Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtsbehelf gegen nach § 165 AO 1977 vorläufigen Bescheid wegen Verfassungswidrigkeit einer Norm: Musterverfahren beim BVerfG, Rechtsschutzbedürfnis, Musterverfahren beim BFH, grundsätzliche Bedeutung, Anforderungen an "Musterverfahren", Statthaftigkeit von Einspruch und Klage, Nachprüfung durch FG - Gesetzlicher Richter: Besetzung des III. Senats des BFH im Geschäftsjahr 1996

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein "Musterverfahren" i.S. der Rechtsprechung des BFH, dessen Anhängigkeit beim BVerfG einem gleichgelagerten Rechtsbehelfsverfahren gegen einen vorläufigen Steuerbescheid entgegensteht, liegt dann nicht vor, wenn in dem Rechtsbehelfsverfahren eine Fassung des Gesetzes anzuwenden ist, die in einem für die Entscheidung maßgeblichen Punkt von der beim BVerfG zur Prüfung stehenden Fassung abweicht.

2. Das Rechtsschutzbedürfnis für einen Rechtsbehelf, mit dem die Verfassungswidrigkeit der Rechtsvorschriften geltend gemacht wird, auf denen der angefochtene Bescheid beruht, kann einem Steuerpflichtigen auch bei einem vorläufigen Bescheid nicht allein deshalb abgesprochen werden, weil beim BVerfG wegen anderer Rechtsvorschriften bereits anhängige Verfahren zur Klärung der verfassungsrechtlichen Beurteilungsmaßstäbe führen können.

3. Das Rechtsschutzbedürfnis für einen Rechtsbehelf gegen einen vorläufigen Bescheid ist grundsätzlich nicht allein deshalb zu verneinen, weil beim BFH ein gleichgelagertes Musterverfahren anhängig ist.

4. Die vorstehenden Grundsätze sind durch die Rechtsprechung des BFH geklärt. Sie bedürfen keiner weiteren Klärung in einem Revisionsverfahren.

 

Orientierungssatz

1. Die Besetzung des III. Senats des BFH, die sich aus der vom Vorsitzenden getroffenen Regelung über die Mitwirkung der Senatsmitglieder an den Verfahren im Geschäftsjahr 1996 vom 21.12.1996 Abschn.I Ziff.1 Buchst.a ergibt, entspricht den Anforderungen des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG.

2. Wird nach erfolglosem Vorverfahren Klage erhoben, so hat das FG den angefochtenen Verwaltungsakt materiell-rechtlich zu prüfen, wenn es daran nicht durch seine Bestandskraft gehindert ist; eine gegen einen bestandskräftigen Verwaltungsakt erhobene Anfechtungsklage ist ohne eine solche Prüfung seiner Rechtmäßigkeit als unbegründet zurückzuweisen (vgl. BFH-Urteil vom 24.7.1984 VII R 122/80). Daß ein Steuerbescheid nach § 165 Abs.1 AO 1977 für vorläufig erklärt worden ist, berührt die Statthaftigkeit des Einspruchs und der Klage nicht.

3. Ein Musterverfahren i.S. der BFH-Rechtsprechung, dessen Anhängigkeit beim BVerfG einem gleichgelagerten Rechtsbehelfsverfahren gegen einen insoweit vorläufigen Steuerbescheid entgegensteht, liegt vor, wenn Musterverfahren und Einspruchsverfahren hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Streitfrage im wesentlichen gleichgelagert sind und es in dem Musterverfahren nicht um einen anderen Sachverhalt geht, der zusätzliche, ggf. sogar vorrangige Streitfragen aufwirft. Es muß dieselbe Vorschrift, nicht aber dasselbe Streitjahr betroffen sein (vgl. BFH-Rechtsprechung).

