Entscheidungsstichwort (Thema)

Abgeltungswirkung der Entfernungspauschale bei atypischen Dienstzeiten (hier: Opernchorsänger)

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Abgeltungswirkung der Entfernungspauschale greift auch dann ein, wenn wegen atypischer Dienstzeiten Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zweimal arbeitstäglich erfolgen.

2. Der Gesetzgeber war von Verfassungs wegen nicht verpflichtet, für atypische Dienstzeiten eine Ausnahme von der Abgeltungswirkung der Entfernungspauschale vorzunehmen.

 

Normenkette

EStG § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 4; GG Art. 3 Abs. 1

 

Verfahrensgang

FG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 15.04.2003; Aktenzeichen 2 K 2429/02)

 

Nachgehend

BVerfG (Beschluss vom 26.10.2005; Aktenzeichen 2 BvR 2085/03)

 

Tatbestand

Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) war im Streitjahr 2001 als Opernchorsänger bei einem Staatstheater angestellt. Für die Fahrten zwischen seiner Wohnung und der 35 km entfernten Arbeitsstätte machte er an 270 Arbeitstagen die Entfernungspauschale des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) geltend, die der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ―FA―) bei der Veranlagung berücksichtigte. Darüber hinaus beantragte er ―ebenfalls an 270 Tagen― Fahrtkosten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte nach Dienstreisegrundsätzen in Höhe von (270 x 30 x 2 x 0,58 DM =) 9 396 DM anzuerkennen. Hierzu legte er eine Bescheinigung des Staatstheaters vor, nach der seine Dienstzeiten von 10.00 bis 13.00 Uhr und ab 18.00 Uhr bis Proben-/Vorstellungsende betragen hätten. Durch die Entfernungspauschale würden nur typische Fahrten zur Arbeitsstätte abgegolten. Würden atypische Fahrten ―wie im Streitfall― nicht gesondert berücksichtigt, läge darin eine den Gleichheitssatz verletzende verfassungswidrige Besteuerung. Dem folgte das FA, auch in der Einspruchsentscheidung, nicht. Das Finanzgericht (FG) wies die hiergegen erhobene Klage ab.

Mit der Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger geltend, die Regelung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG verstoße gegen den Gleichheitssatz, da sie dem künstlerisch tätigen Personal der deutschen Musiktheater im Gegensatz zu den dort nicht aufgrund eines Jahresvertrages beschäftigten Personen verwehre, diejenigen beruflichen Aufwendungen als Werbungskosten geltend zu machen, die diesen ebenso zuständen, wie den übrigen Künstlern, die musikalische Leistungen darböten. Er, der Kläger, habe lt. Tarifvertrag an jedem Arbeitstag einschließlich der Sonn- und Feiertage Dienste für die Einstellungsbühne abzuleisten, die im Wesentlichen regelmäßig vormittags die Teilnahme an Bühnenproben und speziellen Chorgesangsproben und abends die Teilnahme an Aufführungen des Theaters im Bühnendienst beinhalteten. Daneben sei er verpflichtet, zeitlich unbegrenzt an Generalproben und Proben in Kostüm und Maske teilzunehmen, die im Wesentlichen an vorstellungsfreien Tagen des Theaters stattfänden. Als einzuhaltende Ruhezeiten ergäben sich die elfstündige Nachtruhezeit sowie die fünfstündige Ruhezeit vor den Vorstellungen und die vierstündige Ruhezeit zwischen zwei Proben. Dieser Ruhezeiten bedürfe er, um sich insbesondere aus stimmphysiologischen Gründen von vorangegangenen Arbeitsleistungen zu erholen, Texte und Partituren für die jeweils bevorstehende Aufführung zu repetieren, um Stimmübungen durchzuführen und sich auf die jeweils bevorstehende Vorstellung einzusingen. Leistungen, die in Ruhezeiten zu erbringen seien, erforderten eine den individuellen Bedürfnissen entsprechende Umgebung, die es erlaube, Sprach- und Gesangsübungen in entsprechend ausgestatteten, möglichst mit Klavier oder Keyboard versehenen Räumen durchzuführen. Derartige Räume ständen in den Theatern für Opernchormitglieder nicht zur Verfügung, weil die individuelle Vorbereitung bei gleichzeitiger Anwesenheit mehrerer Personen nicht durchführbar sei. Besonders zu berücksichtigen sei, dass die Berufsgruppe der Opernchormitglieder in Vorstellungsdiensten regelmäßig Nachtarbeit zu verrichten habe, die dazu führe, dass nach Ende der Proben bzw. Vorstellungen für den Weg zur Wohnung häufig öffentliche Verkehrsmittel nicht mehr zur Verfügung ständen, weshalb ein PKW benutzt werden müsse. Außerdem müssten sich Opernchormitglieder außerhalb der städtischen Zentren ansiedeln, damit sie das Einsingen und die Vorstellungsvorbereitungen mit musikalischer Begleitung durchführen könnten, ohne Nachbarn zu belästigen. Daraus folge, dass er, der Kläger, täglich mindestens zweimal mit einer Arbeitsunterbrechung von fünf Stunden an seinem Arbeitsplatz erscheinen müsse, weil er sich zwischenzeitlich individuell vorbereiten müsse, was nur zu Hause möglich sei. Die steuerliche Neuregelung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG führe zu einer ungerechtfertigten Benachteiligung der Opernchormitglieder gegenüber allen anderen Arbeitnehmern, die ihren Wohnort nach dem Arbeitsplatz so ausrichten könnten, dass der Arbeitsweg auch ohne privates Kfz zurückgelegt werden könne.

