Entscheidungsstichwort (Thema)

Einkommensteuer, Lohnsteuer, Kirchensteuer

 

Leitsatz (amtlich)

Zum Begriff des Pflegekindschaftsverhältnisses.

 

Normenkette

EStG § 32/4/4/f; EStG § 32/2/3/f

 

Tatbestand

Die ledige Beschwerdeführerin (Bfin.) betreibt ein von ihren Eltern übernommenes Fotografengeschäft. Sie hat den 1937 geborenen Sohn ihres Bruders, dessen Ehe 1940 geschieden worden ist, seit dem Auseinandergehen der Ehegatten im Jahre 1939 in ihren Haushalt aufgenommen, für ihn gesorgt und ihn aufgezogen. Strittig ist für die Einkommensteuer II/1948 und 1949, ob der von der Bfin. betreute Neffe als deren Pflegekind im Sinne des § 32 Abs. 4 Nr. 4 f des Einkommensteuergesetzes (EStG) anzusehen ist und der Bfin. deshalb Kinderermäßigung im Rahmen der Steuerklasse III/I zusteht, oder ob sie in die Steuerklasse I fällt.

Die Vorbehörden haben das Vorliegen eines Pflegekindschaftsverhältnisses verneint. Das Finanzgericht führt hierzu aus: Ein Pflegekindschaftsverhältnis könne nur dann angenommen werden, wenn das Kind mit Zustimmung seiner leiblichen Eltern für die Dauer aus ihrer Obhut und Fürsorge ausgeschieden und in die Fürsorge und in den Haushalt der Bfin. übergetreten wäre. Dies sei jedoch nicht der Fall. Die Sorge für die Person des Kindes sei nach der Ehescheidung dem Vater des Kindes durch einen Beschluß des Amtsgerichts im Februar 1942 übertragen worden. Die Bfin. habe sich zwar im April 1941 bei ihrer Vernehmung vor dem Amtsgericht dahin geäußert, sie hänge sehr an dem Kind und erkläre sich bereit, auch fernerhin das Kind auf das gewissenhafteste zu pflegen; sie habe auch bisher für Kleider und Wäschebeschaffung gesorgt. Das genüge aber nicht, das Kind als ein Pflegekind anzusehen, denn die Aufnahme des Kindes in den Haushalt der Bfin. und ihrer Eltern sei 1939 erfolgt, weil die Eltern des Kindes getrennt lebten. Als der Vater des Kindes im April 1941 zum Wehrdienst einberufen worden sei, habe er der Bfin. versprochen, ihr sämtliche Aufwendungen für das Kind zu erstatten, wenn er zurückkomme. Schon daraus sei zu ersehen, daß an eine Vereinbarung eines auf die Dauer bestimmten Pflegekindschaftsverhältnisses nicht gedacht gewesen sei. Dies werde auch durch die Erklärung des Vaters gegenüber dem Finanzamt bestätigt, nach der sich das Kind seit seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft nicht mehr mit seinem Einverständnis im Haushalt der Bfin. aufhalte; er habe sein Kind bereits mehrfach zurückgefordert, die Bfin. habe jedoch bis jetzt die Herausgabe verweigert.

Die Rechtsbeschwerde (Rb.) rügt Verkennung des Begriffs "Pflegekind" und unzureichende Sachaufklärung. Das Kind befindet sich seit 1939 mit dem ausdrücklichen Willen des Vaters bei der Bfin. Diese habe seitdem, also seit 13 Jahren, mit Ausnahme von kleinen Geldgeschenken das Kind aus eigenen Mitteln ernährt, gekleidet, gesundheitlich gepflegt und erzieherisch versorgt. Der Vater habe bewußt und gewollt nicht einen Pfennig für sein Kind aufgebracht. Die Bfin. habe nicht nur ihr Einkommen, sondern auch ihr ganzes persönliches Leben dem Kind geopfert, ihr müsse deshalb die gleiche steuerliche Vergünstigung zustehen wie dem leiblichen Vater. Es sei im übrigen nicht richtig, daß der Vater das Kind herausverlangt habe. Der dafür angebotene Gegenbeweis sei nicht erhoben worden. Die Bfin. hätte sich einem solchen Begehren des Vaters auch notfalls mit gerichtlicher Hilfe widersetzt, zumal der Vater vor seiner Wiederverheiratung gar nicht in der Lage gewesen sei, das Kind ordnungsgemäß zu versorgen; die jetzige Ehefrau des Vaters denke auch gar nicht daran, das Kind aufzunehmen. Das Kind selbst sei gegen eine Trennung von der Bfin., das Vormundschaftsgericht würde unter diesen Umständen eine Trennung auch nicht herbeiführen, die zudem das geistige und leibliche Wohl des Kindes gefährden würde.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. ist begründet.