 

Normenkette

AO 1977 § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, Abs. 2 S. 2, §§ 347-348; FGO §§ 44, 4, 10, 115 Abs. 2 Nr. 1, § 40 Abs. 2; GVG § 21g; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2

 

Tatbestand

I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) begehrt für 1991 einen höheren (hälftigen) Kinderfreibetrag für ein Kind. Sie ist vom Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt --FA--) u.a. hinsichtlich des Kinderfreibetrages vorläufig veranlagt worden. Den von ihr gegen den Einkommensteuerbescheid erhobenen Einspruch hat das FA als unzulässig verworfen und dabei ausgeführt, es gehe der Klägerin ersichtlich nur darum, den Bescheid nicht bestandskräftig werden zu lassen, um im Fall einer für sie positiven Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und einer sich daran gegebenenfalls anschließenden gesetzlichen Neuregelung in deren Genuß zu kommen. Diesem Begehren trage jedoch die vorläufige Steuerfestsetzung Rechnung. Dem Einspruch fehle daher das Rechtsschutzbedürfnis.

Hierauf hat die Klägerin Klage erhoben; sie hat beantragt, unter Abänderung des Einkommensteuerbescheides den hälftigen Kinderfreibetrag mit 2 000 DM anzusetzen.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage als unbegründet ab. Es führte aus:

Der Klägerin habe für das Einspruchsverfahren das Rechtsschutzinteresse gefehlt. Infolge der vorläufigen Festsetzung der verfassungsrechtlich umstrittenen Besteuerungsgrundlagen sei dem eigentlichen Begehren der Klägerin, den angefochtenen Einkommensteuerbescheid nicht bestandskräftig werden zu lassen in vollem Umfang Rechnung getragen.

Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil richtet sich die Beschwerde der Klägerin, mit der grundsätzliche Bedeutung und ein Verfahrensfehler geltend gemacht werden.

Zur grundsätzlichen Bedeutung wird vorgetragen, die Klägerin habe beantragt, in Sachen Kinderfreibetrag eine materiellrechtliche Entscheidung zu fällen. Das FG habe jedoch die Klage wegen des Vorläufigkeitsvermerks als unzulässig abgewiesen und damit Art.19 Abs.4 des Grundgesetzes (GG) verkannt. Der Bundesfinanzhof (BFH) habe über die Höhe des Kinderfreibetrages für das Streitjahr bisher keine Entscheidung gefällt und es gebe kein diesbezügliches Verfahren vor dem BVerfG. Deshalb dürfe der Klägerin der gerichtliche Rechtsschutz nicht durch Hinweis auf einen Vorläufigkeitsvermerk genommen werden. Sonst könne es zu einer Entscheidung des BVerfG nicht kommen, weil allen Einsprüchen und Klagen das Rechtsschutzinteresse fehlen würde.

Über die Frage der "Rechtsschutzabschneidung" wegen der vom Steuerpflichtigen gewollten rechtlichen Klärung der Höhe des Kinderfreibetrages gebe es noch keine Entscheidung des BFH; die Frage sei jedoch für alle Steuerpflichtigen von Bedeutung, denen aufgrund eines Vorläufigkeitsvermerks der Zugang zum Gericht verwehrt werde, obwohl es noch nicht einmal ein Musterverfahren vor dem BVerfG gebe.

Die Beschwerde sieht ferner einen Verfahrensfehler darin, daß es das FG der Klägerin verwehrt habe, ihr Klagebegehren zu verfolgen, weil ein Vorläufigkeitsvermerk vorliege; es habe damit die Rechte der Klägerin aus Art.19 Abs.4 GG abgeschnitten.

Im übrigen rügt die Beschwerde die Besetzung des erkennenden Senats und beantragt, das Beschwerdeverfahren bis zu einer Entscheidung des BVerfG "über die Frage des gesetzlichen Richters" und über die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluß des BFH vom 17. Mai 1995 X B 274/90 "in Sachen Verfassungswidrigkeit des Rechtsschutzverlustes durch Vorläufigkeitserklärung" auszusetzen.

Die Klägerin beantragt, die Revision gegen das Urteil des FG zuzulassen.

