Wie schon aus der Entscheidung des Großen Senats des BFH in BFHE 101, 247, BStBl II 1971, 274 --zur früheren Rechtslage-- folgt, ist für die Annahme einer Pflegekindschaft im steuerrechtlichen Sinn nur Raum, wenn das Band zwischen Pflegekind und leiblichen Eltern in einem viel stärkeren Maß zerrissen ist als bei einer bloßen räumlichen Trennung. Der Große Senat des BFH hat als entscheidend angesehen, daß die leiblichen Eltern sich nicht mehr um das Kind kümmern. Da die Einfügung des § 32 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 2 EStG auf der Grundlage der Entscheidung des Großen Senats erfolgt ist, bildet diese Entscheidung immer noch eine Richtschnur für die Entscheidung der Frage, ob kein Obhuts- und Pflegeverhältnis des Kindes zu seinen leiblichen Eltern mehr besteht.

Der erkennende Senat sieht daher dieses Merkmal dann als gegeben an, wenn --aus welchen Gründen auch immer-- die Obhut und Pflege gegenüber dem Kind von seiten der leiblichen Eltern so zurücktritt, daß sie im wesentlichen nur noch durch die Pflegeeltern ausgeübt wird. Die Pflegeeltern müssen für das Kind gleichsam an die Stelle der leiblichen Eltern treten. Nur dann läßt sich der Zweck des § 32 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG erreichen, die Kinderfreibeträge in einer den Mißbrauch verhindernden Weise möglichst eindeutig zuzuordnen. Dabei darf nicht nur der Streitfall gesehen werden, in dem der Sohn der Kläger als leiblicher Vater des Kindes wegen fehlenden Einkommens im Streitjahr keine Vorteile von einem ihm zustehenden Kinderfreibetrag haben konnte. Die Maßstäbe für die Zuordnung des Kindes zu den Pflegeeltern müssen vielmehr auch für vergleichbare Fälle Bestand haben, in denen die leiblichen Eltern ein eigenes Einkommen haben, das zu erheblichen steuerlichen Auswirkungen des Kinderfreibetrages bei ihnen führen würde.

Wann die Pflegeeltern gegenüber dem Kind gleichsam an die Stelle der leiblichen Eltern treten, weil das Obhuts- und Pflegeverhältnis des Kindes zu den leiblichen Eltern abgerissen ist, läßt sich nicht einheitlich für alle in Betracht kommenden Fälle, sondern nur im Einzelfall beurteilen. Als entscheidende Kriterien hat der erkennende Senat in seinen Urteilen in BFHE 165, 201, BStBl II 1992, 20 und in BFH/NV 1992, 589 das Alter des Kindes, die Anzahl und Dauer der Besuche der leiblichen Eltern bei dem Kind sowie die Frage angesehen, ob und inwieweit vor der Trennung bereits ein Obhuts- und Pflegeverhältnis des Kindes zu den leiblichen Eltern bestanden hat. An diesen Kriterien hält der Senat fest. Dabei kann die Gewichtung der Kriterien je nach Lage des Falles unterschiedlich sein und es können auch andere Umstände eine Rolle spielen.

Im Streitfall hat die Tatsache besonderes Gewicht, daß das Kind, als es von den Klägern in ihre Obhut und Pflege genommen wurde, erst drei Jahre alt war. Zwischen einem dreijährigen Kind, das bis dahin bei seinen leiblichen Eltern gelebt hat, wird zwar in der Regel bereits ein intensives Obhuts- und Pflegeverhältnis zu diesen leiblichen Eltern bestehen. Ein solches Kind braucht aber noch so viel Fürsorge und Zuwendung, daß es verhältnismäßig schnell ein im wesentlichen ausschließliches Obhuts- und Pflegeverhältnis zu Pflegeeltern aufbauen wird, wenn diese das Kind wie ein eigenes Kind bei sich aufnehmen. Gelegentliche Besuche des Kindes durch den leiblichen Vater oder die leibliche Mutter, die wie im Streitfall weniger als einmal im Monat erfolgen, werden dann in der Regel nicht ausreichen, um noch ein wirklich fortbestehendes Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den leiblichen Eltern oder einem Elternteil annehmen zu können. Dabei ist zu berücksichtigen, daß für ein so kleines Kind anders als etwa für wesentlich ältere Kinder briefliche oder telefonische Kontakte zu den von ihm getrennten leiblichen Eltern allenfalls sehr beschränkt möglich sind. Im Streitfall kann daher angenommen werden, daß die Kläger nach der Aufnahme des Enkelkindes in ihren Haushalt im Laufe der Zeit wie Ersatzeltern für das Kind geworden sind, weil das Kind zu seiner leiblichen Mutter überhaupt keine Kontakte mehr und zu seinem Vater nur noch geringe Kontakte hatte.

