Leitsatz (amtlich)

1. Ist streitig, ob ein Steuerbescheid gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 zu ändern ist, muß das FG im Rahmen seiner tatsächlichen Feststellungen (§§ 76, 118 Abs. 2 FGO) ermitteln, welche das FA bindenden Verwaltungsanweisungen im Zeitpunkt des ursprünglichen Bescheiderlasses durch das FA zu der materiellen Streitfrage bestanden (Anschluß an: Beschluß des Großen Senats des BFH vom 23. November 1987 GrS 1/86, BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180).

2. Für die Feststellung der mutmaßlichen Entscheidung des FA sind subjektive Fehler unbeachtlich, wie sie den FÄ in Parallelverfahren sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht unterlaufen sein mögen.

 

Orientierungssatz

NV: War eine Tatsache bei der Festsetzung der Einkommensteuer durch das FA rechtsunerheblich, so fehlt es, wenn diese Tatsache dem FA bekannt wird, an einer dem FA nachträglich bekanntgewordenen Tatsache. Mangels Vorliegens einer Tatbestandsvoraussetzung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 ist das FA deshalb zu einer Änderung des Steuerbescheids nicht verpflichtet (vgl. BFH-Beschluß vom 23.11.1987 GrS 1/86).

 

Normenkette

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2; FGO §§ 76, 118 Abs. 2

 

Tatbestand

I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist Vorstandsmitglied einer inländischen Aktiengesellschaft (AG). Am 29.Dezember 1982 reichte er seine Einkommensteuererklärung 1982 beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt --FA--) ein. Das FA veranlagte ihn am 28.Februar 1983 zur Einkommensteuer 1982. Der Bescheid wurde bestandskräftig.

Am 28.Juni 1983 machte der Kläger erstmalig gegenüber dem FA geltend, sich im Jahre 1982 an zehn Arbeitstagen beruflich in Italien aufgehalten zu haben, um an Sitzungen von Verwaltungsräten italienischer Tochtergesellschaften der inländischen AG teilzunehmen. Er habe den Verwaltungsräten in seiner Eigenschaft als Vorstandsmitglied der inländischen AG angehört. Von der Vorschrift des Art.11 Nr.1 Buchst.d i.V.m. Art.7 Abs.1 Satz 1 des Abkommens zwischen dem Deutschen Reiche und Italien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Regelung anderer Fragen auf dem Gebiete der direkten Steuern vom 31.Oktober 1925 --DBA-Italien-- (RGBl II 1925, 1146) habe er damals keine Kenntnis gehabt. Der Kläger beantragte, den Einkommensteuerbescheid 1982 zu ändern und den Betrag von 9 303 DM steuerfrei zu belassen. Dazu verwies der Kläger auf die damals neuere Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs --BFH-- (Urteil vom 20.Oktober 1982 I R 104/79, BFHE 137, 29, BStBl II 1983, 402). Das FA lehnte den Änderungsantrag ab. Der Einspruch blieb ohne Erfolg.

Auf die Klage des Klägers hob das Finanzgericht (FG) die Ablehnungsverfügung des FA auf und verpflichtete dasselbe, den Einkommensteuerbescheid 1982 vom 28.Februar 1983 gemäß § 173 Abs.1 Nr.2 der Abgabenordnung (AO 1977) zu ändern und von dem Jahresarbeitslohn des Klägers 9 303 DM als steuerfreie Einkünfte zu behandeln.

Mit seiner vom FG zugelassenen Revision rügt das FA die Verletzung des § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977.

Das FA beantragt, das Urteil des FG Münster aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger hat im Revisionsverfahren keinen Antrag gestellt.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs.3 Nr.1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

1. Nach § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977 sind --von weiteren Voraussetzungen abgesehen-- Steuerbescheide zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen. Dazu hat der Große Senat des BFH durch Beschluß vom 23.November 1987 GrS 1/86 (BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180) entschieden, daß ein Steuerbescheid wegen nachträglich bekanntgewordener Tatsachen oder Beweismittel zugunsten des Steuerpflichtigen dann nicht aufgehoben oder geändert werden darf, wenn das FA bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen oder Beweismittel mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu keiner anderen Steuerfestsetzung gekommen wäre. Wie das FA bei Kenntnis bestimmter Tatsachen und Beweismittel einen Sachverhalt in seinem ursprünglichen Bescheid gewürdigt hätte, ist im Einzelfall aufgrund des Gesetzes, wie es nach der damaligen Rechtsprechung des BFH auszulegen war, und der die FÄ bindenden Verwaltungsanweisungen zu beurteilen, die im Zeitpunkt des ursprünglichen Bescheiderlasses durch das FA gegolten haben. Welche Verwaltungsanweisungen im Zeitpunkt des ursprünglichen Bescheiderlasses durch das FA galten, muß das FG im Rahmen seiner tatsächlichen Feststellungen (§§ 76, 118 Abs.2 FGO) ermitteln.

