Entscheidungsstichwort (Thema)

Kürzung einer tariflichen Sonderzahlung bei Krankengeldbezug für die Pflege eines erkrankten Kindes. Feststellungsklage. Gratifikation/Sondervergütung. Tarifauslegung. Prozeßrecht

 

Leitsatz (amtlich)

Eine tarifliche Regelung, nach der in den Fällen des Ausscheidens, der Neueinstellung, des Ruhens des Arbeitsverhältnisses, des unbezahlten Sonderurlaubs und des Krankengeldbezugs ein anteiliger Anspruch auf 1/12 der Sonderzahlungen (13. und 14. Monatsgehalt) für jeden vollen Monat im Kalenderjahr, in dem die Arbeitnehmer gearbeitet haben, entsteht, ist dahingehend auszulegen, daß nicht schon der Bezug von Krankengeld gem. § 45 SGB V für einen Arbeitstag wegen der Pflege eines erkrankten Kindes den Arbeitgeber zur Kürzung der vollen Sonderzahlungen berechtigt.

 

Orientierungssatz

  • Würde die für den Fall des Krankengeldbezuges vorgesehene Verminderung von Sonderzahlungen (13. und 14. Monatsgehalt) dazu führen, daß ein Arbeitnehmer seinen Anspruch aus § 45 SGB V nur unter Inkaufnahme überproportionaler Vergütungseinbußen (1/12 der Sonderzahlungen bei einem Fehltag) wahrnehmen könnte, würde eine entsprechende individualrechtliche Regelung gegen das Maßregelungsverbot des § 612a BGB verstoßen.
  • Im Zweifel kann nicht angenommen werden, daß eine entsprechende tarifliche Regelung eine derartige Kürzung zuläßt, zumal sie dann gemessen an Art. 6 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich bedenklich wäre. Tarifverträge sind nach Möglichkeit so auszulegen, daß sie zu einer vernünftigen, sachgerechten, verfassungs- und gesetzeskonformen Lösung führen und nicht gegen tragende Grundsätze des Arbeitsrechts verstoßen.
  • Bestand im Zeitpunkt der Erhebung einer Feststellungsklage das gem. § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse, ist der Kläger grundsätzlich nicht genötigt, zur Leistungsklage überzugehen, wenn im Laufe des Rechtsstreits eine bezifferte Leistungsklage möglich wird.
 

Normenkette

MTV für die Beschäftigten in der Wohnungswirtschaft im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland vom 3. Juni 1997 §§ 8, 13; BGB §§ 133, 247, 288, 291, 612a, 616; SGB V § 45; SGB X § 115; GG Art. 6 Abs. 2; ZPO § 256

 

Verfahrensgang

LAG Düsseldorf (Urteil vom 13.09.2001; Aktenzeichen 15 Sa 432/01)

ArbG Essen (Urteil vom 25.01.2001; Aktenzeichen 3 Ca 3703/00)

 

Tenor

  • Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 13. September 2001 – 15 Sa 432/01 – aufgehoben.
  • Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Essen vom 25. Januar 2001 – 3 Ca 3703/00 – teilweise abgeändert:

    • Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 143,42 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 25. Oktober 2000 zu zahlen.
    • Es wird festgestellt, daß die Beklagte nicht berechtigt ist, Zeiten einer Krankengeldzahlung nach § 45 SGB V für die Pflege eines erkrankten Kindes der Klägerin anspruchsmindernd im Rahmen von § 8 Ziff. 6 MTV bei der Berechnung der Sonderzahlung nach § 8 Ziff. 1 MTV zu berücksichtigen.
  • Im übrigen wird die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.
  • Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt war, tarifliche Ansprüche der Klägerin auf Sonderzahlungen für das Jahr 2000 in Höhe von 1/12 zu kürzen, weil sie für einen Tag Krankengeld nach § 45 SGB V wegen der Betreuung eines erkrankten Kindes bezogen hat.