Entgegen der Auffassung des FG ist es unerheblich, daß möglicherweise ab April 1990, als der Sohn der Kläger auf deren Grundstück zog, wieder ein Obhuts- und Pflegeverhältnis des Kindes zu dem Sohn der Kläger entstanden ist. § 32 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 2 EStG setzt nicht voraus, daß das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den leiblichen Eltern endgültig --ohne Aussicht auf Wiederaufnahme-- nicht mehr besteht. Eine andere Auslegung, für die es im Wortlaut der Bestimmung keine Anhaltspunkte gibt, würde Fällen nicht gerecht, in denen Pflegeeltern ein Kind von noch sehr jungen leiblichen Eltern übernehmen, deren weiterer Lebensweg noch nicht absehbar ist und denen mit der Übernahme des Kindes gerade geholfen werden soll, eine Existenz aufzubauen, die es ihnen erlaubt, später einmal die Obhut und Pflege für das Kind erstmals oder wieder selbst zu übernehmen. Der Senat hat demgemäß in seinen Urteilen in BFHE 165, 201, BStBl II 1992, 20 und in BFH/NV 1992, 589 als selbstverständlich vorausgesetzt, daß ein Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den leiblichen Eltern auch dann nicht mehr bestehen kann, wenn später möglicherweise ein solches Obhuts- und Pflegeverhältnis wieder aufgenommen wird. In den Urteilsfällen ging es nämlich um sehr junge, alleinerziehende Elternteile, bei denen nicht absehbar war, ob sie ihr Kind später einmal (etwa nach Abschluß ihrer Ausbildung) zu sich nehmen würden. Trotzdem hat es der Senat für möglich gehalten, daß kein Obhuts- und Pflegeverhältnis des Kindes zu dem alleinerziehenden Elternteil mehr bestand.

Allerdings hat der Senat in diesen Entscheidungen andererseits betont, daß ein zwischen einem alleinerziehenden Elternteil und seinem Kind im Kleinkindalter begründetes Obhuts- und Pflegeverhältnis nicht durch die vorübergehende Abwesenheit des Elternteils unterbrochen wird. Dieser Gesichtspunkt gilt auch, wenn der Elternteil nur vorübergehend (z.B. wegen einer schweren Erkrankung oder wegen einer beruflichen Abwesenheit) gehindert ist, sich in einem Maße um das Kind zu kümmern, wie es an sich für ein bestehendes Obhuts- und Pflegeverhältnis erforderlich ist. Solche vorübergehenden Verhinderungen führen noch nicht dazu, daß ein Obhuts- und Pflegeverhältnis zu dem leiblichen Kind nicht mehr besteht.

§ 32 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 2 EStG schreibt daher auch vor, daß die Pflegeeltern dem Pflegekind durch ein auf längere Dauer berechnetes familienähnliches Band verbunden sein müssen. Hierbei geht es zwar um die Sicht ("Berechnung") der Pflegeeltern, während es sich bei dem nicht mehr bestehenden Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen den leiblichen Eltern und dem Kind um ein die leiblichen Eltern betreffendes äußeres Tatbestandsmerkmal handelt. Dennoch wird auch das die leiblichen Eltern betreffende äußere Tatbestandsmerkmal von dem auf längere Dauer berechneten Band zwischen Pflegeeltern und Pflegekind geprägt. Denn es ist kaum denkbar, daß zwischen Pflegeeltern und Pflegekind ein auf längere Dauer berechnetes familienähnliches Band besteht, wenn die leiblichen Eltern von vornherein nur verhältnismäßig kurzfristig (vorübergehend) an der Wahrung des Obhuts- und Pflegeverhältnisses gegenüber dem Kind verhindert sind. Auch dem Tatbestandsmerkmal des Nichtbestehens eines Obhuts- und Pflegeverhältnisses zwischen leiblichen Eltern und Pflegekind wohnt folglich ein Zeitmoment inne. Das ergibt sich im übrigen auch aus der obigen Erwägung, daß für ein dreijähriges Kind, das plötzlich nur noch sehr geringe Kontakte zu seinen leiblichen Eltern hat, erst im Laufe der Zeit die Pflegeeltern gleichsam an die Stelle der leiblichen Eltern treten werden.