2. Nach den diesbezüglichen tatsächlichen Feststellungen des FG, an die der erkennende Senat mangels erhobener Rügen gebunden ist (§ 118 Abs.2 FGO), hatte das FA am 28.Februar 1983 den zweiten Teil des Schreibens des Bundesministers der Finanzen (BMF) vom 11.Januar 1982 IV C 5 - S 1301 Italien - 100/81 (BStBl I 1982, 215) zu beachten. Danach war bei Geschäftsführern und Vorstandsmitgliedern von Kapitalgesellschaften --der Rechtsprechung des BFH (vgl. Beschluß des Großen Senats vom 15.November 1971 GrS 1/71, BFHE 103, 433, BStBl II 1972, 68) folgend-- davon auszugehen, daß sie ihre Tätigkeit unabhängig von ihrer tatsächlichen Anwesenheit stets am Sitz der Gesellschaft erbringen. Auf den Streitfall bezogen bedeutete dies, daß die vom Kläger tatsächlich in Italien ausgeübte Tätigkeit steuerrechtlich als in der Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) ausgeübt zu beurteilen war. Der Kläger war nämlich Vorstandsmitglied einer inländischen AG. Er kann sich auch nicht darauf berufen, daß er in Italien als "Verwaltungsratmitglied" tätig war. Im Streitfall sind nur die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit zu beurteilen, die der Kläger von der inländischen AG bezog. Von der inländischen AG bezog er jedoch sein Gehalt als Vorstandsmitglied. Nur in dieser Eigenschaft nahm er auch an den Verwaltungsratssitzungen in Italien teil.

Der im BMF-Schreiben vom 11.Januar 1982 vertretenen Verwaltungsauffassung hat der BFH erstmalig mit Urteil vom 22.Juni 1983 I R 67/83 (BFHE 138, 464, BStBl II 1983, 625) und später noch einmal mit Urteil vom 21.Mai 1986 I R 37/83 (BFHE 147, 52, BStBl II 1986, 739) widersprochen. Nach der in der Finanzverwaltung geübten Praxis war die für das FA von dem BMF-Schreiben vom 11.Januar 1982 ausgehende Bindungswirkung erst mit Bekanntwerden des Urteils in BFHE 147, 52, BStBl II 1986, 739 aufgehoben. Da dieses Urteil jedoch erst nach dem 28.Februar 1983 ergangen ist, kann es für die Beurteilung der mutmaßlichen Entscheidung des FA nicht herangezogen werden. Statt dessen ist davon auszugehen, daß das FA die Einkommensteuer 1982 auch bei Kenntnis der beruflich bedingten Italienaufenthalte des Klägers entsprechend dem BMF-Schreiben vom 11.Januar 1982 festgesetzt hätte.

Der Kläger kann sich nicht darauf berufen, daß das FA in einem Parallelfall die Steuerfreiheit gewährt habe. Auf der Grundlage der damaligen Verwaltungsauffassung war die vom Kläger behauptete Entscheidung in der Parallelsache fehlerhaft. Für die Feststellung der mutmaßlichen Entscheidung des FA kann nur auf die Rechtslage abgestellt werden, wie sie sich nach der damaligen höchstrichterlichen Rechtsprechung einerseits und nach verbindlichen Verwaltungsanweisungen andererseits darstellte. Subjektive Fehler der FÄ, wie sie sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht denkbar sein mögen, sind unbeachtlich.

3. War aber die Tatsache, daß der Kläger sich in 1982 an zehn Arbeitstagen beruflich bedingt in Italien aufhielt, für die am 28.Februar 1983 vorgenommene Festsetzung der Einkommensteuer 1982 durch das FA rechtsunerheblich, so fehlt es an einer dem FA nachträglich bekanntgewordenen Tatsache. Damit fehlt es auch an einer Tatbestandsvoraussetzung des § 173 Abs.1 Nr.2 AO 1977. Entsprechend war das FA zu einer Änderung des Einkommensteuerbescheides 1982 gegenüber dem Kläger nicht verpflichtet.

4. Das FG ist von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen. Seine Entscheidung kann deshalb keinen Bestand haben. Da die Sache entscheidungsreif ist, entscheidet der Senat gemäß § 126 Abs.3 Nr.1 FGO. Mangels Rechtsanspruchs des Klägers auf Änderung des Einkommensteuerbescheides 1982 war die Klage abzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 62332

BStBl II 1988, 715

BFHE 153, 296

BFHE 1989, 296

BB 1988, 1878-1879 (LT1-2)

DB 1988, 1784-1784 (LT)

HFR 1988, 554 (LT)

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Personal Office Platin. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge