Leitsatz (amtlich)

1. Zur Auslegung des § 3 Nr. 12 Satz 2 EStG und des § 4 Nr. 1 Sätze 2 und 3 LStDV.

2. Öffentliche Dienste im Sinne des § 3 Nr. 12 Satz 2 EStG leisten nicht nur solche Personen, die öffentlichrechtliche (hoheitliche) Dienste leisten, sondern auch Personen, die Aufgaben der sogenannten schlichten Hoheitsverwaltung erfüllen. Der Senat hält an der entgegenstehenden Rechtsprechung des RFH und des BFH nicht fest.

2. Zur Rechtsnatur der Vorschrift des § 4 Nr. 1 Sätze 2 und 3 LStDV. Soweit nach dieser Vorschrift Aufwandsentschädigungen nur steuerfrei sind, soweit sie an Personen geleistet werden, die öffentlich-rechtliche (hoheitliche) Dienste leisten, ist diese Vorschrift mit § 3 Nr. 12 Satz 2 EStG unvereinbar und rechtsungültig.

 

Normenkette

EStG 1965 § 3 Nr. 12; LStDV § 4 Nr. 1 Sätze 2-3

 

Tatbestand

Der Steuerpflichtige ist leitender Landwirtschaftsdirektor und stellvertretender Kammerdirektor einer Landwirtschaftskammer. Für die Zeit vom ... bis zum ... hat er, als er den Kammerdirektor vertrat, die diesem zustehende Aufwandsentschädigung bezogen; Lohnsteuer wurde davon nicht einbehalten.

Bei der Veranlagung zur Einkommensteuer für das Jahr 1965 verlangte der Steuerpflichtige, die Aufwandsentschädigung nach § 3 Nr. 12 Satz 2 EStG 1965 (§ 4 Nr. 1 Sätze 2 und 3 LStDV) steuerfrei zu belassen. Das FA rechnete die Aufwandsentschädigung zu den steuerpflichtigen Einnahmen und versagte die Steuerfreiheit, weil die Kasse der Landwirtschaftskammer keine öffentliche Kasse im Sinne von § 3 Nr. 12 EStG sei.

Die Klage hatte Erfolg. Das FG, dessen Urteil im Auszug in EFG 1966, 559 veröffentlicht ist, hielt die Voraussetzungen des § 3 Nr. 12 EStG 1965 für gegeben. Es betrachtete die Kasse der Landwirtschaftskammer als öffentliche Kasse und nahm an, daß der Steuerpflichtige auch öffentliche Dienste geleistet habe. Es rechnete dabei zu den öffentlichen Diensten auch Dienste der sogenannten schlichten Hoheitsverwaltung.

Mit seiner Revision rügt das FA unrichtige Anwendung des Bundesrechts. Es gibt nunmehr zu, daß die zahlende Kasse eine öffentliche Kasse sei. Es bestreitet aber, daß der Steuerpflichtige im Sinne von § 3 Nr. 12 EStG (§ 4 Nr. 1 Sätze 2 und 3 LStDV) hoheitliche Dienste leiste. Wie in dem für Handwerkskammern ergangenen Erlaß des Finanzministers ausgeführt sei, seien hoheitliche Dienste nur gegeben, wenn der Staat oder eine andere öffentlich-rechtliche Körperschaft im Rahmen der gesetzlichen Befugnisse Anordnungen treffe, deren Durchführung erforderlichenfalls erzwungen werden könne. Im Gegensatz zur Auffassung des FG könne die sogenannte schlichte Hoheitsverwaltung, wie der Steuerpflichtige sie ausgeübt habe, nicht unter § 3 Nr. 12 EStG (§ 4 Nr. 1 Sätze 2 und 3 LStDV) fallen.

Der BdF, der dem Verfahren beigetreten ist, befürwortet, an der bisherigen Rechtsprechung festzuhalten, wonach unter § 3 Nr. 12 EStG nur Personen fallen, die eine obrigkeitliche Tätigkeit ausüben. § 4 Nr. 1 LStDV enthalte eine zutreffende Auslegung des § 3 Nr. 12 EStG.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision muß zur Aufhebung der Vorentscheidung führen.

Nach § 3 Nr. 12 Satz 2 EStG 1965 sind Aufwandsentschädigungen, die nicht nach § 3 Nr. 12 Satz 1 EStG 1965 steuerfrei sind, nur steuerfrei, wenn sie aus öffentlichen Kassen an Personen gezahlt werden, die "öffentliche Dienste" leisten. Nach § 4 Nr. 1 LStDV leistet eine Person öffentliche Dienste, die "sich ausschließlich oder überwiegend mit öffentlich-rechtlichen (hoheitlichen) Aufgaben" befaßt.

