Leitsatz (amtlich)

Lohnsteuernachforderungsbescheide werden jedenfalls dann nicht formularmäßig i.S. von § 119 Abs.4 AO 1977 erlassen, wenn die verwendeten Formulare wesentlich ergänzt werden, z.B. durch die für die Ermessensausübung bestimmenden Erwägungen bei Lohnsteuerhaftungsbescheiden. Sie sind nicht deshalb nichtig, weil sie nicht die Unterschrift oder Namenswiedergabe einer in § 119 Abs.3 AO 1977 genannten Person enthalten. Allein aus diesem Grunde kann auch nicht ihre Aufhebung beansprucht werden.

 

Normenkette

AO 1977 § 119 Abs. 3-4, § 125 Abs. 1, § 127

 

Verfahrensgang

FG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 12.11.1980; Aktenzeichen V 50/79)

 

Tatbestand

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) führte bei der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) eine Lohnsteuer-Außenprüfung durch. Der Prüfer stellte u.a. fest, daß die Klägerin im Jahr 1974 Beiträge zur Zukunftssicherung ihrer Arbeitnehmer in Höhe von insgesamt 320 000 DM erbracht hat, ohne dafür Lohnsteuer anzumelden und abzuführen. Nach Abzug der Freibeträge gemäß § 2 Abs.3 Nr.2 der Lohnsteuer-Durchführungsverordnung (LStDV) verblieb ein geldwerter Vorteil von 310 640 DM, für den der Prüfer "nach § 35b LStDV" einen Pauschsteuersatz von 29,4 v.H. ermittelte. Über die gesamten Mehrsteuern, die noch andere, nicht streitige Punkte zum Gegenstand hatten, erließ das FA unter dem 19.April 1978 einen Haftungsbescheid, der den Haftungsbetrag im Tenor in einer Summe auswies und unter Bezugnahme auf § 42d des Einkommensteuergesetzes (EStG) anforderte. Dem Bescheid waren die Prüfungsfeststellungen als fester Bestandteil beigefügt; aus ihnen sind die einzelnen Nachforderungsgründe, ggf. nach Jahren aufgeteilt, zu entnehmen. Die Aktenverfügung des Haftungsbescheids ist mit der handschriftlichen Paraphe "B" gezeichnet. Der an die Klägerin übersandte Bescheid ist dagegen weder eigenhändig unterschrieben noch beglaubigt. Auf der letzten Seite ist ein Dienstsiegel in das verwendete Formblatt eingedruckt; dabei fehlt die Ortsbezeichnung.

Der Einspruch blieb erfolglos. Die Einspruchsentscheidung (Aktenverfügung) ist handschriftlich gezeichnet, die der Klägerin zugestellte Ausfertigung entsprechend beglaubigt.

Die Klage hatte aus formellen Gründen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) ging in seinem in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1981, 322 veröffentlichten Urteil davon aus, daß der angefochtene Haftungsbescheid nichtig sei, weil er nicht vom erlassenden Beamten eigenhändig unterschrieben sei. Es führte aus, ein schriftlicher Verwaltungsakt müsse gemäß § 119 Abs.3 der Abgabenordnung (AO 1977) die erlassende Behörde erkennen lassen und die Unterschrift oder die Namenswiedergabe einer dort näher bezeichneten Amtsperson enthalten. Mit dieser gesetzlichen Neuregelung sei die bisherige Rechtsprechung über die Entbehrlichkeit einer handschriftlichen Unterzeichnung oder eines Ausfertigungsvermerks überholt. Haftungsbescheide stünden den Steuerbescheiden gleich; gemäß § 155 Abs.1 Satz 2 AO 1977 müsse deshalb als Haftungsbescheid der der Klägerin bekanntgegebene Bescheid angesehen werden, nicht die Aktenverfügung. Daraus folge zwingend, daß Unterschrift oder Namenswiedergabe auf dem bekanntgegebenen Bescheid angebracht sein müßte. Eine Paraphe auf der Aktenverfügung könne schon aus diesem Grunde kein Ersatz dafür sein. Im übrigen ersetze eine Paraphe die Unterschrift nicht.

Auf Unterschrift oder Namenswiedergabe habe auch nicht gemäß § 119 Abs.4 Satz 1 AO 1977 verzichtet werden können. Zwar habe das FA als Deckblatt des Bescheides einen Vordruck verwendet und diesen mit den individuellen Merkmalen der Klägerin versehen. Durch die Beifügung des Prüfungsberichts in Form einer festen Verbindung als Begründung des Verwaltungsakts sei diesem jedoch in jedem Fall die Eigenschaft eines formularmäßigen Verwaltungsaktes genommen.

Das Fehlen der nach § 119 Abs.3 AO 1977 notwendigen Merkmale führe gemäß § 125 Abs.1 AO 1977 zur Nichtigkeit. Das ergebe sich aus verwaltungsrechtlichen Grundsätzen, insbesondere der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG). Daß es sich um einen besonders schwerwiegenden Fehler handle, folge auch aus § 119 Abs.3 AO 1977 und der schwerwiegenden Bedeutung, die ein Steuer- oder Haftungsbescheid für den Betroffenen habe.