Das FA beantragt, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II. Der Senat entscheidet in der Besetzung, die sich aus der von seinem Vorsitzenden getroffenen Regelung über die Mitwirkung der Senatsmitglieder an den Verfahren im Geschäftsjahr 1996 vom 21. Dezember 1995 Abschn.I. Ziff.1 a letzter Absatz ergibt. Diese Regelung entspricht den Anforderungen des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG.

Die Beschwerde ist unbegründet (§ 115 Abs.2 Nr.1 und 3 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

1. Die Beschwerde trägt zur grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache sinngemäß vor, es gebe noch keine Entscheidung des BFH zu der Frage, ob ein Vorläufigkeitsvermerk den Zugang zum Gericht versperre, selbst wenn es noch nicht einmal Musterverfahren vor dem BVerfG gebe und der Steuerpflichtige bewußt auf einer materiell-rechtlichen Entscheidung des FG beharre. Sofern mit diesem Vortrag und den diesbezüglichen weiteren Ausführungen in der Beschwerdeschrift überhaupt in einer den Anforderungen des § 115 Abs.3 Satz 3 FGO genügenden Weise eine konkrete Rechtsfrage bezeichnet und ihre grundsätzliche Bedeutung dargelegt ist, wäre der Rechtssache jedenfalls keine grundsätzliche Bedeutung i.S. des § 115 Abs.2 Nr.1 FGO beizumessen. Denn die Rechtsfragen, die sich insoweit in einem Revisionsverfahren stellen würden, sind nicht von grundsätzlicher Bedeutung, weil sie durch die Rechtsprechung des BFH bereits geklärt sind.

a) Mit dem von ihr eingelegten Rechtsbehelf hat die Klägerin Einwände geltend gemacht, die sich gegen die Verfassungsmäßigkeit der Besteuerungsgrundlagen richten, auf denen der Steuerbescheid beruht. Hinsichtlich dieser Besteuerungsgrundlagen --zuletzt war nur noch der Kinderfreibetrag im Streit-- ist der Bescheid vom FA mit Rücksicht auf beim BVerfG anhängige Verfahren "bzw. andere gerichtliche Verfahren" für vorläufig erklärt worden. Die beim BverfG anhängigen Verfahren betreffen allerdings nicht unmittelbar die im Falle der Klägerin einschlägigen Besteuerungsgrundlagen --nämlich die gesetzliche Regelung des Kinderfreibetrages für ein Kind im Jahre 1991 durch § 32 Abs.6 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.d.F. des Steuerreformgesetzes 1990 (BGBl I 1988, 1093)--, sondern eine lediglich rechtsähnliche Regelung --nämlich insbesondere die Festsetzung des Kinderfreibetrags für ein Kind im Jahre 1987 in § 32 Abs.6 EStG i.d.F. des Steuersenkungsgesetzes 1986/1988 (BGBl I 1985, 1153)--.

In formell-rechtlicher Hinsicht hängt der Erfolg der Klage daher von der Beantwortung der Frage ab, ob ein Rechtsschutzbedürfnis für einen Rechtsbehelf besteht, wenn mit diesem die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung bestimmter Besteuerungsgrundlagen geltend gemacht wird, der Rechtsbehelf sich gegen einen hinsichtlich dieser Besteuerungsgrundlagen unter Berufung auf § 165 Abs.1 Nr.3 der Abgabenordnung (AO 1977) für vorläufig erklärten Bescheid richtet und beim BVerfG kein Verfahren anhängig ist, in dem über die Verfassungsmäßigkeit der betreffenden Besteuerungsgrundlagen zu entscheiden ist, wenn auch ausstehende Entscheidungen des BVerfG mittelbar darüber Aufschluß geben können.

b) Bei der Beantwortung dieser Frage ist von folgenden, von der Rechtsprechung des BFH aufgestellten Grundsätzen auszugehen:

Wird nach erfolglosem Vorverfahren Klage erhoben, so hat das FG den angefochtenen Verwaltungsakt materiell-rechtlich zu prüfen, wenn es daran nicht durch seine Bestandskraft gehindert ist; eine gegen einen bestandskräftigen Verwaltungsakt erhobene Anfechtungsklage ist ohne eine solche Prüfung seiner

Rechtmäßigkeit als unbegründet zurückzuweisen (BFH-Urteil vom

24. Juli 1984 VII R 122/80, BFHE 141, 470, BStBl II 1984,

791).

