Entscheidungsstichwort (Thema)

Beachtung von Billigkeitsmaßnahmen der Verwaltung durch die Gerichte

 

Leitsatz (amtlich)

Billigkeitsmaßnahmen der Verwaltung zur Anpassung der Verwaltungspraxis an eine von der bisherigen Verwaltungsmeinung abweichende Rechtsauffassung sind von den Gerichten jedenfalls dann zu beachten, wenn sie vom FA im Rahmen der Steuerfestsetzung getroffen wurden und bestandskräftig geworden sind.

 

Normenkette

EStG §§ 3b, 20 Abs. 1 Nr. 1 S. 2; AO 1977 § 163

 

Verfahrensgang

FG des Saarlandes (Gerichtsbescheid vom 07.05.2002; Aktenzeichen 1 K 74/02; EFG 2002, 951)

 

Tatbestand

I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) ―zur Einkommensteuer zusammen veranlagte Ehegatten― erzielten in den Streitjahren 1995 bis 1997 als Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Die GmbH zahlte an sie u.a. auch pauschale Zulagen für Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit nach § 3b des Einkommensteuergesetzes (EStG).

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) verneinte im Anschluss an eine Lohnsteueraußenprüfung bei der GmbH die Steuerfreiheit dieser Bezüge. Dabei ging er davon aus, dass die Zuschläge als verdeckte Gewinnausschüttungen (vGA) zu behandeln seien. Mit den gegen die entsprechenden Einkommensteuerbescheide erhobenen Einsprüchen trugen die Kläger vor, dass es sich bei den ausgezahlten pauschalen Zulagen zwar nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) grundsätzlich um vGA handele, jedoch habe das Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 28. September 1998 IV B 7 -S 2742- 88/98 (BStBl I 1998, 1194) festgelegt, dass aus dieser Rechtsprechung keine nachteiligen steuerlichen Folgen zu ziehen seien, soweit die Zuschläge i.S. von § 3b EStG für vor dem 1. Januar 1998 endende Lohnzahlungszeiträume geleistet worden seien. Das FA hat daraufhin geänderte Einkommensteuerbescheide erlassen, in denen es nunmehr die an die Kläger ausgezahlten pauschalen Zulagen als steuerpflichtigen Arbeitslohn behandelte.

Die gegen diese Bescheide gerichteten Einsprüche blieben erfolglos. Zur Begründung führte das FA aus, dass die sachlichen Voraussetzungen des § 3b EStG nicht erfüllt seien. Es seien von der GmbH im Rahmen der Lohnsteueraußenprüfung weder Aufzeichnungen über die von den Klägern tatsächlich geleisteten Arbeitszeiten noch Einzelabrechnungen über die jeweiligen Zulagen vorgelegt worden; auch fehle es an einem finanziellen Ausgleich zwischen den gezahlten Pauschalen und den Lohnansprüchen für die tatsächliche geleisteten Arbeitszeiten.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab (Entscheidungen der Finanzgerichte ―EFG― 2002, 951). Sie sei schon deshalb unbegründet, weil nach der Rechtsprechung des BFH die in § 3b EStG genannten Zuschläge mit dem Aufgabenbild eines GmbH-Geschäftsführers nicht vereinbar seien. Die Zuschläge seien als vGA bei den Einkünften der Kläger aus Kapitalvermögen zu erfassen. Die Übergangsregelung des BMF binde die Gerichte nicht, wenn sie ―wie im Streitfall― nicht zu einer niedrigeren Steuerfestsetzung führe. Ein Billigkeitserweis, der darin bestehe, dass bei der Steuerfestsetzung Einzelaspekte nicht berücksichtigt würden, die sich zu Gunsten des Steuerpflichtigen auswirkten, sei keine Billigkeitsmaßnahme i.S. von §§ 163, 227 der Abgabenordnung (AO 1977).

Mit der ―vom FG zugelassenen― Revision rügen die Kläger Verletzung materiellen Rechts (§ 163 AO 1977, § 3b EStG). Bei dem BMF-Schreiben handele es sich um eine Billigkeitsmaßnahme gemäß § 163 AO 1977, die für die Gerichte verbindlich sei. Das FG habe deshalb seiner Entscheidung nicht die Rechtsprechung des BFH zur Anwendung des § 3b EStG auf GmbH-Geschäftsführer zugrunde legen dürfen, sondern berücksichtigen müssen, dass die Kläger die von § 3b EStG geforderten Nachweise erbracht hätten. Die hierzu vom FA in der Einspruchsentscheidung vertretene gegenteilige Auffassung sei unzutreffend.

Die Kläger beantragen, das Urteil des FG aufzuheben und der Klage stattzugeben.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―).

Das FG hat den Sachverhalt zutreffend im Einkommensteuerfestsetzungsverfahren und nicht im Billigkeitsverfahren beurteilt; es hätte in diesem Verfahren aber die sachlichen Voraussetzungen für die Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit nach § 3b EStG prüfen müssen. Die steuerrechtliche Qualifizierung der Zuschläge als vGA war ihm versagt. Es war an die Entscheidung des FA gebunden, den Sachverhalt auf der Grundlage des Übergangserlasses in BStBl I 1998, 1194 zu beurteilen.

1. Die an die Kläger gezahlten Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit sind nach der ständigen Rechtsprechung des BFH nicht gemäß § 3b EStG steuerfrei (BFH-Urteile vom 27. März 2001 I R 40/00, BFHE 195, 243, BStBl II 2001, 655, m.w.N.; BFH-Beschluss vom 10. Juli 2001 I B 14/00, BFH/NV 2001, 1608). Die Zuschläge sind nach Körperschaftsteuerrecht als vGA zu behandeln und damit nach Einkommensteuerrecht bei den Einkünften aus Kapitalvermögen und nicht bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit zu erfassen.

