Leitsatz (amtlich)

Das FA ist berechtigt, die nachzufordernde Lohnsteuer in Anlehnung an § 35b LStDV zu schätzen, wenn für gering beschäftigte und entlohnte Arbeitnehmer ohne Vorlage von Lohnsteuerkarten Bezüge gezahlt wurden, für die keine Lohnsteuer einbehalten und abgeführt wurde. Im Rahmen der vom FA nach § 7 Abs. 3 StAnpG zu treffenden Ermessensentscheidung kann aber die vorrangige Inanspruchnahme des Arbeitnehmers geboten sein, wenn damit gerechnet werden kann, daß seine Einkünfte unter der steuerpflichtigen Grenze lagen. Das setzt voraus, daß die Nachforderung nur einen oder wenige langfristig beschäftigte Arbeitnehmer betrifft, deren Anschriften bekannt sind und das Verhalten des Arbeitgebers bei der Versäumung des Steuerabzugs nicht grob leichtfertig war.

 

Normenkette

AO § 217; StAnpG § 7 Abs. 1, 3; EStG 1965/1967 § 39 Abs. 3 Nr. 1; EStG 1965/1967 § 42a Abs. 2 Nr. 3; LStDV 1965 §§ 35b, 37 Abs. 1; LStDV 1968 §§ 35b, 37 Abs. 1 Nr. 1

 

Tatbestand

Bei einer Lohnsteueraußenprüfung wurde festgestellt, daß der Kläger und Revisionskläger (Kläger) in den Streitjahren nacheinander verschiedene Putzhilfen beschäftigt hat, ohne von den gezahlten Löhnen Lohnsteuer einzubehalten und abzuführen. Lohnsteuerkarten lagen nicht vor, Lohnkonten wurden nicht geführt. Mit Lohnsteuerhaftungsbescheid vom 2. Juni 1971 forderte der Beklagte und Revisionsbeklagte (FA) für die Jahre 1965 bis 1968 pauschalierte Lohnsteuer und Kirchenlohnsteuer in Höhe von 741,20 DM nach. Einspruch und Klage gegen den Haftungsbescheid hatten keinen Erfolg.

Das FG ging in seinem Urteil davon aus, daß der Kläger nach § 37 Abs. 1 LStDV die Lohnsteuer bei seinen Putzhilfen ohne Berücksichtigung des Familienstandes oder sonstiger Freibeträge nach den Steuerklassen VI oder I der Lohnsteuertabelle hätte berechnen müssen, weil keine Lohnsteuerkarten vorgelegen haben. Nach §§ 39 Abs. 3 Nr. 1, 42a Abs. 2 Nr. 3 EStG, 35b Abs. 1 Nr. 1b LStDV könne die Lohnsteuer pauschaliert werden. Entgegen der Auffassung des Klägers sei die Pauschalierung nicht deshalb ausgeschlossen, weil es sich bei den gezahlten Löhnen um geringe Beträge handele, die bei ordnungsmäßiger Vorlage der Lohnsteuerkarten keine Lohnsteuer ausgelöst hätten. Gegen eine solche Auslegung spreche der eindeutige Wortlaut des § 35b LStDV. Der Arbeitgeber könne, bevor er von der Pauschalierung Gebrauch mache, im Einzelfall prüfen, ob nach den allgemeinen Vorschriften überhaupt Lohnsteuer einzubehalten sei. Bei gering bezahlten Aushilfskräften werde das oft nicht der Fall sein. In diesen Fällen dürfte es jedoch keine Schwierigkeiten bereiten, die Aushilfskräfte zur Vorlage von Lohnsteuerkarten zu bewegen. Werde indessen keine Lohnsteuerkarte vorgelegt, so bedeute es keinen Rechtsmißbrauch, wenn ohne Rücksicht auf die Höhe der gezahlten Löhne die Pauschalbesteuerung durchgeführt werde. Dem FA müsse es überlassen bleiben, ob es in Bagatellfällen die nach dem Gesetz entstandenen Steueransprüche verfolgen wolle. Hier liege im übrigen aber ein derartiger Fall nicht vor.

Mit der wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision rügt der Kläger Rechtsungültigkeit der Regelung in § 35b Abs. 1 Nr. 1b LStDV (Abschn. 52c LStR). Im Wege der Pauschalbesteuerung könnten nicht unterhalb der Freigrenze liegende Löhne deshalb versteuert werden, weil keine Lohnsteuerkarten vorgelegen hätten. Etwas anderes ergebe sich auch nicht bei verfassungskonformer Auslegung des § 39 Abs. 3 Nr. 1 EStG. Die Forderung der Verwaltung nach Vorlage der Lohnsteuerkarten könne nicht durch die Pauschalierung der Lohnsteuer erzwungen werden, zumal das Arbeitnehmer mit den kleinsten Einkommen treffe. Es sei unverständlich, von einem 70jährigen Mann, der jeweils eine Raumpflegerin beschäftigt habe, die Führung eines Lohnkontos unter Hinweis auf § 31 LStDV zu verlangen.