Die Klägerin ist seit ca. 14 Jahren für die Beklagte tätig. Auf das Arbeitsverhältnis findet aufgrund beiderseitiger Verbandszugehörigkeit der Manteltarifvertrag für die Beschäftigten in der Wohnungswirtschaft im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland vom 3. Juni 1997 (im folgenden: MTV) Anwendung. Dieser regelt die Zahlung von Sonderzuwendungen in § 8 wie folgt:

  • Alle Beschäftigten erhalten am 1. Dezember eines jeden Jahres zusätzlich 100 %der zu diesem Zeitpunkt vereinbarten Monatsvergütung (13. Monatsgehalt). Überstunden-, Leistungs- (§ 3 Abs. 3) und Erschwerniszulagen (§ 7 VTV) werden vorbehaltlich einer anderweitigen Regelung in einer Betriebsvereinbarung nicht eingerechnet.
  • Alle Beschäftigten in dem Gebiet, in dem schon vor dem 3. Oktober 1990 das Grundgesetz galt, erhalten ein zusätzliches Urlaubsgeld in Höhe von 100 %der nach dem Vergütungstarifvertrag vom 20. März 1996 zu zahlenden Monatsvergütung gem. § 4 (14. Monatsgehalt). Hinsichtlich der Zulagen gilt das in Abs. 1 Geregelte.
  • ...
  • Das Urlaubsgeld wird mit der Monatsvergütung für Juli ausgezahlt.
  • Ausscheidende oder neu eingestellte Beschäftigte sowie Beschäftigte, deren Arbeitsverhältnis ruht (Erziehungsurlaub, Wehrdienst) sowie bei unbezahltem Sonderurlaub und Krankengeldbezug, haben im Kalenderjahr für jeden vollen Monat, in dem sie gearbeitet haben, Anspruch auf 1/12 dieser Sonderzahlungen.

    Bei ausscheidenden Beschäftigten wird der anteilige Betrag am letzten Tag des Monats des Ausscheidens fällig.

  • ...”

§ 13 des Manteltarifvertrages verhält sich über Arbeitsbefreiungen wie folgt:

  • Beschäftigte werden zur Ausübung gesetzlich auferlegter Pflichten und zur Ausübung öffentlicher Ehrenämter unter Fortzahlung der Vergütung freigestellt. Soweit dabei Anspruch auf Verdienstausfall besteht, ist dieser in Anspruch zu nehmen. Diese Beträge sind dem Unternehmen bis zur Höhe seiner Aufwendungen abzuführen.

    Für die Freistellung zur Pflege erkrankter Kinder gilt § 45 SGB V mit der Maßgabe, daß § 616 BGB dabei nicht zur Anwendung kommt.

  • Zur Teilnahme an Tarifverhandlungen oder Tarifkommissionssitzungen oder für Tagungen satzungsgemäßer Gremien auf der Bundesebene der Gewerkschaften ist den Beschäftigten auf Anforderung einer der vertragschließenden Gewerkschaften Arbeitsbefreiung unter Fortzahlung der Vergütung zu gewähren. Eine Anrechnung auf den Erholungsurlaub ist nicht zulässig.
  • Zur Teilnahme an Sitzungen von Gremien der zuständigen Stellen für die Berufsausbildung werden die Beschäftigten unter Fortzahlung der Vergütung und ohne Anrechnung auf den Urlaub freigestellt.
  • Zur häuslichen Prüfungsvorbereitung werden die Auszubildenden an den beiden vor der Abschlußprüfung liegenden Arbeitstagen unter Fortzahlung der Ausbildungsvergütung und ohne Anrechnung auf den Urlaub freigestellt.”

Am 7. Februar 2000 erkrankte das damals drei Jahre alte Kind der Klägerin. In Absprache mit der Beklagten nahm sie für diesen Tag frei, um das Kind zu Hause zu pflegen. Sie erhielt für diesen Tag Krankengeld gem. § 45 SGB V. Die Beklagte kürzte die der Klägerin zustehende Sonderzahlung nach § 8 Ziff. 2 MTV (Urlaubsgeld) um 280,50 DM brutto und die zum 1. Dezember fällige Sonderzahlung nach § 8 Ziff. 1 MTV um einen Betrag von 354,00 DM brutto. Der Kürzungsbetrag entspricht 1/12 des Anspruchs auf Sonderzahlungen nach § 8 Ziff. 1 und 2 MTV.