Der Kläger beantragt, die Revision zuzulassen.

Das FA beantragt, die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen und begründet dies im Einzelnen.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist unbegründet. Sowohl die Frage, ob die Entfernungspauschale auch in Fällen wie dem vorliegenden die gesamten Fahrtkosten abgilt, als auch die Frage, ob die Regelung insofern verfassungskonform ist, bedarf keiner weiteren Klärung, weil beide Fragen offensichtlich in der Weise zu beantworten sind, wie es das angefochtene Urteil getan hat.

1. Gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Sätze 1 und 2 EStG sind Werbungskosten auch Aufwendungen des Arbeitnehmers für die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte. Zur Abgeltung dieser Aufwendungen ist für jeden Arbeitstag, an dem der Arbeitnehmer die Arbeitsstätte aufsucht, eine Entfernungspauschale für jeden vollen Kilometer der Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte von 0,70 DM (jetzt: 0,36 €) für die ersten zehn Kilometer und von 0,80 DM (jetzt: 0,40 €) für jeden weiteren Kilometer anzusetzen. Danach ist ―von hier nicht interessierenden Ausnahmen abgesehen― für jeden Arbeitstag, an dem die Arbeitsstätte aufgesucht wird, der sich aus der Entfernung zur Wohnung ergebende Betrag anzusetzen, und zwar unabhängig davon, wie oft die Strecke je Arbeitstag zurückgelegt wird, welches Verkehrsmittel benutzt wird und welche Kosten tatsächlich angefallen sind. Dies ergibt sich aus Wortlaut, Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck der Norm.

a) Aus der Formulierung in § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 2 EStG "zur Abgeltung … ist für jeden Arbeitstag … anzusetzen" ergibt sich unmissverständlich, dass der Abzugsbetrag ungeachtet tatsächlich höherer oder niedrigerer Aufwendungen je Arbeitstag berücksichtigt wird. Dies wird zudem durch § 9 Abs. 2 Satz 1 EStG nochmals bestätigt.

b) Dieser Wortlaut lässt eine Ausnahme auch nicht für Fahrten zu, die durch einen zusätzlichen Arbeitseinsatz außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit oder durch eine Arbeitszeitunterbrechung von mindestens vier Stunden veranlasst sind. Denn die diesbezügliche Ausnahmevorschrift, die vor Einführung der Entfernungspauschale gegolten hat (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Satz 2 EStG bis 2000), ist mit der Begründung nicht übernommen worden, dies diene der Vereinfachung und berücksichtige, dass durch zusätzliche Fahrten nicht zwangsläufig zusätzliche Kosten anfielen, so z.B. nicht bei Zeitkarten für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel (BTDrucks 14/4242, 6).