Inzwischen sind alle Beteiligten einig, daß im Streitfall die zahlende Kasse eine öffentliche Kasse ist. Nach dem Urteil des BFH IV 609/54 U vom 9. Februar 1956 (BFH 62, 493, BStBl III 1956, 183) ist eine Kasse eine öffentliche Kasse, "die einer Dienstaufsicht und Prüfung der Finanzgebarung durch die öffentliche Hand unterliegt". Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die Landwirtschaftskammer ist eine öffentlich-rechtliche Körperschaft, die unter staatlicher Aufsicht steht und in ihrer Haushalts- und Wirtschaftsführung durch den Landesrechnungshof überwacht wird.

Ob der Steuerpflichtige öffentliche Dienste leistet, hängt davon ab, ob man den Begriff mit der bisherigen Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs (RFH) und des BFH, wie es auch der BdF und das FA wollen, einschränkend faßt, oder ob man ihn mit dem FG ausweitet. Der Steuerpflichtige gibt zu, daß seine Tätigkeit nicht überwiegend obrigkeitlich im Sinne der bisherigen Rechtsprechung und des § 4 Nr. 1 Sätze 2 und 3 LStDV ist, sondern vorwiegend in den Rahmen der sogenannten schlichten Hoheitsverwaltung fällt.

§ 4 Nr. 1 LStDV erfordert zwar, daß der Empfänger der Aufwandsentschädigung ausschließlich oder überwiegend "mit öffentlich-rechtlichen (hoheitlichen) Aufgaben" befaßt ist. Diese Einschränkung in der LStDV findet aber im Wortlaut der zugrunde liegenden gesetzlichen Vorschrift des § 3 Nr. 12 Satz 2 EStG keine Stütze. Es besteht auch keine dem Art. 80 Abs. 1 GG genügende Ermächtigung für die Bundesregierung, den Wortlaut des Gesetzes in dieser Weise einzuschränken. Die einschränkende Fassung des § 4 Nr. 1 LStDV ist darum nur rechtsgültig, wenn man in ihr eine zutreffende Auslegung des in § 3 Nr. 12 EStG verwendeten Begriffs "öffentliche Dienste" sehen kann.

In der Tat entspricht, wie der BdF zutreffend ausführt, die Einschränkung in § 4 Nr. 1 LStDV der ständigen Rechtsprechung des BFH und des Senats, z. B. in den Urteilen VI 141/60 S vom 26. Januar 1962 (BFH 74, 540, BStBl III 1962, 201) und VI 315/61 U vom 17. August 1962 (BFH 75, 541, BStBl III 1962, 466). Diese Rechtsprechung geht auf die Rechtsprechung des RFH zurück und findet vor allem in der Entstehungsgeschichte der Vorschrift eine Stütze. Daß Aufwandsentschädigungen nicht zum Arbeitslohn gehören, war bereits in § 36 Abs. 2 EStG 1925 bestimmt. Damals fielen darunter allerdings nicht bloß die "aus öffentlichen Kassen gewährten Aufwandsentschädigungen", sondern auch die Aufwandsentschädigungen, die "den im privaten Dienst angestellten Personen" gezahlt wurden. Wenngleich für private Aufwandsentschädigungen gewisse Vorbehalte gemacht waren, so waren doch Aufwandsentschädigungen aus öffentlichen Kassen und aus privaten Kassen grundsätzlich gleichgestellt. § 3 Nr. 13 EStG 1934 beschränkte dann die Steuerfreiheit auf "die aus öffentlichen Kassen gezahlten Aufwandsentschädigungen"; "Entschädigungen, die für Dienstausfall und Zeitverlust gezahlt werden", sollten aber in jedem Fall steuerpflichtig sein. In der Begründung zum EStG 1934 (RStBl 1935, 33) ist dazu ausgeführt: "Es ist also grundsätzlich bei der Steuerfreiheit der aus öffentlichen Kassen gewährten Aufwandsentschädigungen und Reisekosten verblieben. Es soll insbesondere, wie bisher bei der Besteuerung von Beamten, denen eine Entschädigung zur Bestreitung des Dienstaufwands gewährt oder bei denen hierzu ein Teil des Gehalts oder eine Zulage ausdrücklich bestimmt war, nicht geprüft werden, ob solche Abzüge im einzelnen für Werbungskosten zuzulassen sind. Dies setzt voraus, daß die öffentlichen Körperschaften Aufwandsentschädigungen und Reisekosten nur in dem Umfang bewilligen, in dem sie zur Bestreitung des Dienstaufwands tatsächlich benötigt sind, so daß Ersparnisse regelmäßig nicht erzielt werden. Würde in solchen Fällen unter der Bezeichnung Dienstaufwand eine Vergütung für Arbeitsleistungen gezahlt werden, so ist die Voraussetzung, von der diese Vorschrift ausgeht, nicht mehr gegeben. Wie nach bisherigem Recht, haben allein die FÄ bei diesen Aufwandsentschädigungen, die aus öffentlichen Kassen gezahlt werden, das Recht, nachzuprüfen, ob die unter der Bezeichnung Aufwandsentschädigung gezahlten Beträge tatsächlich der Deckung eines entstandenen Aufwands dienen; anderenfalls sind solche Beträge, auch wenn sie aus öffentlichen Kassen als Aufwandsentschädigung gezahlt werden, soweit ein Aufwand ihnen nicht gegenübersteht, als Einkünfte zu behandeln."