Bestandskräftig wird ein Verwaltungsakt nur, wenn er nicht mit einem zulässigen und form- und fristgerecht eingelegten Einspruch (§ 358 AO 1977) und nach dessen Zurückweisung mit der Klage angegriffen wird. Daß ein Steuerbescheid nach § 165 Abs.1 AO 1977 für vorläufig erklärt worden ist, berührt die Statthaftigkeit des Einspruchs (§§ 347, 348 AO 1977) und der Klage (§ 44 FGO) nicht.

Allerdings muß ein Rechtsschutzbedürfnis gegeben sein, damit Einspruch und Klage zulässig sind. Werden gegen einen Steuerbescheid ausschließlich Einwände erhoben, die sich auf die Verfassungsmäßigkeit des ihm zugrundeliegenden Gesetzes beziehen, kann das Rechtsmittel nicht zur Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Steuerbescheides führen, solange das Gesetz, auf dem er beruht, nicht aufgehoben oder vom BVerfG für nichtig erklärt worden ist. Deshalb kann der Einspruch in diesem Fall in der Regel nur den Sinn haben, nach Erfüllung der Zugangsvoraussetzung des § 44 Abs.1 FGO das FG und gegebenenfalls den BFH anrufen zu können, um das Gesetz im Verfahren nach Art.100 GG oder im Wege einer Verfassungsbeschwerde gegen die abschließende gerichtliche Entscheidung zu Fall zu bringen.

Für die Anrufung des Gerichts mit diesem Ziel fehlt jedoch nach der ständigen Rechtsprechung des BFH das Rechtsschutzbedürfnis, wenn der Steuerbescheid in dem verfassungsrechtlichen Streitpunkt vorläufig ergangen ist, die verfassungsrechtliche Streitfrage sich in einer Vielzahl im wesentlichen gleichgelagerter Verfahren (Massenverfahren) stellt und bereits ein nicht von vornherein aussichtsloses Musterverfahren beim BVerfG anhängig ist (BFH-Beschlüsse vom 9. August 1994 X B 26/94, BFHE 174, 498, BStBl II 1994, 803; vom 10. November 1993 X B 83/93, BFHE 172, 197, BStBl II 1994, 119, und vom 18. Februar 1994 VI B 123/93, BFH/NV 1994, 548; vgl. ferner den Beschluß des Senats vom 18. September 1992 III B 43/92, BFHE 169, 110, BStBl II 1993, 123 zu den Anforderungen an das Rechtsschutzbedürfnis für die Fortsetzung des Verfahrens bei einem endgültigen Bescheid). Denn dann kann der Steuerpflichtige im allgemeinen die Klärung der Streitfrage in dem Musterverfahren abwarten, ohne dadurch unzumutbare Rechtsnachteile zu erleiden (BFH-Beschluß in BFHE 172, 197, BStBl II 1994, 119); eine weitere verfassungsrechtliche Klärung in eigener Sache kann er gegebenenfalls später durch Rechtsbehelfe gegen die vom FA nach § 165 Abs.2 Satz 2 AO 1977 zu treffende Entscheidung herbeiführen, wenn ihm nach dem Ausgang des Musterverfahrens die Streitfrage nicht ausreichend beantwortet erscheint. Etwas anderes gilt ausnahmsweise dann, wenn besondere Gründe materiell-rechtlicher oder verfahrensrechtlicher Art (etwa im Hinblick auf die Notwendigkeit einer Aussetzung der Vollziehung) substantiiert geltend gemacht werden, die es rechtfertigen, trotz Anhängigkeit des Musterverfahrens Rechtsschutz gegen den im Streitpunkt für vorläufig erklärten Bescheid zu gewähren (vgl. den Beschluß des Senats vom 7. Februar 1992 III B 24, 25/92, BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408).