c) Diese Auslegung wird durch Sinn und Zweck der Vorschrift bestätigt. Sie dient dadurch der Vereinfachung, dass grundsätzlich nur noch die Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte und die Anzahl der Arbeitstage festgestellt werden muss. Dadurch entfällt für den Steuerpflichtigen das Erfordernis, seine Aufwendungen zu belegen und für die Verwaltung eine diesbezügliche Überprüfung. Damit ist verbunden, dass einzelne Steuerpflichtige ―gemessen am sonst geltenden Grundsatz des Nachweises tatsächlicher Aufwendungen― durch die Regelung begünstigt und andere benachteiligt werden. Solche Folgen sind jeder abgeltenden Typisierung immanent, da hinsichtlich der Abzugsbeträge nicht auf die Besonderheiten des jeweils verwirklichten individuellen Sachverhaltes abgestellt, sondern ein typischer Sachverhalt der Besteuerung zugrunde gelegt wird. Damit stellen sich Probleme tatsächlicher und rechtlicher Art nicht, die bei individueller Betrachtung zu lösen wären.

2. Die nach den obigen Kriterien vorzunehmende Auslegung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG ergibt, dass sämtliche Fahrten des Klägers zwischen seiner Wohnung und seiner regelmäßigen Arbeitsstätte im Staatstheater mit der Entfernungspauschale abgegolten sind. Insbesondere ist wegen des eindeutigen Wortlautes und des damit verfolgten Zwecks keine Einschränkung des Anwendungsbereichs des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG im Wege einer teleologischen Reduktion auf "normale" oder "typische" Arbeitsverhältnisse möglich, mit der Folge, dass die Entfernungspauschale bei atypischen Arbeitszeiten keine Anwendung fände. Vielmehr sind nach dem Willen des Gesetzgebers, der im Gesetzeswortlaut seinen Niederschlag gefunden hat, auch solche Fälle einzubeziehen, bei denen nach der Eigenart der geschuldeten Arbeit typischerweise zwei Fahrten arbeitstäglich zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte anfallen können.

Entgegen der Ansicht des Klägers kann die weitere Fahrt auch nicht als Dienstreise beurteilt werden. Eine solche liegt bei einer vorübergehenden Auswärtstätigkeit vor, bei der der Arbeitnehmer sowohl außerhalb der Wohnung als auch außerhalb seiner regelmäßigen Arbeitsstätte beruflich tätig wird (vgl. R 37 Abs. 3 der Lohnsteuer-Richtlinien ―LStR―; Urteil des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 10. Oktober 1994 VI R 2/92, BFHE 175, 553, BStBl II 1995, 137). Eine derartige Auswärtstätigkeit hat der Kläger nach den Feststellungen des FG nicht ausgeübt. Eine Dienstreise wäre auch nicht anzunehmen, wenn der Kläger ―wie er unwidersprochen vorträgt― auch zu Hause beruflich tätig war. Denn dies ändert nichts daran, dass seine Fahrt von der Wohnung zur regelmäßigen Arbeitsstätte weiterhin unter § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG fällt (BFH-Urteil vom 19. August 1998 XI R 90/96, BFH/NV 1999, 41; BFH-Beschlüsse vom 26. Mai 1992 IV B 96/91, BFH/NV 1992, 661; vom 28. Oktober 1998 IV B 21/98, BFH/NV 1999, 609; vom 16. Dezember 1998 IV B 42/98, BFH/NV 1999, 615). Insbesondere sind derartige Fahrten nicht mit solchen zwischen zwei nebeneinander bestehenden regelmäßigen Arbeitsstätten gleichzusetzen (vgl. hierzu BFH-Urteile vom 9. Dezember 1988 VI R 199/84, BFHE 155, 362, BStBl II 1989, 296, und vom 7. Juni 2002 VI R 53/01, BFHE 199, 329, BStBl II 2002, 878).