Auf eine neue Grundlage wurden die aus öffentlichen Kassen gewährten Aufwandsentschädigungen durch § 3 Nr. 12 EStG 1957 gestellt. Die Neufassung der Vorschrift wurde dadurch veranlaßt, daß der BFH in den Urteilen IV 47/54 S vom 22. September 1955 (BFH 62, 488, BStBl III 1956, 181) und IV 382/55 S vom 24. Juli 1956 (BFH 64, 291, BStBl III 1957, 111) zu § 3 Nr. 11 EStG a. F. entschieden hatte, daß Ministerialzulagen nicht als Aufwandsentschädigungen im Sinne dieser Vorschrift steuerfrei seien, sondern zum Arbeitslohn gehörten. Die Neufassung macht nunmehr einen Unterschied: Die in § 3 Nr. 12 Satz 1 EStG 1957 genannten Bezüge aus einer Bundeskasse oder Landeskasse bleiben unter den näher bezeichneten Voraussetzungen hinfort ohne weiteres steuerfrei, ohne daß die FÄ insoweit eine Prüfungsmöglichkeit haben. Die in § 3 Nr. 12 Satz 2 EStG 1957 genannten "Bezüge" sollen zwar ebenfalls grundsätzlich steuerfrei sein. Aber dem FA wird das Recht gegeben zu prüfen, ob die Vergütungen "für Verdienstausfall oder Zeitverlust gewährt werden oder den Aufwand, der dem Empfänger erwächst, offenbar übersteigen".

Weil es in beiden Fällen um Bezüge aus öffentlichen Kassen geht, liegt es nahe zu prüfen, ob die unterschiedliche Behandlung der beiden Fälle in § 3 Nr. 12 EStG 1957/1965 nicht gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstößt. In dem zu § 3 Nr. 12 Satz 1 EStG 1957 ergangenen Urteil VI 298/60 U vom 18. Dezember 1964 (BFH 81, 401, BStBl III 1965, 144) betreffend die Steuerfreiheit von Ministerialzulagen hat der Senat diese Frage verneint. Er ist auch der Auffassung, daß § 3 Nr. 12 Satz 2 EStG 1957/1965 nicht gegen den Gleichheitssatz verstößt. Wenn Aufwandsentschädigungen aus öffentlichen Kassen an Personen, die öffentliche Dienste leisten, steuerfrei bleiben, dagegen entsprechende Bezüge (Aufwandsentschädigungen) aus privaten Kassen zum Arbeitslohn rechnen, so liegt darin keine Willkür, sondern eine sachliche Unterscheidung; denn bei Bezügen aus öffentlichen Kassen besteht eine gewisse Gewähr dafür, daß sie nur einen entsprechenden dienstlichen Aufwand abgelten. Wo das, wie in den Fällen des § 3 Nr. 12 Satz 1 EStG 1957/1965, nicht dadurch sichergestellt ist, daß die Beträge im Haushalt des Bundes oder eines Landes ausgewiesen sind, greift das Prüfungsrecht des FA ein. Ergibt die Prüfung, daß nicht nur echter Aufwand abgegolten wird, so werden Aufwandsentschädigungen aus öffentlichen Kassen nicht anders behandelt als Aufwandsentschädigungen aus privaten Kassen.

Allerdings sind Aufwandsentschädigungen aus öffentlichen Kassen, wenn sie als solche anerkannt werden, immer dadurch steuerlich begünstigt, daß sie neben dem Werbungskosten-Pauschbetrag des § 9a EStG abgesetzt werden. Dieser Vorteil hält sich aber in engen Grenzen und ist unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensvereinfachung ausreichend gerechtfertigt.