Der Kläger beantragt Aufhebung des angefochtenen Urteils, der Einspruchsentscheidung und des Haftungsbescheids.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet.

Es ist daran festzuhalten, daß der Kläger den Lohnsteuerabzug nicht deshalb unterlassen durfte, weil die Putzhilfen auf das Kalenderjahr gesehen u. U. lohnsteuerfrei geblieben wären. Eine derartige Entscheidung kann dem Arbeitgeber nicht eingeräumt werden (Urteil des BFH vom 24. November 1961 VI 183/59 S, BFHE 74, 97, BStBl III 1962, 37). Der Kläger war verpflichtet, bei schuldhafter Nichtvorlage der Lohnsteuerkarten die Steuern für die Streitjahre nach der Steuerklasse VI einzubehalten und abzuführen (§ 37 Abs. 1 LStDV 1965, § 37 Abs. 1 Nr. 1 LStDV 1968, § 39 Abs. 3 Nr. 1 EStG 1965 und 1967). Diese Verpflichtung wurde auch nicht durch die Verordnung zur Änderung und Ergänzung der Verordnung über den Lohnsteuer-Jahresausgleich vom 18. Dezember 1959 (BGBl I 1959 S. 770, BStBl I 1959, 1053) berührt. Nach § 1 der Verordnung über den Lohnsteuer-Jahresausgleich in der seit 1959 geltenden Fassung hat das FA zwar keine Möglichkeit mehr, die dem Arbeitnehmer wegen der Verletzung seiner Mitwirkungspflicht zunächst zu hoch einbehaltene Lohnsteuer als zusätzliche Strafsteuer von einer Erstattung auszunehmen. Diese Regelung kann sich auf das Lohnsteuerhaftungsverfahren aber grundsätzlich nur dahin auswirken, daß das FA vom Arbeitgeber nicht eine nach § 37 Abs. 1 LStDV errechnete Steuer fordern darf (BFH-Urteil vom 18. Dezember 1963 VI 81/63 U, BFHE 78, 369, BStBl III 1964, 142). Dagegen bleibt es dem FA unbenommen, in diesen Fällen die nachzufordernde Lohnsteuer zu schätzen, soweit die Voraussetzungen des § 217 AO gegeben sind, und dabei die Regelung in § 35b LStDV als brauchbare Schätzungsmethode heranzuziehen.

Der Haftungsbescheid kann aber aus einem anderen Grunde keinen Bestand haben. Er verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 40 Abs. 2 FGO), weil das FA nicht geprüft hat, ob es die Lohnsteuer nicht von den Arbeitnehmerinnen selbst anfordern sollte. Nach § 7 Abs. 1 StAnpG sind Personen, die dieselbe steuerrechtliche Leistung schulden oder nebeneinander für dieselbe steuerrechtliche Leistung haften, Gesamtschuldner. Ein derartiges Gesamtschuldverhältnis besteht zwischen dem Kläger und den von ihm beschäftigten Putzhilfen. Nach § 7 Abs. 3 StAnpG steht es dem FA zwar frei, an welchen Gesamtschuldner es sich halten will. Der Senat hat jedoch für das Verhältnis zwischen der Inanspruchnahme des Arbeitnehmers oder des Arbeitgebers in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß das FA die Wahl, an welchen Gesamtschuldner es sich halten will, nach pflichtgemäßem Ermessen unter Beachtung der durch Recht und Billigkeit gezogenen Grenzen zu treffen hat (so z. B. Urteil vom 5. Februar 1971 VI R 82/68, BFHE 101, 389, BStBl II 1971, 353). Das setzt grundsätzlich voraus, daß das FA in eine entsprechende Prüfung eingetreten ist. Diese ist nur dann nicht erforderlich, wenn das FA im Lohnsteuerhaftungsverfahren die Pauschalbesteuerung unter Übernahme der Steuer durch den Arbeitgeber zugelassen hat (BFH-Urteil vom 5. April 1974 VI R 110/71, BFHE 112, 463, BStBl II 1974, 664). Ein derartiger Ausnahmefall liegt hier aber nicht vor, denn die pauschale Besteuerung erfolgte nicht auf Antrag des Klägers, sondern war nur eine mögliche Schätzung der nachzufordernden Lohnsteuer durch das FA.