Die Klägerin hält diese Kürzung für rechtswidrig. Sie vertritt die Auffassung, der Bezug von Krankengeld bei Erkrankung eines Kindes nach § 45 SGB V löse die Kürzung der Sonderzuwendungen nach § 8 Ziff. 6 MTV nicht aus. Der Tarifvertrag unterscheide zwischen dem Krankengeldbezug nach § 44 SGB V im Fall der Arbeitsunfähigkeit und dem Bezug von Krankengeld bei Erkrankung des Kindes nach § 45 SGB V. Eine Kürzung der Sonderzahlungen solle nach dem Tarifvertrag nur bei länger als sechs Wochen andauernder Arbeitsunfähigkeit ausgelöst werden, nicht aber bei der nur kurzfristigen Abwesenheit wegen der Betreuung eines erkrankten Kindes. Auch die Tarifvertragsparteien seien dem in Art. 6 GG gewährleisteten Schutz von Ehe und Familie verpflichtet. Es sei nicht anzunehmen, daß sie eine Benachteiligung wegen einer typischen familiären Situation hätten vereinbaren wollen.

Die Klägerin hat beantragt,

  • die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 280,50 DM brutto nebst 9,26 % Zinsen seit dem 2. Oktober 2000 zu zahlen,
  • festzustellen, daß im Falle der Betreuung eines erkrankten Kindes die Beklagte nicht berechtigt ist, von der Sonderzahlung (Weihnachtsgeld) einen Abzug von 1/12 vorzunehmen,

    zweitinstanzlich hilfsweise

    die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 354,00 DM brutto nebst 9,26 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte hat zu ihrem Klageabweisungsantrag die Auffassung vertreten, seinem Wortlaut nach erfasse § 8 Ziff. 6 MTV jede Form von Krankengeldzahlung. Die Klägerin habe nach § 13 Ziff. 1 Abs. 2 MTV für den 7. Februar 2000 keinen Anspruch auf Vergütung, sondern ausschließlich einen Anspruch auf Krankengeld nach § 45 SGB V gehabt. Nach § 8 Ziff. 6 MTV lösten nicht nur längerfristige Abwesenheitszeiten, sondern auch kurzfristige Zeiten des Krankengeldbezuges oder des unbezahlten Sonderurlaubs die Kürzung der Sonderzuwendungen aus.

Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben die Klage abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Klageanträge weiter.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf ungekürzte Sonderzahlungen gem. § 8 Ziff. 1 und Ziff. 2 MTV.

  • Das Landesarbeitsgericht hat ausgeführt, die Tarifvertragsparteien könnten bestimmen, inwiefern sich Zeiten ohne tatsächliche Arbeitsleistung anspruchsmindernd oder anspruchsausschließend auf Sonderzahlungen auswirken. Soweit in § 8 Ziff. 6 MTV von Krankengeldbezug die Rede sei, seien auch Fälle des Krankengeldbezuges nach § 45 SGB V erfaßt. Die Tarifvertragsparteien seien sich der Möglichkeit des Krankengeldbezuges nach § 45 SGB V bewußt gewesen. Dies ergebe sich aus § 13 Ziff. 1 Abs. 2 MTV, wonach § 616 BGB bei der Freistellung zur Pflege erkrankter Kinder nicht zur Anwendung komme. § 8 Ziff. 6 MTV knüpfe in Bezug auf die Kürzung von Sonderzuwendungen generell an das Fehlen von Ansprüchen auf Bezüge (Lohn- oder Lohnersatzleistungen) an. Auch in anderen Fällen – Krankengeldbezug von 31 Tagen, Sonderurlaub von einem Tag, Beschäftigungszeiten von etwas weniger als einem vollen Monat – werde die Kürzung der Sonderzuwendungen ausgelöst, auch wenn nur ein Tag an einem vollen Beschäftigungsmonat fehle. § 8 Ziff. 6 MTV sei auch nicht mittelbar frauendiskriminierend, weil nicht feststellbar sei, welches Geschlecht durch die Regelung überwiegend betroffen sei. Die Bestimmung verstoße auch nicht gegen Art. 6 GG, da der soziale Mindestschutz durch die Regelung des § 45 SGB V gewährleistet sei.
  • Dem folgt der Senat nicht.