Durch die Rechtsprechung des Senats ist ferner bereits geklärt, welche Anforderungen ein Musterverfahren in diesem Sinne erfüllen muß. Musterverfahren und Einspruchsverfahren müssen danach hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Streitfrage im wesentlichen gleichgelagert sein; in dem Musterverfahren darf es nicht um einen anderen Sachverhalt gehen, der zusätzliche, möglicherweise sogar vorrangige Streitfragen aufwirft. Musterverfahren und Einspruchsverfahren müssen schließlich dieselbe Vorschrift betreffen (Senatsbeschlüsse vom 27. November 1992 III B 133/91, BFHE 169, 498, BStBl II 1993, 240, und in BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408). Das setzt freilich --entgegen der Annahme der Beschwerde-- nicht notwendig voraus, daß die Verfahren das gleiche Streitjahr betreffen (vgl. die Beschlüsse des Senats vom 10. Februar 1995 III B 73/94, BFHE 176, 435, BStBl II 1995, 415; in BFHE 169, 498, 502, BStBl II 1993, 240, und vom 16. Juli 1993 III R 206/90, BFHE 171, 534, 537 unter B I, BStBl II 1993, 755).

An der für eine Verneinung des Rechtsschutzbedürfnisses und im übrigen auch für eine Vorläufigkeitserklärung nach § 165 Abs.1 Nr.3 AO 1977 vorauszusetzenden Übereinstimmung der Vorschriften fehlt es allerdings, wenn in dem Streitverfahren eine Fassung des Gesetzes anzuwenden ist, die in einem für die Entscheidung maßgeblichen Punkt nicht der zur Prüfung des BVerfG stehenden Fassung entspricht. Denn dann kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß die Entscheidung des BVerfG für die in dem Einspruchs- bzw. Klageverfahren anzuwendende Vorschrift gegebenenfalls Gesetzeskraft haben und eine eindeutige Antwort auf die dort strittige verfassungsrechtliche Streitfrage geben wird, so daß sich der verfassungsrechtliche Streit durch die Entscheidung in dem bereits beim BVerfG anhängigen Verfahren erledigen wird.

c) Einem Steuerpflichtigen, der verfassungsrechtliche Einwände gegen einen vorläufigen Bescheid klageweise geltend machen und das damit für ihn verbundene Kostenrisiko auf sich nehmen will, kann folglich das Rechtsschutzbedürfnis an einer Entscheidung des FG bzw. des BFH über die Verfassungsmäßigkeit der betreffenden Rechtsvorschriften nicht allein deshalb abgesprochen werden, weil die Erwartung besteht, daß beim BVerfG wegen anderer Rechtsvorschriften anhängige Verfahren zur Klärung verfassungsrechtlicher Beurteilungsmaßstäbe führen können, die auch für jene Vorschriften von Bedeutung sind. Das ergibt sich aus der vorgenannten Rechtsprechung des BFH, ohne daß es noch der Klärung in einem Revisionsverfahren bedürfte.

2. Sofern der Beschwerde die weitere Frage zu entnehmen ist, ob bei einem vorläufigen Steuerbescheid ein Rechtsbehelf unzulässig ist, wenn ein Musterverfahren zwar nicht beim BVerfG, aber bereits beim BFH anhängig ist, könnte auch diese Frage die Zulassung der Revision nicht rechtfertigen. Denn sie würde sich in dem angestrebten Revisionsverfahren nicht stellen. Im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung gab es beim BFH kein Verfahren, das die Anforderungen an ein Musterverfahren erfüllte, in dem also die Verfassungsmäßigkeit des Kinderfreibetrages für ein Kind im Jahre 1991 oder zumindest in einem von § 32 Abs.6 EStG i.d.F. des Steuerreformgesetzes 1990 betroffenen Streitjahr zu beurteilen gewesen wäre; auch die Beschwerde hat ein solches Verfahren nicht benannt.