Wie lange die Kontakte zwischen leiblichen Eltern und Kind im wesentlichen abbrechen müssen, damit ein Obhuts- und Pflegeverhältnis des Kindes zu den leiblichen Eltern nicht mehr besteht, wird von Fall zu Fall unterschiedlich sein. Im Interesse einer möglichst gleichmäßigen Handhabung sieht es der Senat jedoch als vertretbar an, bei nicht schulpflichtigen Kindern im Regelfall dann kein bestehendes Obhuts- und Pflegeverhältnis des Kindes zu den leiblichen Eltern mehr anzunehmen, wenn zwischen den leiblichen Eltern und dem Kind mindestens ein Jahr lang keine für die Wahrung des Obhuts- und Pflegeverhältnisses ausreichenden Kontakte bestehen. Bei schulpflichtigen Kindern mag ein größerer Zeitraum (etwa zwei Jahre) erforderlich sein, um einen Abbruch des Obhuts- und Pflegeverhältnisses zu vermuten (vgl. Hönsch, Erziehungs- und Kindergeldrecht, 2. Aufl., Erläuterungen zum Bundeskindergeldgesetz, Rz. 368, zur Praxis der Arbeitsämter, wonach bei einer vorgesehenen Dauer von mindestens zwei Jahren von einem Pflegekindschaftsverhältnis mit Kindergeldberechtigung ausgegangen wird, während bei einem beabsichtigten Zeitraum zwischen einem und zwei Jahren auf die Umstände des Einzelfalls abgestellt wird). Bei noch älteren Kindern wird sich überhaupt kein fester Zeitraum mehr nennen lassen.

Der Sohn der Kläger hat jedenfalls über einen Zeitraum von erheblich mehr als einem Jahr (von Oktober 1988 bis März 1990) keine für die Wahrung eines Obhuts- und Pflegeverhältnisses ausreichenden Kontakte zu seinem nicht schulpflichtigen Kind gehabt. Nach obigen Erwägungen steht den Klägern daher der Kinderfreibetrag für ihr Pflegekind zu.

2. Da den Klägern der Kinderfreibetrag für das Streitjahr zugesprochen wird, kommt es nicht auf die Frage an, ob eine Versagung des Kinderfreibetrages mit dem GG in Einklang stände. Der Senat braucht auch nicht über die von den Klägern erhobenen Verfahrensrügen zu entscheiden (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 126 Rdnr.13).

3. Der Antrag der Kläger, das Ruhen des Verfahrens gemäß § 74 FGO anzuordnen, bis das BVerfG über den Vorlagebeschluß des BFH in BFHE 171, 534, BStBl II 1993, 755 entschieden hat und der Gesetzgeber den Kinderfreibetrag entsprechend verfassungskonform umgesetzt hat, ist --mangels übereinstimmenden Antrags der Beteiligten, das Ruhen des Verfahrens anzuordnen-- als Antrag der Kläger auf Aussetzung des Verfahrens entsprechend § 74 FGO auszulegen.

Diesem Antrag kann jedoch nicht entsprochen werden.

Nach der Rechtsprechung des BFH sind Klageverfahren entsprechend § 74 FGO auszusetzen, wenn vor dem BVerfG ein nicht als aussichtslos erscheinendes Musterverfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm anhängig ist, dem FG zahlreiche Parallelverfahren (Massenverfahren) vorliegen und keiner der Beteiligten des Klageverfahrens ein besonderes berechtigtes Interesse an einer Entscheidung des FG über die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen gesetzlichen Regelung vor der Entscheidung des beim BVerfG anhängigen Verfahrens hat (Beschlüsse des BFH vom 7. Februar 1992 III B 24, 25/91, BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408; vom 18. September 1992 III B 43/92, BFHE 169, 110, BStBl II 1993, 123, und vom 25. August 1993 X B 32/93, BFHE 171, 412, BStBl II 1993, 797).