    • Die Klage ist nicht nur im Zahlungsantrag zu 1, sondern auch im Feststellungsantrag (Hauptantrag zu 2) zulässig.

      • Die Klägerin hat die Unwirksamkeit der Kürzung der zum 1. Dezember fälligen Sonderzahlung bereits mit der am 16. Oktober 2000 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage geltend gemacht, weil die Beklagte bereits im Zusammenhang mit der Kürzung des Urlaubsgeldes nach § 8 Ziff. 2 MTV angekündigt hatte, auch bei der zum 1. Dezember 2000 fälligen Sonderzahlung eine Kürzung vornehmen zu wollen. Zum Zeitpunkt der Klageerhebung bestand somit das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse. Die Klägerin war auch nicht genötigt, von einer Feststellungsklage zur Leistungsklage überzugehen, nur weil die Bezifferung im Lauf des Rechtsstreits möglich wurde (BAG 18. März 1997 – 9 AZR 84/96 – BAGE 85, 306; BGH 30. Januar 1969 – X ZR 19/66 – LM ZPO § 256 Nr. 92; BGH 15. November 1977 – VI ZR 101/76 – BGHZ 70, 39).
      • Der Antrag bedarf allerdings der Auslegung. Er erfaßt dem Wortlaut nach alle Fälle der Betreuung erkrankter Kinder unabhängig davon, ob die Voraussetzungen eines Krankengeldbezuges für die Pflege eines erkrankten Kindes nach § 45 SGB V – ärztliches Zeugnis, versichertes Kind bis zum Alter von 12 Jahren, keine anderweitige Betreuungsmöglichkeit durch eine im Haushalt lebende Person – vorliegen. Der Klägerin geht es, wie sich der Klagebegründung und ihren weiteren Schriftsätzen entnehmen läßt, der Sache nach um ein Kürzungsverbot auf Grund der Zahlung von Krankengeld nach § 45 SGB V. Der Antrag kann insoweit klarstellend im Wege der Auslegung dahingehend präzisiert werden, daß die Klägerin die fehlende Berechtigung der Beklagten festgestellt wissen will, im Jahr 2000 und künftig Zeiten einer Krankengeldzahlung nach § 45 SGB V für die Pflege eines erkrankten Kindes anspruchsmindernd bei der Berechnung der Sonderzahlung nach § 8 Ziff. 1 MTV zu berücksichtigen.

        Es steht zu erwarten, daß die Klägerin auch zukünftig ihr Kind im Fall einer Erkrankung betreuen und nach Maßgabe von § 45 SGB V Krankengeld beziehen möchte. Der Feststellungsantrag ist die geeignete Klageart, um dem Grunde nach die Frage der Zulässigkeit einer Kürzung der Sonderzuwendung zu klären.

    • Die Klage ist mit den Hauptanträgen, entgegen der Ansicht der Vorinstanzen, auch begründet.

      • Der Klägerin steht nach § 8 Ziff. 2 MTV für das Jahr 2000 die volle Sonderzahlung (Urlaubsgeld) in Höhe von 100 %der nach dem Vergütungstarifvertrag vom 20. März 1996 zu zahlenden Monatsvergütung zu.

        • Die Anspruchsvoraussetzungen nach § 8 Ziff. 2 MTV für den Bezug des zusätzlichen Urlaubsgelds (14. Monatsgehalt) liegen vor. Die Klägerin ist Beschäftigte der Beklagten in einem Gebiet, in dem schon vor dem 3. Oktober 1990 das Grundgesetz galt.
        • Dem vollen Anspruch auf diese Leistungen steht nicht entgegen, daß die Klägerin am 7. Februar 2000 unbezahlt von der Erbringung der Arbeitsleistung freigestellt war und Krankengeld bei Erkrankung des Kindes nach § 45 SGB V bezogen hat. Soweit nach § 8 Ziff. 6 MTV Beschäftigte bei Krankengeldbezug (nur) für jeden vollen Monat, in dem sie gearbeitet haben, Anspruch auf 1/12 der Sonderzahlungen haben, findet diese Vorschrift auf Fälle der Krankengeldzahlung bei Erkrankung eines Kindes nach § 45 SGB V keine Anwendung. Dies ergibt die Auslegung der Norm.

          • Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Wortlaut zu haften (§ 133 BGB). Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm sind mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien wie Tarifgeschichte, praktische Tarifübung und Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt (BAG 20. März 2002 – 10 AZR 518/01 – zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen; 20. April 1994 – 10 AZR 276/93 – AP BAT §§ 22, 23 Zulagen Nr. 11).
          • Aus dem Wortlaut der Tarifnorm ergibt sich entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts nicht eindeutig, daß die Tarifvertragsparteien den Fall der Krankengeldzahlung bei Erkrankung eines Kindes nach § 45 SGB V als Krankengeldbezug im Sinne von § 8 Ziff. 6 MTV verstehen wollten. Zwar sind sowohl die Krankengeldleistungen bei Arbeitsunfähigkeit nach § 44 SGB V wie auch bei Erkrankung eines Kindes nach § 45 SGB V gemeinsam im Zweiten Titel des Fünften Abschnitts des SGB V unter dem Oberbegriff “Krankengeld” geregelt. Während § 44 jedoch nur überschrieben ist mit “Krankengeld”, enthält § 45 SGB V ausdrücklich den Zusatz “Krankengeld bei Erkrankung des Kindes”. Nach allgemeinem Sprachgebrauch werden unter dem Begriff Krankengeld (ohne weiteren Zusatz) aber regelmäßig Leistungen (nur) bei Arbeitsunfähigkeit verstanden (vgl. Brockhaus/Wahrig Deutsches Wörterbuch Band 4 S 295). Ohne weiteren Zusatz kann dem von den Tarifvertragsparteien verwendeten Begriff des “Krankengeldbezuges” in § 8 Ziff. 6 MTV deshalb nicht eindeutig der Wille entnommen werden, auch Zeiten einer Inanspruchnahme von Leistungen nach § 45 SGB V anspruchsmindernd zu berücksichtigen.
          • Der von den Tarifvertragsparteien mit der Tarifnorm des § 8 Ziff. 6 MTV verfolgte Zweck spricht nicht dafür, Zeiten der Krankengeldzahlung bei Erkrankung eines Kindes nach § 45 SGB V neben den Zeiten einer Krankengeldzahlung bei Arbeitsunfähigkeit nach § 44 SGB V bei der Berechnung der Ansprüche auf Sonderzahlungen nach § 8 Ziff. 1 und Ziff. 2 MTV anspruchsmindernd zu berücksichtigen. Der Zweck einer tariflichen Leistung ist ebenfalls im Wege der Auslegung zu ermitteln. Er ergibt sich aus den in der Regelung normierten Voraussetzungen sowie den Ausschluß- und Kürzungstatbeständen, die die Tarifvertragsparteien im Rahmen ihres Gestaltungsspielraums festgelegt haben (BAG 24. März 1993 – 10 AZR 160/92 – AP BGB § 611 Gratifikation Nr. 152).