Die Nichtigkeit des Haftungsbescheides habe die Nichtigkeit der Einspruchsentscheidung zur Folge, obgleich diese nicht unter den gleichen Mängeln leide. Nichtige Verwaltungsakte könnten förmlich aufgehoben werden. Im Streitfall habe sich das FG aber auf die Lohnsteuer zu beschränken, weil die Anfechtung durch die Klägerin nur soweit reiche.

Mit der Revision rügt das FA Verletzung des § 119 Abs.4 sowie der §§ 125 und 127 AO 1977. Es vertritt die Auffassung, bei einem Lohnsteuerhaftungsbescheid handele es sich nicht um einen Verwaltungsakt im Sinne von § 119 Abs.3 AO 1977, sondern es müsse § 119 Abs.4 AO 1977 angewandt werden. Denn ein Lohnsteuerhaftungsbescheid enthalte keine Ermessensentscheidung, die einem Haftungsbescheid im Sinne von § 191 AO 1977 gleichzustellen sei. Lohnsteuerhaftungsbescheide würden vielmehr bei Nichtabgabe der Lohnsteuer-Anmeldung und nach Lohnsteuer-Außenprüfungen erlassen. Deshalb handele es sich nicht um Einzelfallentscheidungen. Die Finanzverwaltung sei darauf angewiesen, das Besteuerungsverfahren zu vereinfachen und habe deshalb für die Lohnsteuerhaftungsbescheide Formularvordrucke erstellt. Einem formularmäßigen Verwaltungsakt entspreche es, daß er durch Einzelangaben ergänzt werde. Dies sei hier geschehen.

Selbst wenn aber die Voraussetzungen des § 119 Abs.3 AO 1977 zu Unrecht nicht beachtet worden seien, sei dieser Fehler durch eine ordnungsmäßige Einspruchsentscheidung geheilt worden. Denn Erst- und Zweitbescheid stellten eine einheitliche Entscheidung dar. Schließlich handele es sich auf keinen Fall um einen besonders schwerwiegenden Mangel, der die Nichtigkeitsfolge rechtfertigen würde. Denn weder liege eine unerträgliche Rechtswertverletzung vor, noch sei ein besonders schwerwiegender Fehler aus dem Verwaltungsakt selbst offenkundig erkennbar. Allenfalls könne ein Fehler im Sinne des § 127 AO 1977 angenommen werden.

Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

1. Entgegen der Auffassung des FG ist der angefochtene Bescheid nicht nichtig, sondern nur anfechtbar.

a) Nichtig wäre der Bescheid, wenn er die erlassende Behörde nicht erkennen ließe (§ 125 Abs.2 Nr.1 AO 1977). Das ist hier jedoch nicht der Fall, ohne daß es darauf ankäme, ob es sich im Streitfall tatsächlich um einen Haftungsbescheid handelt und ob bei einem Haftungsbescheid das Aktenstück oder entsprechend § 155 Abs.1 Satz 2 AO 1977 der bekanntgegebene Bescheid als der Verwaltungsakt i.S. des Gesetzes anzusehen ist. Denn beide Schriftstücke weisen auf dem jeweils ersten Blatt oben links das FA als die erlassende Behörde aus.

b) Das Fehlen der Unterschrift macht den Bescheid nicht nichtig. Mit dem FG geht der Senat allerdings davon aus, daß der angefochtene Bescheid gemäß § 119 Abs.3 AO 1977 die Unterschrift oder Namenswiedergabe des Behördenleiters, seines Vertreters oder seines Beauftragten hätte enthalten müssen. Ein formularmäßig erlassener schriftlicher Verwaltungsakt i.S. des § 119 Abs.4 AO 1977 bedarf zwar keiner Unterschrift oder Namenswiedergabe. Um einen solchen Verwaltungsakt handelt es sich hier aber nicht. Formularmäßig ergehen Bescheide, für die ein Formular verwendet wird, das ausgefüllt werden kann, aber nicht wesentlich abgeändert werden darf (Tipke/Kruse, Abgabenordnung- Finanzgerichtsordnung, 11.Aufl., § 119 AO 1977 Tz.4). Für Haftungsbescheide trifft dies regelmäßig schon deshalb nicht zu, weil nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs --BFH-- (Urteil vom 18.September 1981 VI R 44/77, BFHE 134, 149, BStBl II 1981, 801) grundsätzlich die für die Ermessensausübung bestimmenden Erwägungen in den Bescheid aufgenommen worden sein müssen. Im vorliegenden Fall ergibt sich die Unanwendbarkeit des § 119 Abs.4 AO 1977 bereits daraus, daß das Formular des "Haftungsbescheids" durch eine umfangreiche Begründung in Form der "Prüfungsbemerkungen" ergänzt worden ist. Diese Ergänzung ist wesentlich, weil sie der Erläuterung des im Tenor in einer Summe ausgewiesenen und von der Klägerin gemäß § 42d EStG angeforderten Betrages dient.

