Entscheidungsstichwort (Thema)

Grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden von Tatsachen oder Beweismitteln

 

Leitsatz (NV)

Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH ist bei der Prüfung des groben Verschuldens auch der Zeitraum bis zur Bestandskraft des Bescheides einzubeziehen (Anschluß an BFH-Urteile vom 25. November 1983 VI R 8/82, BFHE 140, 18, BStBl II 1984, 256; vom 20. Januar 1988 I R 1/84, BFH/NV 1988, 348; vom 22. November 1988 VII R 24/86, BFH/NV 1989, 359; vom 9. März 1990 VI R 19/85, BFH/NV 1990, 619; vom 21. Februar 1991 V R 25/87, BStBl II 1991, 496).

 

Normenkette

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) begehrt die Änderung des Umsatzsteuerbescheides 1989 gemäß §173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977).

Der Kläger war von Ende 1986 bis Anfang 1990 als Rechtsanwalt tätig. Im März 1990 wurde gegen ihn ein vorläufiges Berufsverbot verhängt. Im April 1990 verzichtete der Kläger auf seine Zulassung als Rechtsanwalt. Die Rechtsanwältin H wurde bis zum 30. April 1992 als Kanzleiabwicklerin i. S. des §55 der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) bestellt. Der Kläger, der mit dem Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt -- FA --) unter einer Adresse im Amtsbereich des Finanzamtes B korrespondierte, teilte mit, daß er seine selbständige Tätigkeit eingestellt habe und daß eine Abwicklerin bestellt worden sei. Im Oktober 1990 wurde der Kläger zur Abgabe der Einkommen- und Umsatzsteuererklärung aufgefordert. Die Aufforderung war an die frühere Adresse des Klägers gerichtet und wurde von der Abwicklerin an den Kläger weitergeleitet. Unter dem 24. Juni 1992 erließ das FA einen Umsatzsteuerbescheid für das Kalenderjahr 1989. Mit Schreiben vom 22. Dezember 1992 beantragte der Kläger die Änderung des Bescheides, da er erst seit kurzer Zeit wieder im Besitz der Buchhaltungsunterlagen sei. Auch sei er davon ausgegangen, daß die Steuererklärung durch die Kanzleiabwicklerin abgegeben worden sei. Das FA wies den Antrag auf Änderung mit Verfügung vom 27. Januar 1993 zurück. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.

Der Kläger erhob Klage, die er damit begründete, daß er bis zur Schätzung des FA keine Umsatzsteuererklärung habe abgeben können, da ihm die maßgeblichen Unterlagen nicht zur Verfügung gestanden hätten und er darauf vertraut habe, daß die Kanzleiabwicklerin die entsprechenden Steuererklärungen abgegeben habe. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt; die Entscheidung ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1997, 1219 veröffentlicht. Die für die Steuerfestsetzung maßgeblichen Tatsachen seien nachträglich bekanntgeworden. Ein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden sei nicht gegeben, da der Kläger davon ausgegangen sei, daß die Kanzleiabwicklerin, die einem gerichtlich bestellten Liquidator gleichzustellen sei, zur Abgabe der Umsatzsteuererklärung verpflichtet gewesen sei. Bis zur Rückgabe der Unterlagen über die abgewickelte Kanzlei, welche unstreitig erst nach Zugang des Schätzungsbescheides erfolgt sei, habe der Kläger von einer fortdauernden Erklärungspflicht der Abwicklerin ausgehen können. An dieser Beurteilung ändere auch nichts die an den Kläger gerichtete maschinell erstellte Abgabeaufforderung. Der Kläger habe davon ausgehen können, daß die Aufforderung durch die zwischenzeitlichen Ereignisse überholt gewesen sei, zumal das FA dann ungefähr ein und ein halbes Jahr untätig geblieben sei. Der Änderung nach §173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 stehe auch nicht entgegen, daß der Kläger möglicherweise die Einlegung eines Einspruchs gegen den Schätzungsbescheid unterlassen habe. Das nachfolgende Verhalten sei -- entgegen der in dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 25. November 1983 VI R 8/82 (BFHE 140, 18, BStBl II 1984, 256) geäußerten Auffassung -- für die Beurteilung des groben Verschuldens unerheblich.

Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt das FA Verletzung materiellen Rechts.

Es beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet; sie führt gemäß §126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage. Entgegen der Auffassung des FG trifft den Kläger ein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden der für die Umsatzsteuerfestsetzung maßgeblichen Besteuerungsgrundlagen, so daß der Bescheid vom 24. Juni 1992 nicht geändert werden kann.

Gemäß §173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekanntwerden.

a) Ein Fall der Unbeachtlichkeit des Verschuldens nach §173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO 1977 liegt nicht vor, da in Schätzungsfällen die Besteuerungsgrundlagen insgesamt eine (hier: steuermindernde) Tatsache bilden (vgl. BFH-Urteil vom 24. April 1991 XI R 28/89, BFHE 164, 192, BStBl II 1991, 606).

b) Grobes Verschulden umfaßt Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit (BFH-Urteil vom 21. September 1993 IX R 63/90, BFH/NV 1994, 99). Grob fahrlässig handelt der Steuerpflichtige, wenn er die Sorgfalt, zu der er nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten verpflichtet und imstande ist, in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt. So handelt der Steuerpflichtige grob fahrlässig, wenn er eine Steuererklärung trotz Aufforderung oder gesetzlicher Verpflichtung nicht rechtzeitig abgibt (BFH-Urteil in BFHE 164, 192, BStBl II 1991, 606, 607). Fehler, die üblicherweise vorkommen und mit denen immer gerechnet werden muß, begründen hingegen keine grobe Fahrlässigkeit (Tipke/Kruse, Abgabenordnung -- Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., Stand April 1994, §173 AO 1977, Tz. 31 ff., m. w. N.). Die Beschränkung der Änderungsmöglichkeit soll den Steuerpflichtigen von vornherein dazu anhalten, seine Erklärungs- und Mitwirkungspflichten mit der gebotenen Sorgfalt zu erfüllen.

c) Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH ist -- entgegen der Auffassung des FG -- bei der Prüfung des groben Verschuldens auch der Zeitraum bis zur Bestandskraft des Bescheides einzubeziehen (BFH-Urteile in BFHE 140, 18, BStBl II 1984, 256; vom 20. Januar 1988 I R 1/84, BFH/NV 1988, 348; vom 22. November 1988 VII R 24/86, BFH/NV 1989, 359; vom 9. März 1990 VI R 19/85, BFH/NV 1990, 619; vom 21. Februar 1991 V R 25/87, BStBl II 1991, 496; vom 4. Februar 1993 III R 78/91, BFH/NV 1993, 641). Bis zur Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung muß das FA im Einspruchsverfahren den Sachverhalt nach §367 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 unabhängig davon umfassend prüfen, ob die nachträglich vorgebrachten Tatsachen verschuldet verspätet geltend gemacht werden. Erst nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung ist die Steuerfestsetzung nur noch nach den §§172 f. AO 1977 änderbar, und es kommt für eine Änderung nach §173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 auf grobes Verschulden des Steuerpflichtigen an. Das nachträgliche Bekanntwerden kann daher noch solange grob verschuldet sein, als eine Änderung uneingeschränkt möglich ist.

Spätestens als der Kläger nach Ergehen des Bescheides vom 24. Juni 1992 erkennen konnte, daß die Abwicklerin keine Erklärung abgegeben hatte und daß der Bescheid auf einer Schätzung beruhte, hätte er seiner Erklärungspflicht nachkommen und die steuermindernden Tatsachen geltend machen müssen. Der Kläger hat die insoweit bestehenden Möglichkeiten nicht genutzt. Durch diese Unterlassung hat er das nachträgliche Bekanntwerden der für die Umsatzsteuerfestsetzung bedeutsamen Tatsachen grob fahrlässig verursacht. Ob der Kläger auch bereits dadurch grob fahrlässig gehandelt hat, daß er die Aufforderung zur Abgabe der Umsatzsteuererklärung nicht beachtete, kann dahinstehen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 67120

BFH/NV 1998, 682

DStZ 1998, 407

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