            • § 8 Ziff. 6 MTV beschränkt den Anspruch auf die Sonderzahlungen nach § 8 Ziff. 1 (13. Monatsgehalt) und Ziff. 2 MTV (14. Monatsgehalt). Ein Anspruch auf Sonderzahlungen soll danach bei ausscheidenden und neu eingestellten Beschäftigten, Beschäftigten, deren Arbeitsverhältnis ruht, sowie bei unbezahltem Sonderurlaub und Krankengeldbezug grundsätzlich nur für jeden vollen Monat, in dem sie gearbeitet haben, in Höhe von 1/12 der Sonderzahlungen entstehen. Der Sache nach handelt es sich, obwohl die Norm anspruchsbegründend formuliert ist, um eine Kürzungsvorschrift, die den nach § 8 Ziff. 1 und 2 MTV bestehenden Anspruch auf die Sonderzahlungen beschränkt. Eine solche Regelung ist grundsätzlich zulässig; Tarifvertragsparteien können im einzelnen bestimmen, welche Zeiten ohne tatsächliche Arbeitsleistung sich anspruchsmindernd oder anspruchsausschließend auf die Sonderzahlung auswirken sollen (BAG 12. Juli 1995 – 10 AZR 511/94 – AP BGB § 611 Gratifikation Nr. 182 = EzA BGB § 611 Gratifikation, Prämie Nr. 129). Ein Anspruch auf Sonderzahlungen soll nach der tariflichen Regelung grundsätzlich für Zeiten der Beschäftigung oder des Bezuges von Lohnersatzleistungen entstehen.
            • Daraus folgt jedoch nicht, daß nach dem Willen der Tarifvertragsparteien auch Zeiten der Betreuung eines erkrankten Kindes, für die der Arbeitnehmer Krankengeld nach § 45 SGB V bezogen hat, im Rahmen von § 8 Ziff. 6 MTV anspruchsmindernd wirken. Dies zeigt eine vergleichende Betrachtung mit den übrigen in § 8 Ziff. 6 aufgeführten Tatbeständen.

              Erziehungsurlaub und Wehrdienst führen in aller Regel zu einer längeren Zeit des Ruhens des Arbeitsverhältnisses. Beim Ein- oder Austritt eines Arbeitnehmers besteht das Arbeitsverhältnis typischerweise nicht nahezu für alle Monate des Kalenderjahres, sondern oft nur für einen oder wenige Monate. Fälle einer kürzeren Wehrübung sowie eines unbezahlten Sonderurlaubs sind einmalige oder jedenfalls nicht häufig wiederkehrende Tatbestände. Der Anspruch auf Krankengeldbezug bei Arbeitsunfähigkeit nach § 44 SGB V ruht nach § 49 Abs. 1 Nr. 1 SGB V, soweit und solange Versicherte Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach § 3 EFZG haben, so daß erst nach sechswöchiger Arbeitsunfähigkeit eine Kürzung des Anspruchs auf die Sonderzahlungen nach § 8 Ziff. 1 und 2 MTV erfolgt. Zeiten des Krankengeldbezuges sind oft mit einer längeren und durchgehenden Zeit ohne Anspruch auf Lohnersatzleistung gegen den Arbeitgeber verbunden. In § 8 Abs. 6 MTV geht es also in erster Linie um Fallgestaltungen, in denen über “Monate” weder Arbeitsleistung erbracht wird, noch ein Anspruch auf Lohnersatzleistungen gegenüber dem Arbeitgeber besteht.

              Demgegenüber werden Fälle vorübergehender Verhinderung im Sinne von § 616 BGB, die ebenfalls einen Anspruch auf Lohnersatzleistungen auslösen, nicht von § 8 Ziff. 6 MTV erfaßt. Die Tarifvertragsparteien haben § 616 BGB nicht umfassend abbedungen. Fälle der Verhinderung aus persönlichen Gründen (familiäre Ereignisse wie eigene Hochzeit, goldene Hochzeit der Eltern, religiöse Feste – vgl. die Rechtsprechungsübersicht bei ErfK/Dörner 2. Aufl. § 616 BGB Rn. 6) können nach § 7 Ziff. 6 MTV zwar durch Betriebsvereinbarung geregelt werden, richten sich im übrigen aber nach § 616 BGB. Auch Fälle der Kollision der Arbeitspflicht mit gesetzlich auferlegten Pflichten und zur Ausübung öffentlicher Ehrenämter führen nach § 13 Ziff. 1 MTV zu einem Anspruch auf Freistellung unter Fortzahlung der Vergütung, ohne daß der Anspruch auf Sonderzahlungen nach § 8 Ziff. 6 MTV gemindert wird.