3. Es begegnet auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass in die Entfernungspauschale atypische Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte einbezogen sind.

a) Zunächst ist der Auffassung des Klägers nicht zu folgen, er würde gegenüber Künstlern benachteiligt, die ihren Beruf nicht wie er als Arbeitnehmer nachgingen. Denn auch für solche greift die Entfernungspauschale ein, wenn das Staatstheater ihre regelmäßige Betriebsstätte darstellt (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6 Sätze 1 und 2 EStG). Andernfalls liegt kein vergleichbarer Sachverhalt vor, der auch nicht gleichbehandelt werden muss.

b) Der Senat braucht nicht der Frage nachzugehen, ob sämtliche Regelungsinhalte des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG verfassungsrechtlichen Anforderungen standhalten (vgl. dazu Thomas, Deutsche Steuer-Zeitung ―DStZ― 2002, 877, 880, m.w.N.). Jedenfalls ist die hier zu beurteilende Frage, ob der Gesetzgeber von Verfassungs wegen verpflichtet war, Fälle wie den des Klägers von der gesetzlichen Typisierung auszunehmen, zu verneinen.

Der Gesetzgeber darf sich grundsätzlich am Regelfall orientieren und ist nicht gehalten, allen Besonderheiten jeweils durch Sonderregelungen Rechnung zu tragen. Diese gesetzlichen Verallgemeinerungen müssten allerdings auf eine möglichst weite, alle betroffenen Gruppen und Regelungsgegenstände einschließende Beobachtung aufbauen. Der Gesetzgeber hat vor allem bei der Ordnung von Massenerscheinungen und deren Abwicklung einen ―freilich nicht unbegrenzten― Raum für generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen. Dabei fordert der Gleichheitssatz nicht eine immer mehr individualisierende und spezialisierende Gesetzgebung, die letztlich die Gleichmäßigkeit des Gesetzesvollzugs gefährdet, sondern die Regelung eines allgemein verständlichen und möglichst unausweislichen Belastungsgrundes (Bundesverfassungsgericht ―BVerfG―, Urteil vom 7. Dezember 1999 2 BvR 301/98, BVerfGE 101, 297, BStBl II 2000, 162, und Beschluss vom 10. April 1997 2 BvL 77/99, BStBl II 1997, 518, jeweils m.w.N). Demgegenüber ist Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes jedenfalls dann verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonst wie sachlich einleuchtender Grund für eine gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden lässt (BVerfG-Beschluss vom 4. Dezember 2002 2 BvR 400/98 und 1735/00, BStBl II 2003, 534).

Wendet man diese Grundsätze auf den hier streitigen Punkt der Einbeziehung weiterer Fahrten zur regelmäßigen Arbeitsstätte an, ist nicht erkennbar, dass der Gesetzgeber das ihm eingeräumte Regelungsermessen überschritten hätte. Dabei kann offen bleiben, ob der Kläger ―wie er wenigstens mittelbar vorträgt― aus beruflichen Gründen seine Wohnung 30 km von seinem Arbeitsplatz entfernt nehmen, Zwischenheimfahrten an 270 Arbeitstagen vornehmen und sich dabei des eigenen PKW bedienen musste. Denn es stand dem Gesetzgeber frei, für die Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte eine typisierende Abgeltungsregelung zu treffen, auch wenn dadurch nicht in allen Fällen die tatsächlich angefallenen Aufwendungen abgedeckt werden. Der Gesetzgeber war auch nicht gezwungen, für die vergleichsweise geringe Zahl atypischer Beschäftigungsverhältnisse Ausnahmeregelungen zu treffen, zumal es von den Verhältnissen des Einzelfalles abhängt, in welchem Umfang Fahrtkosten für den betreffenden Steuerpflichtigen zwangsläufig entstehen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1016860

BFH/NV 2003, 1657

BStBl II 2003, 893

BFHE 2004, 166

BFHE 203, 166

BB 2003, 2447

DB 2004, 118

DStR 2003, 1920

DStRE 2003, 1423

HFR 2003, 1157

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