Die Vorbehörden gehen zwar an sich richtig von dem von der Rechtsprechung entwickelten Begriff des Pflegekindschaftsverhältnisses aus. Doch kann ihnen nicht gefolgt werden, wenn sie für den zu entscheidenden Fall ein solches Verhältnis auf Grund der von ihnen angegebenen Tatbestandsmerkmale verneinen.

Zunächst kommt es auf den Umstand, daß dem Vater die Sorge für die Person des Kindes gerichtlich übertragen worden ist, nicht an. Die Sorge für die Person des Kindes kann gerade auch darin bestehen, daß es einer dritten Person als Pflegekind überlassen wird.

Das Finanzgericht verneint das Pflegekindschaftsverhältnis hauptsächlich deshalb, weil es sich um keine Unterbringung für die Dauer handle und eine Zustimmung des Vaters für die strittigen Veranlagungszeiträume nicht vorliege. Das sich aus dem Inhalt der Akten ergebende Gesamtbild der Verhältnisse rechtfertigt diese Schlußfolgerungen nicht. Wie die Bfin. mit Recht betont, hat sie tatsächlich das Kind von dessen drittem Lebensjahr an in ihrem Haushalt aufgezogen, und an diesem Zustand hat sich offenbar bis jetzt noch nichts geändert. Unzweifelhaft war der Vater zunächst mit der Unterbringung seines Sohnes bei seiner Schwester einverstanden. Er hat entgegen seiner ursprünglichen Absicht, den zunächst vorübergehenden Zustand (nämlich für die Dauer seines Wehrdienstes) nach Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft (1946) nicht beendet, ist offenbar auch seiner ursprünglichen Zusage, der Schwester die Unkosten zu ersetzen, nicht nachgekommen. Hätte er nach seiner Zusage gehandelt, so wäre der damals schon etwa sieben Jahre anhaltende Aufenthalt des Kindes schon bei seiner Schwester vielleicht noch als eine Art Kostkinderverhältnis bezeichnet werden können. Der Vater des Kindes hat jedoch auch nach seiner Heimkehr aus der Kriegsgefangenschaft nichts Ernstliches unternommen, um den bisherigen Zustand abzuändern. Man muß also unterstellen, daß er mit der bisherigen Regelung im praktischen Ergebnis weiter einverstanden war. Wenn also auch die Aufnahme des Kindes in den Haushalt seiner Tante zunächst nur als vorübergehend geplant war so ist diese ursprüngliche Absicht tatsächlich nicht durchgeführt worden. Beide Teile habe es vielmehr bei dem zunächst vorübergehenden Zustand belassen und diesem damit den Charakter eines Dauerzustands verliehen. Der Begriff des Dauerzustands verlangt nicht etwa eine vertragsähnliche Festlegung dahin, daß er überhaupt nicht geändert werden dürfe; es kann viel mehr ein für die Annahme der Pflegekindschaft genügender Dauerzustand auch dann gegeben sein, wenn nur unter gewissen Voraussetzungen mit einer vorzeitigen Beendigung dieses Zustands zu rechnen ist. Vgl. dazu auch Urteil des Reichsfinanzhofs VI A 101/36 vom 11. März 1936, Reichssteuerblatt - RStBl. - 1936 S. 695. Bei der Sachwürdigung bleibt stets zu beachten, daß das Pflegekindschaftsverhältnis seinem Wesen nach in erster Linie ein tatsächlicher Zustand ist und demgemäß Erklärungen rechtlicher Natur für sich allein diesen Zustand weder begründen noch beseitigen können.