              Nach der gesetzlichen Grundkonzeption hat der Arbeitnehmer nach § 616 BGB gegen den Arbeitgeber auch einen Anspruch auf Fortzahlung der Vergütung, wenn er wegen der Betreuung eines kranken Kindes an seiner Arbeitsleistung verhindert ist (ErfK/Dörner aaO Rn. 13; Peters Handbuch der Krankenversicherung SGB V § 45 Rn. 88). Dieser Anspruch ist zwar dispositiv (BAG 20. Juni 1995 – 3 AZR 857/94 – AP BGB § 616 Nr. 94 = EzA TVG § 4 Milchindustrie Nr. 3) und hier nach § 13 Ziff. 1 Abs. 2 MTV wirksam abbedungen worden. Damit soll aber offenbar nur verhindert werden, daß vorleistende Krankenkassen nach Gewährung von Leistungen gem. § 45 SGB V nach § 115 SGB X den Arbeitgeber aus übergegangenem Recht auf Zahlung des Entgelts nach § 616 BGB in Anspruch nehmen. Dies wäre anderenfalls möglich, da der Anspruch aus § 45 SGB V dem Anspruch nach § 616 BGB gegenüber subsidiär ausgestaltet ist (ErfK/Dörner aaO Rn. 18). § 13 Ziff. 1 Abs. 2 MTV läßt deshalb keinen Rückschluß auf einen Willen der Tarifvertragsparteien zu, Zeiten einer Zahlung von Krankengeld nach § 45 SGB V abweichend von anderen Fällen vorübergehender Verhinderung nach § 616 BGB auch im Rahmen von § 8 Ziff. 6 MTV anspruchsmindernd zu berücksichtigen.

          • Tarifverträge können von den Gerichten für Arbeitssachen darauf überprüft werden, ob die Grenzen der Tarifautonomie überschritten wurden, indem sie gegen höherrangiges Recht, insbesondere das Grundgesetz, Gesetze oder tragende Grundsätze des Arbeitsrechts verstoßen (vgl. BAG 26. September 1984 – 4 AZR 343/83 – BAGE 46, 394; 30. Januar 1970 – 3 AZR 44/68 – BAGE 22, 252, 267 mwN). Deshalb gilt für Tarifverträge der Grundsatz der verfassungs- und gesetzeskonformen Auslegung (vgl. BAG 21. Juli 1993 – 4 AZR 468/92 – BAGE 73, 364, 369 mwN).

            • Eine individualrechtliche Regelung, die einem Arbeitnehmer die Wahrnehmung seiner Ansprüche aus § 45 SGB V nur unter Inkaufnahme überproportionaler Vergütungseinbußen ermöglichen würde, wäre als Verstoß gegen das Maßregelungsverbot des § 612a BGB unwirksam. Zu eben diesem Ergebnis würde § 8 Ziff. 6 MTV kollektivrechtlich führen, wenn bereits die Geltendmachung des Freistellungsanspruchs und des Anspruchs auf Krankengeld gem. § 45 SGB V für einen oder wenige Tage einen Verlust des vielfachen Betrags des auf den Freistellungszeitraum entfallenden Vergütungs- bzw. Krankengeldanspruchs bei den tariflichen Sonderzahlungen nach sich ziehen würde. Daß dies von den Tarifvertragsparteien so gewollt war, kann nicht angenommen werden.
            • Zudem wäre § 8 Ziff. 6 MTV bei einer derartigen Auslegung verfassungsrechtlich höchst bedenklich. Nach Art. 6 Abs. 2 GG sind Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. Kindererkrankungen treten nach der Lebenserfahrung häufiger auf, sind allerdings regelmäßig nicht lang andauernd. Zeiten der Inanspruchnahme des Krankengeldes bei Erkrankung eines Kindes nach § 45 SGB V beschränken sich überwiegend – wie auch der Fall der Klägerin zeigt – auf einen oder wenige Tage. Eine Tarifnorm, nach der die Betreuung erkrankter Kinder bereits dann zu einer Kürzung tariflicher Sonderzahlungen in Höhe von 1/12 führt, wenn sie nur an einem Tag die notwendig ist, dürfte zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG führen, weil sie die Arbeitnehmer im Ergebnis zwingen würde, jeweils bezahlten Urlaub in Anspruch zu nehmen. Es ist nicht davon auszugehen, daß die Tarifvertragsparteien eine solche möglicherweise verfassungswidrige Regelung treffen wollten. Auch der Grundsatz der verfassungskonformen Auslegung von Tarifverträgen spricht deshalb dafür, daß § 8 Ziff. 6 MTV den Fall des Krankengeldbezugs gem. § 45 SGB V nicht mit einbeziehen sollte.