2. Die bisherige Verwaltungspraxis war mit dieser Rechtsprechung nicht vereinbar. Nach Abschn. 30 Abs. 1 Satz 2 der Lohnsteuer-Richtlinien (LStR) 1996 konnten auch Gesellschafter-Geschäftsführer einer GmbH mögliche Empfänger von nach § 3b EStG steuerbefreiten Zuschlägen sein; waren die Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht erfüllt, waren die Zuschläge bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit zu erfassen. Unter Bezugnahme auf das Ergebnis einer Erörterung mit den Obersten Finanzbehörden der Länder traf die Finanzverwaltung eine Übergangsregelung, nach der aus den Rechtsgrundsätzen der Rechtsprechung des BFH für Lohnzahlungszeiträume vor dem 1. Januar 1998 keine nachteiligen steuerrechtlichen Folgen zu ziehen seien.

Aufgrund dieser Regelung ging das FA unter Änderung der ursprünglichen Einkommensteuerbescheide, in denen es die Bezüge als vGA beurteilt hatte, in den angefochtenen Einkommensteuerbescheiden mit den Klägern davon aus, dass die Einkünfte aus Kapitalvermögen hinsichtlich der Zuschläge in solche aus nichtselbständiger Arbeit umzuqualifizieren seien.

3. An diese Beurteilung war das FG gebunden.

a) Billigkeitsmaßnahmen der Verwaltung zur Anpassung der Verwaltungspraxis an eine von der bisherigen Verwaltungsauffassung abweichende Rechtsauffassung können unter bestimmten Voraussetzungen auch von den Gerichten zu beachten sein (ständige Rechtsprechung, vgl. u.a. BFH-Urteil vom 28. November 1980 VI R 226/77, BFHE 132, 264, BStBl II 1981, 319; vom 31. Oktober 1990 I R 3/86, BFHE 163, 478, BStBl II 1991, 610; vom 18. November 1998 X R 110/95, BFHE 187, 488, BStBl II 1999, 225, unter II.3. der Gründe; vom 10. Oktober 2001 XI R 52/00, BFHE 196, 572, BStBl II 2002, 201, unter II.2. der Gründe; vom 8. August 2001 I R 25/00, BFHE 196, 485, BStBl II 2003, 923, unter II.1. der Gründe). Ob diese Voraussetzungen im Streitfall gegeben sind, kann der Senat offen lassen. Die Nichtberücksichtigung der vGA zu Gunsten einer Beurteilung der Zuschläge als steuerfreier Arbeitslohn war Gegenstand der von den Klägern gegen die Einkommensteuerbescheide erhobenen Einwendungen. In der Entscheidung des FA, den Einwendungen insoweit zu entsprechen, lag deshalb eine konkludent mit der Steuerfestsetzung verbundene Billigkeitsmaßnahme (zur Zulässigkeit der ―konkludenten― Verbindung von Steuerfestsetzung und Billigkeitsmaßnahme vgl. § 163 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 und dazu u.a. BFH-Urteile vom 21. September 2000 IV R 54/99, BFHE 193, 301, BStBl II 2001, 178, unter 2. der Gründe; in BFHE 196, 485, BStBl II 2003, 923; Tipke/Kruse, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 163 AO 1977 Tz. 25, m.w.N.).

Hätten ―aus der Sicht des FA― die Voraussetzungen des § 3b EStG vorgelegen, wäre die Einkommensteuer ohne Berücksichtigung der Zuschläge und damit niedriger als im angefochtenen Bescheid festzusetzen gewesen.

b) Diese Entscheidung musste das FG als verbindlich hinnehmen.

Die Steuerfestsetzung nach §§ 155 ff. AO 1977 und die abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen nach § 163 AO 1977 sind auch bei ihrer äußerlichen Verbindung zwei verschiedene Streitgegenstände, über die in verschiedenen Verfahren entschieden wird (ständige Rechtsprechung, vgl. u.a. BFH-Urteile vom 26. Oktober 1994 X R 104/92, BFHE 176, 3, BStBl II 1995, 297; in BFHE 187, 488, BStBl II 1999, 225, unter II.3. der Gründe; Beschluss vom 26. Mai 2000 XI E 1/00, BFH/NV 2001, 43). Die Billigkeitsmaßnahme ist Grundlagenbescheid für die Einkommensteuerfestsetzung und damit für diese verbindlich (§ 171 Abs. 10 AO 1977 und ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Urteile in BFHE 193, 301, BStBl II 2001, 178, unter 2. der Gründe; in BFHE 196, 485, BStBl II 2003, 923, jeweils m.w.N.). Davon ist auch im Streitfall auszugehen. Die Billigkeitsmaßnahme wurde bestandskräftig; sie ist von den Klägern nicht angefochten worden. Damit ist sie der gerichtlichen Prüfung auch dann entzogen, wenn sie den materiell-rechtlichen und formellen Anforderungen an eine Ermessensentscheidung nach § 163 AO 1977 nicht entsprochen haben sollte (BFH-Urteil in BFHE 196, 485, BStBl II 2003, 923).

4. Das FG ist von anderen Grundsätzen ausgegangen; sein Urteil war deshalb aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif; das FG hat keine Feststellungen dazu getroffen, ob die Voraussetzungen des § 3b EStG vorliegen. Sollte das der Fall sein, ist die von den Klägern begehrte abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen nach § 163 AO 1977 vorzunehmen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1153635

BFH/NV 2004, 1002

BStBl II 2004, 927

BFHE 2004, 270

BFHE 205, 270

BB 2004, 1265

BB 2004, 2169

DB 2004, 1297

DStR 2004, 955

DStRE 2004, 736

DStZ 2004, 430

HFR 2004, 724

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