Den ganzen für das Vorliegen eines Pflegekindschaftsverhältnisses sprechenden Umständen des Falles entspricht auch seine steuerliche Behandlung in den Vorjahren. Wie die Akten erkennen lassen, hat die Bfin. bereits seit dem Jahre 1943 die Kinderermäßigung für ihren Neffen beantragt. Dem Antrag wurde ohne besondere Begründung für 1943 bis 1945 allerdings noch nicht entsprochen. Für die Veranlagungszeiträume 1946, 1947 und I/1948 wurde ihr jedoch die Steuerklasse III/1 zuerkannt. Erst anläßlich der Veranlagung für II/1948 hat das Finanzamt seine Auffassung wieder geändert, und zwar nach einer fernmündlichen - in einem Aktenvermerk vom 5. Juni 1951 festgehaltenen - Rücksprache mit dem Vater des Kinder, in der dieser behauptete, sein Kind werde ihm zu Unrecht von seiner Schwester vorenthalten, sie versuche mit allen Mitteln, ihm das Kind zu entfremden; Unterhaltszahlungen leiste er nicht, da diese von seiner Schwester abgelehnt würden. Unter dem Aktenvermerk findet sich ein weiterer Hinweis, daß der Vater des Kindes bei seiner eigenen Einkommensteuerveranlagung für II/1948 und 1949 Kinderermäßigung erhalten hat. Dieser Vorgang legt den Schluß nahe, daß sich das Finanzamt bei der Verneinung des Pflegekindschaftsverhältnisses auch von der Erwägung hat beeinflussen lassen, daß eine doppelte Kinderermäßigung für dasselbe Kind (sowohl für den Vater als auch für die Pflegemutter) nach Möglichkeit vermieden werden müsse. Dieser Gesichtspunkt darf jedoch bei der Beurteilung der hier strittigen Frage nicht entscheidend berücksichtigt werden. Der Gesetzgeber selbst hat von der früheren Voraussetzung für eine Kinderermäßigung, dem Tatbestand der Haushaltszugehörigkeit, bewußt abgesehen und die niedrigere Steuerklasse nur von dem Vorhandensein eines Kindes bzw. Pflegekindes abhängig gemacht. In den Einkommensteuer-Richtlinien (EStR) II/1948 und 1949 Abschn. 196 Abs. 2 ist in Beispiel A gerade ein derartiger Fall doppelter Kinderermäßigung aufgeführt worden.

Nach den vorhergehenden Darlegungen kann auch aus der - in ihrem Inhalt übrigens von der Bfin. bestrittenen - Sachdarstellung des Vaters des Kindes noch keineswegs der Schluß gezogen werden, daß der zunächst lediglich auf dem Papier stehende etwaige Wunsch des Vaters, den bisher von ihm gutgeheißenen Zustand beendigen zu wollen, ausreicht, um das mit Recht in den Vorjahren steuerlich anerkannte Pflegekindschaftsverhältnis ohne tatsächliche Veränderung der Verhältnisse für beseitigt zu erklären. Man muß vielmehr grundsätzlich davon ausgehen, daß ein einmal begründetes Pflegekindschaftsverhältnis so lange weiterbesteht, bis ein etwaiger entgegengesetzter Wille des für die Person des Kindes verantwortlichen Elternteils in die Tat umgesetzt wird. Da das letztere im vorliegenden Falle in den strittigen Veranlagungszeiträumen nicht geschehen ist, liegt kein Grund vor, für II/1948 und 1949 der Bfin., die zum weitaus größten Teil die gesamte Erziehung des Kindes auf ihre Kosten durchgeführt hat, die weiterhin begehrte Kinderermäßigung abzusprechen.

Da sonach die Vorbehörde die sich aus dem Akteninhalt ergebende Rechtslage verkannt hat, war die Vorentscheidung aufzuheben.

Der Senat trägt keine Bedenken, in der hinreichend geklärt erscheinenden Sache unter Aufhebung auch des Steuerbescheides und der Einspruchsentscheidung selbst zu erkennen. Bei Anwendung der Steuerklasse III/1 ergibt sich für II/1948 an Stelle der bisherigen Einkommensteuer von 67 DM eine solche von 20 DM, für 1949 an Stelle von 243 DM eine solche von 82 DM.

 

Fundstellen

Haufe-Index 407554

BStBl III 1953, 74

BFHE 1954, 186

BFHE 57, 186

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