Wenn aber dem § 3 Nr. 12 Satz 2 EStG 1957/1965, wie dargelegt, der Gedanke zugrunde liegt, daß Aufwandsentschädigungen aus öffentlichen Kassen im allgemeinen nicht übersetzt sind, so leuchtet nicht ein, warum das nur gelten soll, wenn der Empfänger obrigkeitliche Aufgaben erfüllt, wie die Rechtsprechung des RFH und des BFH bisher angenommen und wie es die Bundesregierung als ihre Rechtsauslegung in § 4 Nr. 1 LStDV übernommen hat. Dazu kommt, daß man früher verhältnismäßig leicht und klar zwischen der hoheitlichen (obrigkeitlichen) Tätigkeit einer Behörde und ihrer anderen Tätigkeit unterscheiden konnte. Wie das FG aber zutreffend ausführt, ist durch die Entwicklung der Verhältnisse, vor allem durch die erweiterten Aufgaben, die die moderne Staatsverwaltung übernimmt, der Kreis der hoheitlichen Verwaltung wesentlich weiter als die rein obrigkeitliche Tätigkeit (vgl. Rüfner, Formen öffentlicher Verwaltung im Bereich der Wirtschaft, 1967 S. 131, 134). Auf die Entlohnung der beschäftigten Personen ist es im übrigen ohne Einfluß, ob sie eine hoheitliche Tätigkeit ausüben oder andere Staatsaufgaben wahrnehmen. Unter diesen Umständen, nicht zuletzt aber auch im Interesse der Gleichbehandlung ähnlicher Sachverhalte, hält der Senat die bisherige Unterscheidung nicht mehr für gerechtfertigt, Die Anwendung des § 3 Nr. 12 Satz 2 EStG 1965 ist also nicht mehr nur auf Personen zu beschränken, die obrigkeitliche Aufgaben erfüllen, wie es § 4 Nr. 1 LStDV vorsieht. Insoweit ist diese Vorschrift nicht rechtsgültig.

Dem FG ist also in der Grundsatzfrage zuzustimmen. Trotzdem war sein Urteil aufzuheben, weil das FG übersehen hat, daß § 3 Nr. 12 Satz 2 EStG 1965 Aufwandsentschädigungen nicht ohne weiteres steuerfrei beläßt, sondern dem FA die Möglichkeit vorbehält zu prüfen, ob die Entschädigungen nicht "für Verdienstausfall oder Zeitaufwand gewährt werden oder den Aufwand, der dem Empfänger erwächst, offenbar übersteigen". Zu einer solchen Prüfung hatte das FA bisher von seinem Standpunkt aus keinen Anlaß. Die nicht spruchreife Sache wird an das FG zur nochmaligen Entscheidung zurückverwiesen, um dem FA Gelegenheit zu der in § 3 Nr. 12 Satz 2 EStG 1965 vorbehaltenen Prüfung zu geben. Wie sich aus dem "offenbar" und aus dem Zweck dieser Vorschrift ergibt, hat sich die Prüfung nicht darauf zu erstrecken, welche Aufwendungen einem einzelnen Steuerpflichtigen in einem einzelnen Jahre tatsächlich erwachsen sind, sondern darauf, ob Personen in gleicher dienstlicher Stellung im Durchschnitt der Jahre Aufwendungen etwa in Höhe der Aufwandsentschädigung erwachsen. Die Verwaltungsanweisungen in Abschn. 17 Abs. 2 der Lohnsteuer-Richtlinien enthalten insoweit eine zutreffende Auslegung des § 3 Nr. 12 Satz 2 EStG. Es steht den obersten Finanzverwaltungsbehörden der Länder frei, zur Arbeitsvereinfachung und Gleichbehandlung der Betroffenen in geeigneter Form und im Zusammenwirken mit den obersten Aufsichtsbehörden der in Betracht kommenden öffentlichen Kassen allgemein Sätze festzulegen, die bei den einzelnen Gruppen als echte Aufwandsentschädigung anzuerkennen sind. Glaubt ein Steuerpflichtiger, daß die ihm nach diesen Sätzen gewährte "Aufwandsentschädigung" zu Unrecht nicht oder nicht ausreichend als echte steuerfreie Aufwandsentschädigung anerkannt worden sei, steht es ihm frei, dem FA im einzelnen die entstandenen Werbungskosten darzutun.

 

Fundstellen

Haufe-Index 68009

BStBl II 1968, 437

BFHE 1968, 11

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