Neben dem gesetzlichen Weiterbeschäftigungsanspruch nach § 102 Abs. 5 BetrVG gibt es den sog. allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruch. Dieser beruht auf richterlicher Rechtsfortbildung.

Der Große Senat des BAG maß mit seinem grundlegenden Beschluss vom 27.2.1985 den ideellen Beschäftigungsinteressen des Arbeitnehmers einen verfassungsrechtlichen Rang bei. Angesichts der in Art. 1 GG und Art. 2 GG getroffenen Wertentscheidungen sah er in deren Nichtberücksichtigung im Dienstvertragsrecht des BGB eine Regelungslücke.[1] Diese schloss er im Wege ergänzender richterlicher Rechtsfortbildung durch Anerkennung des (Weiter-)Beschäftigungsanspruchs. Rechtsgrundlage sind § 611 BGB, § 242 BGB, Art. 1 GG und Art. 2 GG.

Ob im Einzelfall die Interessen des Arbeitgebers, den gekündigten Arbeitnehmer nicht wieder im Betrieb zu haben, oder die Interessen des Arbeitnehmers, während des monate- oder jahrelangen Kündigungsrechtsstreits den Bezug zu seiner Arbeit und den Kontakt zu seiner Arbeitsstelle nicht zu verlieren, überwiegen, ist Frage einer Interessenabwägung.

2.1 Voraussetzungen

Der Weiterbeschäftigungsanspruch stellt nach den Grundsätzen des Großen Senates geringe formale, jedoch hohe materielle Anforderungen:

  1. Die Beschäftigungsinteressen des Arbeitnehmers überwiegen. Das ist anzunehmen bei offensichtlich unwirksamer Kündigung oder bei erstinstanzlichem Obsiegen des Arbeitnehmers im Kündigungsschutzprozess (der in der Praxis relevante Fall).
  2. Es dürfen keine höherrangigen Gegengründe des Arbeitgebers bestehen.

Ein Auflösungsantrag schafft eine zusätzliche Ungewissheit über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses und begründet ein schutzwertes Interesse des Arbeitgebers an der Nichtbeschäftigung.[1] Wird neben dem Kündigungsschutzantrag die Weiterbeschäftigung und Auflösung begehrt, ist die Weiterbeschäftigungsklage deshalb nicht schlüssig.

2.1.1 Offensichtlich unwirksame Kündigung

Der allgemeine Weiterbeschäftigungsanspruch besteht schon vor der erstinstanzlichen Entscheidung, wenn die Kündigung offensichtlich unwirksam ist. Für diesen Fall überwiegen die Beschäftigungsinteressen des Arbeitnehmers.

Offensichtlich unwirksam ist die Kündigung, wenn dieser die Unwirksamkeit gleichsam auf der Stirn geschrieben steht. Die Unwirksamkeit muss ohne jeden vernünftigen Zweifel in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht offen zutage liegen. Sie muss sich jedem Kundigen geradezu aufdrängen.[1] Ist erst eine Würdigung der Kündigungsgründe oder gar Beweisaufnahme notwendig, ist die Kündigung nicht offensichtlich unwirksam.

 
Praxis-Beispiel

Offensichtlich unwirksame Kündigung

Der Betriebsrat wurde unstreitig nicht oder nicht ordnungsgemäß angehört oder die Kündigung erfolgte unter Verstoß gegen das Mutterschutzgesetz oder das Schwerbehindertengesetz.

2.1.2 Obsiegen im Kündigungsschutzprozess

Obsiegt der Arbeitnehmer mit der Kündigungsschutzklage, überwiegen seine Beschäftigungsinteressen. Die Entscheidung über die Wirksamkeit der Kündigung ist zwar noch nicht rechtskräftig. Der Arbeitgeber hatte jedoch Gelegenheit, in einem ordentlichen Prozessverfahren die Kündigungsgründe vorzutragen und Beweismittel zu benennen. Führt die erstinstanzliche Würdigung dennoch dazu, dass die Kündigung für unwirksam erachtet wurde, ist die Rechtslage vorläufig soweit geklärt, dass die Interessen des Arbeitgebers an der Nichtbeschäftigung zurückstehen müssen.

Aus der Verurteilung des Arbeitgebers zur vorläufigen Weiterbeschäftigung ergibt sich keine Pflicht des Arbeitnehmers, auch tatsächlich weiterzuarbeiten. Diese ergibt sich nur aus dem betriebsverfassungsrechtlichen Weiterbeschäftigungsanspruch oder wenn der Arbeitgeber die Kündigung zurücknimmt.

Die Interessenlage kann sich allerdings wieder ändern, wenn das Berufungsgericht das arbeitsgerichtliche Urteil abändert. Es ist auch möglich, dass das Berufungsgericht bei entsprechender Interessenlage erstmals zur Weiterbeschäftigung verurteilt. Selbst wenn das LAG die Revision nicht zulässt, wird das Berufungsurteil über die Kündigungsschutzklage mit Verkündung nicht rechtskräftig. Es ist ja noch Nichtzulassungsbeschwerde möglich.

 
Wichtig

Wird der Arbeitgeber in erster Instanz zur Weiterbeschäftigung verurteilt und beschäftigt er zur Abwendung der Zwangsvollstreckung den Arbeitnehmer weiter, kann es vorkommen, dass dann in der Berufung das arbeitsgerichtliche Urteil abgeändert, die Klage abgewiesen, aber die Revision zugelassen wird. In dem Fall darf die Weiterbeschäftigung nicht über die Verkündigung des Urteils des Berufungsgerichtes (Landesarbeitsgericht) hinaus erfolgen, denn ansonsten entsteht ein unbefristetes Arbeitsverhältnis.[1]

Soll der Arbeitnehmer einvernehmlich weiterbeschäftigt werden bis zum Abschluss des Rechtsstreits (sog. Prozessbeschäftigung), ist das ein zweckbefristeter Arbeitsvertrag, der nach § 14 Abs. 4 TzBfG der Schriftform bedarf. Vor der Weiterarbeit muss die entsprechende Vereinbarung daher schriftlich zustande gekommen sein. Zudem muss vor seinem Ende eine Zweckerr...

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