              Aus der von der Beklagten angezogenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich nichts anderes. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts besteht zwar keine Verpflichtung, jegliche die Familie treffende Belastung auszugleichen (BVerfG 1. April 1998 – 2 BvR 1478/97 – AP GG Art. 6 Abs. 1 Ehe und Familie Nr. 27). In jener Entscheidung ging es aber (nur) um einen Tag Sonderurlaub wegen der Niederkunft einer Lebensgefährtin. Im Gegensatz dazu ist es für die Arbeitnehmer von einer erheblich gravierenderen wirtschaftlichen Bedeutung, wenn ein den Krankengeldanspruch um ein Vielfaches übersteigender Teil des 13. und 14. Monatsgehalts nur dann zur Auszahlung gelangt, falls keine mit der Zahlung von Krankengeld nach § 45 SGB V verbundenen Kinderbetreuungszeiten anfallen.

            • Schließlich spricht auch die als § 4b EFZG mit dem arbeitsrechtlichen BeschFG vom 25. September 1996 in das Entgeltfortzahlungsgesetz aufgenommene Regelung des § 4a EFZG für die Auslegung, daß § 8 Ziff. 6 MTV Zeiten des Krankengeldbezuges gem. § 45 SGB V nicht als Kürzungsgrund für die Sonderzahlungen erfassen sollte. Die genannte Tarifnorm würde bei anderer Auslegung den Sonderzahlungen den Charakter einer spezifischen Anwesenheitsprämie verleihen. Nach der gesetzlichen Wertung des § 4a Satz 2 EFZG darf im Falle krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit die Kürzung einer mit dem Zweck einer Anwesenheitsprämie versehenen Sonderzahlung für jeden Tag der Arbeitsunfähigkeit ¼ des im Jahresdurchschnitt auf einen Arbeitstag entfallenden Arbeitsentgelts nicht überschreiten. § 4a EFZG ist hier zwar nicht unmittelbar einschlägig. Ungeachtet der Frage, ob eine analoge Anwendung auf Fehltage wegen der Pflege eines erkrankten Kindes des Arbeitnehmers in Betracht käme, erscheint es ausgeschlossen, daß die Tarifvertragsparteien für diesen Fall mit § 8 Ziff. 6 MTV ggf. die Kürzung der “Anwesenheitsprämie” um ein Vielfaches der Tagesvergütung zulassen, also von der in § 4a EFZG zum Ausdruck gekommenen Wertung des Gesetzgebers für einen ähnlichen Fall berechtigter Nichtleistung der vertraglich zugesagten Arbeit erheblich zu Lasten des Arbeitnehmers abweichen wollten.
      • Auch der Feststellungsantrag der Klägerin ist nach den vorstehenden Erwägungen begründet. Für die Sonderzahlung nach § 8 Ziff. 1 MTV (13. Monatsgehalt) gilt nichts anderes als für das Urlaubsgeld nach § 8 Ziff. 2 MTV (14. Monatsgehalt).
      • Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 247, 288, 291 BGB, allerdings erst nach Klagezustellung, die am 24. Oktober 2000 erfolgte. Soweit die Klägerin Zinsen auf den mit dem Antrag zu 1 geforderten Betrag bereits seit dem 2. Oktober 2000 begehrt, ist die Klage unbegründet, weil die Voraussetzungen eines schon ab diesem Zeitpunkt gegebenen Verzugs nach § 284 BGB aF nicht dargelegt sind.
  • Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.
 

Unterschriften

Dr. Freitag, Fischermeier, Marquardt, v. Baumgarten, Trümner

 

Fundstellen

Haufe-Index 843041

BB 2002, 2392

DB 2002, 2493

NWB 2002, 4312

EBE/BAG 2002, 171

ARST 2003, 73

FA 2002, 387

FA 2002, 394

FA 2003, 48

SAE 2003, 230

ZAP 2002, 1333

ZTR 2003, 86

AP, 0

EzA-SD 2002, 4

EzA

PERSONAL 2003, 58

AUR 2002, 438

RdW 2003, 183

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