Der Senat folgt damit im Ergebnis dem II.Senat des BFH, der in seinem amtlich nicht veröffentlichten Urteil vom 5.Dezember 1984 II R 25/83 entschieden hat, daß ein Bescheid i.S. des § 119 Abs.3 AO 1977 nicht deshalb nichtig sei, weil Unterschrift oder Namenswiedergabe der in dieser Vorschrift genannten Personen fehlen.

Nach Ansicht des erkennenden Senats handelt es sich insoweit nicht um einen besonders schwerwiegenden und offenkundigen Fehler i.S. des § 125 Abs.1 AO 1977. Denn es läßt sich nicht sagen, daß ein Bescheid ohne Unterschrift oder Namenswiedergabe unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt ergehen könnte (vgl. dazu Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14.Aufl., § 125 AO 1977 Bem.1 b). Vielmehr gibt es, wie § 119 Abs.4 AO 1977 zeigt, im Bereich der AO 1977 auch Verwaltungsakte, die nicht unterschrieben zu werden brauchen (vgl. Tipke/Kruse, a.a.O., § 119 AO 1977 Tz.4; Kühn/Kutter/Hofmann, a.a.O., § 119 AO 1977 Bem.5). Insbesondere ist hier auch ein Umkehrschluß aus § 125 Abs.2 Nr.1 AO 1977 gerechtfertigt. Denn man muß davon ausgehen, daß der Gesetzgeber, hätte er das Fehlen von Unterschrift oder Namenswiedergabe als Nichtigkeitsgrund angesehen, dies ebenso ausgesprochen hätte wie für den ausschließlich auf die Erkennbarkeit der erlassenden Behörde abstellenden Nichtigkeitsgrund des § 125 Abs.2 Nr.1 AO 1977 (vgl. Meyer/Borgs, Verwaltungsverfahrensgesetz, § 37 Rdnr.23 für die entsprechende Vorschrift des § 44 Abs.2 Nr.2 VwVfG).

An dieser Entscheidung ist der Senat nicht durch das Urteil des BSG vom 26.Mai 1964 9 RV 218/63 (BSGE 21, 79) gehindert. Dort ging es um eine --begünstigende Verwaltungsakte betreffende-- Rücknahmeverfügung. Das BSG entschied, die Rücknahme habe schriftlich erfolgen müssen und die nicht mit einer Unterschrift versehene Rücknahmeverfügung sei nichtig. Dabei handelte es sich jedoch nicht um dieselbe Rechtsfrage wie hier (§ 2 I des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes --RsprEinhG--). Denn die Entscheidung des BSG ist nicht zu den Verfahrensvorschriften der AO 1977 ergangen. Sie konnte auch noch nicht die --insoweit inhaltsgleichen-- Vorschriften des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) berücksichtigen, weil diese damals noch nicht galten.

2. Wegen der fehlenden Unterschrift bzw. Namenswiedergabe kann der angefochtene Bescheid auch nicht aufgehoben werden.

Nach § 127 AO 1977 kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts, der nicht nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können. Bei Ermessensentscheidungen, wie sie in Lohnsteuerhaftungsbescheiden zu treffen sind, wirkt sich hier die beschränkte gerichtliche Nachprüfbarkeit aus (§ 102 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Dies mag dazu führen, daß Ermessensentscheidungen, die mit einem Verfahrens- oder Formfehler behaftet sind, in der Regel aufgehoben und nach erneuter Ausübung des Ermessens durch die Behörde noch einmal erlassen werden müssen (Spanner in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8.Aufl., § 127 AO 1977 Anm.12 unter Berufung auf den Einführungserlaß zu § 127). Der Senat ist aber der Auffassung, daß dies nicht gilt, wenn der gerügte Mangel unter keinen Umständen die Entscheidung durch die zuständige Behörde beeinflußt haben kann. Denn § 127 AO 1977 will die Aufhebung dann ausschließen, wenn der Fehler für die Entscheidung der Behörde nicht kausal geworden sein kann (vgl. auch Tipke/Kruse, a.a.O., § 127 AO 1977 Tz.5; Kühn/Kutter/Hofmann, a.a.O., § 127 AO 1977 Bem.4). So liegt der Fall hier. Denn es ist praktisch ausgeschlossen, daß der Inhalt des angefochtenen Bescheids, auch wenn es sich um einen Haftungsbescheid (und nicht etwa um einen Bescheid über pauschale Lohnsteuer) gehandelt hat, durch die fehlende Unterschrift oder Namenswiedergabe des Behördenleiters, seines Vertreters oder seines Beauftragten beeinflußt worden sein kann.

3. Die Vorentscheidung ist aufzuheben, weil sie den vorstehenden Rechtsgrundsätzen nicht entspricht. Da die Sache nicht entscheidungsreif ist, ist sie gemäß § 126 Abs.3 Nr.2 FGO an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 61064

BStBl II 1986, 169

BFHE 144, 240

BFHE 1986, 240

BB 1986, 1146-1147 (ST)

DB 1985, 2386-2387 (ST)

HFR 1986, 2-3 (ST)

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