Ausgehend von der Feststellung, daß es keinen allgemeinen Rechtssatz gibt, nach dem zunächst der Arbeitnehmer als Steuerschuldner heranzuziehen ist (BFH-Urteil vom 6. Mai 1959 VI 252/57 U, BFHE 69, 83, BStBl III 1959, 292), hält die Rechtsprechung die vorrangige Inanspruchnahme des Arbeitgebers in verschiedenen Fällen für unbillig. Dabei sind u. a. die Zahl der Arbeitnehmer, die zwischenzeitlich erfolgte Auflösung des Arbeitsverhältnisses und die Schwierigkeit der zu beurteilenden Lohnsteuerfragen mit ihren Auswirkungen auf die Beurteilung des Verhaltens des Arbeitgebers von Bedeutung (BFH-Urteile vom 14. April 1967 VI R 23/66, BFHE 88, 457, BStBl III 1967, 469; vom 12. Januar 1968 VI R 117/66, BFHE 91, 306, BStBl II 1968, 324, und VI R 82/68). Auch die schnelle und leichte Erfüllung des Lohnsteueranspruchs, insbesondere bei veranlagten Arbeitnehmern, ist danach vor dem Erlaß eines Haftungsbescheids gegen den Arbeitgeber zu prüfen. Dabei ist immer von dem Grundsatz auszugehen, daß nur eine Steuer nachgefordert werden kann, die nach der materiellen Rechtslage geschuldet wird. Die Steuerforderung steht derart im Vordergrund der Ermessensentscheidung des FA, daß bei rechtskräftigen Einkommensteuerveranlagungen der Arbeitnehmer, bei denen eine Wiederaufrollung zu ihren Ungunsten wegen formeller Gründe (§ 222 Abs. 1 Nr. 1 AO) ausgeschlossen ist, nach der Entscheidung des Senats vom 26. Juli 1974 VI R 24/69 (BFHE 113, 157, BStBl II 1974, 756) nur noch die Inanspruchnahme des Arbeitgebers möglich ist. Das Gebot der Gesetzmäßigkeit der Steuererhebung kann andererseits im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 7 Abs. 3 StAnpG für die Heranziehung des Arbeitnehmers vor dem Arbeitgeber sprechen. Dabei ist von Bedeutung, daß die zulässigen Einwendungen des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers gegen die Lohnsteuerforderung des FA unterschiedlich sind. Der Arbeitgeber muß sich grundsätzlich auf die Eintragungen in der Lohnsteuerkarte seines Arbeitnehmers verweisen lassen. Dagegen kann der Arbeitnehmer, wenn von ihm Lohnsteuer nachgefordert wird, alle Gründe gegen die Nachforderung geltend machen, und zwar auch dann, wenn die Frist für den Antrag auf Durchführung des Lohnsteuer-Jahresausgleichs für den betreffenden Zeitraum bereits verstrichen ist, soweit diese nicht zu einer Erstattung von Lohnsteuer führen würde (BFH-Urteil vom 26. Januar 1973 VI R 136/69, BFHE 108, 338, BStBl II 1973, 423). In den Fällen, in denen Arbeitnehmer ihren Arbeitgebern keine Lohnsteuerkarten vorgelegt haben, könnten sie danach gegen die Steuerschätzung einwenden und nachweisen, daß ihre Einkünfte unter der steuerpflichtigen Grenze gelegen haben. Eine derartige Abwehrmöglichkeit gegen die Steuernachforderung des FA hat der Arbeitgeber nicht. Dem Senat erscheint es daher geboten, bei einem oder wenigen langfristig gering beschäftigten und entlohnten Arbeitnehmern, für die keine Lohnsteuerkarten vorgelegen haben, bei denen aber damit gerechnet werden kann, daß ihre Einkünfte keinen materiellen Steueranspruch ausgelöst haben, von dem Erlaß eines Haftungsbescheids gegen den Arbeitgeber abzusehen. In diesen Fällen ist im Rahmen der vom FA zu treffenden Ermessensentscheidung (§ 7 Abs. 3 StAnpG) zunächst der Arbeitnehmer in Anspruch zu nehmen. Das setzt allerdings voraus, daß die Namen der Arbeitnehmer und ihre Anschriften bekannt sind und sich das Verhalten des Arbeitgebers nicht als grob leichtfertig darstellt.

Das FA wird unter diesen Gesichtspunkten nunmehr seine Ermessensentscheidung zu treffen haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 71275

BStBl II 1975, 297

BFHE 1975, 342

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