Im Streitfall sind die oben genannten Voraussetzungen nicht erfüllt.

Bei dem Vorlagebeschluß des Senats in BFHE 171, 534, BStBl II 1993, 755 geht es --anders als im Streitfall-- um die Verfassungsmäßigkeit des Kinderlastenausgleichs für ein Kind im Jahr 1987. Der Streitfall betrifft hingegen die Verfassungsmäßigkeit des Kinderlastenausgleichs für vier Kinder im Jahr 1988. Die Aussetzung eines Verfahrens wegen vor dem BVerfG anhängiger Musterverfahren ist aber nur dann gerechtfertigt, wenn die oder das Musterverfahren und das Verfahren, dessen Aussetzung in Frage steht, hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Streitfrage im wesentlichen gleichgelagert sind (Beschluß des erkennenden Senats vom 27. November 1992 III B 133/91, BFHE 169, 498, BStBl II 1993, 240). Diese Voraussetzung ist vor allem im Hinblick auf die unterschiedliche Anzahl der zu berücksichtigenden Kinder nicht gegeben.

Das Verfahren muß auch nicht nach Art. 100 Abs. 1 GG ausgesetzt werden, um eine Entscheidung des BVerfG über die Verfassungsmäßigkeit des Kinderlastenausgleichs für Eltern mit vier Kindern im Jahr 1988 einzuholen. Das BVerfG hat mit Beschluß vom 14. Juni 1994 1 BvR 1022/88 (BStBl II 1994, 909) entschieden, daß der Kinderlastenausgleich für Eltern mit drei und mehr Kindern in den Jahren 1986 und 1987 verfassungsgemäß war. Im Jahr 1988 haben sich zwar bei dem vorzunehmenden Vergleich zwischen steuerlicher Gesamtentlastung (bestehend aus den Kinderfreibeträgen und den --in fiktive Steuerfreibeträge umgerechneten-- Kindergeldzahlungen) einerseits und den jährlichen durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen für eine entsprechende Kinderzahl andererseits die Sozialhilfeleistungen gegenüber 1987 erhöht, während die steuerliche Gesamtentlastung gleich geblieben ist. Diese Erhöhung kann aber angesichts der vom BVerfG für zulässig gehaltenen Toleranzgrenze von 15 v.H. (vgl. auch Entscheidung des erkennenden Senats vom 14. Januar 1994 III R 194/90, BFHE 173, 528, BStBl II 1994, 429), bis zu der die steuerliche Gesamtentlastung die jährlichen durchschnittlichen Sozialhilfeleistungen für eine entsprechende Kinderzahl unterschreiten darf, nicht so erheblich sein, daß sie zu einer Verfassungswidrigkeit des Kinderlastenausgleichs für Eltern mit vier Kindern im Jahr 1988 führen könnte.

Dieser Kinderlastenausgleich ist erst recht verfassungsgemäß, wenn man die vom erkennenden Senat in seinem Vorlagebeschluß an das BVerfG in BFHE 171, 534, BStBl II 1993, 755 aufgestellten Grundsätze (s. auch Urteil des Senats in BFHE 173, 528, BStBl II 1994, 429) anwendet. Nach diesen Grundsätzen, an denen der Senat festhält, sind die Sozialhilfeleistungen für Kinder niedriger anzusetzen als sie in der Berechnung, die vom BVerfG seiner oben angeführten Entscheidung (ohne Anspruch auf Verbindlichkeit) zugrunde gelegt worden ist (vgl. dazu Beschluß des erkennenden Senats vom 4. August 1994 III B 190/90, BFHE 175, 97, BStBl II 1994, 900).

 

Fundstellen

Haufe-Index 65481

BStBl II 1995, 582

BFHE 177, 359

BFHE 1996, 359

BB 1995, 1577 (L)

DB 1995, 2050 (L)

DStR 1995, 1224-1225 (KT)

DStZ 1995, 727-728 (KT)

HFR 1995, 646-648 (LT)

StE 1995, 479 (K)

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