Im übrigen ist nach den eben dargestellten Grundsätzen (s. insbesondere Urteil vom 8. Juni 1990 III R 41/90, BFHE 161, 1, BStBl II 1990, 944, und Beschluß des Senats vom 8. Mai 1992 III B 123/92, BFH/NV 1993, 244; vgl. auch Brockmeyer, Deutsche Steuer-Zeitung --DStZ-- 1996, 1, 3) das Rechtsschutzbedürfnis für einen Rechtsbehelf gegen einen vorläufigen Bescheid grundsätzlich nur dann zu verneinen, wenn feststeht, daß sich der verfassungsrechtliche Streit durch die Entscheidung in einem bereits anhängigen Musterverfahren erledigen wird. Diese Voraussetzung ist bei einem beim BFH anhängigen Musterverfahren im allgemeinen nicht erfüllt, weil über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes abschließend das BVerfG befindet.

3. Soweit die Beschwerde geltend macht, daß das FG im Streitfall zu Unrecht den von der Klägerin erhobenen Einspruch als unzulässig angesehen habe, weil ein Musterverfahren im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung des BFH nicht anhängig gewesen sei, wendet sie sich lediglich gegen die Richtigkeit der Entscheidung des FG, ohne damit einen Grund für die Zulassung der Revision dargetan zu haben. Eine Divergenz (§ 115 Abs.2 Nr.2 FGO) ist in der Beschwerdeschrift nicht bezeichnet.

4. Der von der Beschwerde geltend gemachte Verfahrensmangel ist nicht schlüssig dargetan. Hatte die Klägerin trotz der Vorläufigkeit des Bescheides und der Anhängigkeit vorgreiflicher Streitverfahren beim BVerfG ein Rechtsschutzbedürfnis, hätte das FG die Klage zu Unrecht abgewiesen, weil der Einspruch nicht unzulässig war. Dies wäre indes kein Verfahrensfehler, sondern ein materiell-rechtlicher Mangel des FG-Urteils. Denn das FG hätte nicht das für sein gerichtliches Verfahren maßgebliche Recht, sondern allenfalls die AO 1977 falsch angewandt. Ein solcher Mangel fiele nicht unter § 115 Abs.2 Nr.3 FGO (BFH-Beschluß vom 9. Februar 1994 V B 198/93, BFH/NV 1995, 602, und Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3.Aufl., § 115 Rdnr.25, m.w.N.).

Eine unzutreffende Beurteilung der Zulässigkeit des Einspruches wirkte sich auch nicht in einem Verfahrensmangel aus. Auch wenn das FG bei einem zulässigen Einspruch über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides und damit über die Verfassungsmäßigkeit des Kinderfreibetrages entscheiden und gegebenenfalls das BVerfG nach Art.100 GG hätte anrufen müssen, stellte ein diesbezügliches Versäumnis ebenfalls keinen Verfahrensmangel, sondern einen materiell-rechtlichen Mangel der angegriffenen Entscheidung dar.

5. Die Voraussetzungen für eine Aussetzung des Beschwerdeverfahrens entsprechend § 74 FGO liegen nicht vor; denn eine Norm, wegen deren Verfassungsmäßigkeit beim BVerfG ein Musterverfahren anhängig ist, ist für die Entscheidung nicht maßgeblich (vgl. Beschluß des Senats in BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408).

 

Fundstellen

Haufe-Index 65791

BFH/NV 1996, 320

BStBl II 1996, 506

BFHE 180, 217

BFHE 1997, 217

BB 1996, 1755-1757 (LT)

DB 1996, 1808 (L)

DStR 1996, 1325-1326 (KT)

DStZ 1996, 636-637 (KT)

HFR 1996, 716-717 (L)

StE 1996, 547-548 (K)

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