Entscheidungsstichwort (Thema)

Fristlose, hilfsweise fristgerechte Kündigung

 

Orientierungssatz

Hinweise des Senats: "Fristlose, hilfsweise fristgerechte verhaltensbedingte Kündigung wegen Tätlichkeiten und Beleidigungen gegenüber Werkschutzmitarbeitern in Zusammenhang mit Alkoholmißbrauch."

 

Verfahrensgang

LAG Düsseldorf (Entscheidung vom 14.01.1993; Aktenzeichen 5 (18) (8) Sa 650/92)

ArbG Solingen (Entscheidung vom 30.01.1992; Aktenzeichen 2 Ca 1280/91)

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer fristlosen, hilfsweise fristgerechten Kündigung der Beklagten und die Weiterbeschäftigung des Klägers.

Der 1938 geborene verheiratete Kläger ist seit dem 15. August 1963 bei der Beklagten als technischer Angestellter beschäftigt. Er war in der Fotopapierproduktion, Abteilung Qualitätssicherung eingesetzt. Sein Gehalt betrug zuletzt 5.300,00 DM brutto monatlich.

Nachdem beim Kläger am 15. Dezember 1989 beim Verlassen des Betriebs eine starke Alkoholfahne festgestellt worden war und ein anschließender Alkoholtest positiv verlief, entzog ihm der bei der Beklagten bestehende Ausschuß zur Ahndung von Verstößen gegen die Arbeitsordnung einen Bonus zur Jahresprämie in Höhe von 150,00 DM. Für den Wiederholungsfall wurden ihm weitere disziplinarische Maßnahmen angedroht.

Am 22. Juli 1991 wurde der Kläger während der Arbeitszeit stark angetrunken an seinem Arbeitsplatz angetroffen. Da die Beklagte keine Möglichkeit hatte, den Kläger nach Hause zu fahren, forderte sie den uniformierten Werksschutz der mit der Beklagten konzernrechtlich verbundenen Bayer AG an, der mit einem Pkw Marke Opel Kadett erschien, um den Kläger nach Hause zu fahren. Der Kläger weigerte sich zunächst, in das Fahrzeug einzusteigen mit der Begründung, der Opel Kadett sei ihm zu klein. Als die Fahrt dann doch durchgeführt wurde, kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Kläger, der auf dem Rücksitz hinter dem Fahrer saß und den beiden Werkschutzleuten. Der Kläger beschimpfte die beiden in beleidigender Weise, griff sie darüber hinaus handgreiflich an und verletzte sie erheblich. Die beiden Werkschutzmitarbeiter hielten das Fahrzeug an und baten die Polizei um Unterstützung. Nachdem der Kläger zunächst auch den Polizeibeamten gegenüber handgreiflich wurde, wurde er schließlich in Handschellen zur Blutprobe gebracht. Dabei wurde ein Blutalkoholgehalt von 2,17 /oo festgestellt. Der Fahrer des Werkschutzfahrzeugs erlitt ein HWS-Trauma und eine Rißwunde am Hals und war eine Woche arbeitsunfähig krank. Der andere Werkschutzmitarbeiter erlitt eine Platzwunde, eine Schürfwunde, ein geschwollenes Nasenbein, Rippenprellungen und eine Kapselprellung am linken Daumen; er war vier Wochen arbeitsunfähig krank. An dem Werkschutzfahrzeug entstand ein Sachschaden in Höhe von 567,55 DM, insbesondere, weil im Verlauf der Auseinandersetzung die Nase des Klägers blutete und das Fahrzeug später gereinigt werden mußte. Der Kläger blieb sechs Tage in stationärer Behandlung wegen einer Gesichtsschädelprellung mit einer commotio cerebri, des Alkoholabusus und verschiedener Prellungen am Oberkörper.

Das gegen den Kläger eingeleitete Strafverfahren wurde später eingestellt, der Kläger zahlte an die beiden Werkschutzmitarbeiter Schmerzensgeld, ersetzte der Beklagten ihren Schaden und zahlte die Prozeßkosten in Höhe von insgesamt ca. 30.000,00 DM.

Die Beklagte hörte den in ihrem Betrieb bestehenden Betriebsrat zu einer beabsichtigten fristlosen, hilfsweise fristgerechten Kündigung an. Der Betriebsrat widersprach mit der Begründung, bis auf den einen Vorfall aus dem Jahr 1989 liege eine saubere Personalakte vor, wegen der alkoholischen und psychischen Probleme des Klägers sei eine Therapiemaßnahme angezeigt. Unter dem 31. Juli 1991 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis fristlos, hilfsweise fristgerecht zum 31. Dezember 1991. Nach Zugang der Kündigung begab sich der Kläger am 12. November 1991 zu einer Alkohol-Entziehungskur in die Kliniken Wied. Von dort wurde er am 6. Mai 1992 entlassen.

Mit seiner am 12. August 1991 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage begehrt der Kläger die Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigung und seine Weiterbeschäftigung. Er hat behauptet, er sei zum Zeitpunkt der ihm zur Last gelegten Tätlichkeiten alkoholkrank gewesen. Erst anläßlich des ihm zum Vorwurf gemachten Vorfalls habe er seine Alkoholabhängigkeit erkannt und sich unverzüglich in die Entziehungskur begeben. Diese sei erfolgreich abgeschlossen, so daß eine Wiederholungsgefahr nicht bestehe.

Persönliche Umstände hätten ihn dazu gebracht, seit 1990 in verstärktem Maße dem Alkohol zuzusprechen. Er sei in den vergangenen Jahren beruflich herabgesetzt worden, was sein Selbstwertgefühl gemindert habe. Außerdem sei er dreimal wegen eines bösartigen Tumors im Brustbereich operiert worden und stehe deswegen noch immer unter ärztlicher Betreuung. Im April 1990 sei seine ihm nahestehende Schwägerin an einem Krebsleiden gestorben und auch seine Mutter sei langwierig erkrankt gewesen und kurze Zeit nach seiner Kündigung gestorben.

In der Nacht vom 21. zum 22. Juli 1991 habe er etliche Flaschen Bier sowie Schnaps getrunken, weil er der Meinung gewesen sei, er habe am 22. Juli 1991 frei gehabt. Durch den Alkoholgenuß habe er jedenfalls im Verlauf des Tages die Kontrolle über sich verloren, an die Vorfälle vom 22. Juli 1991 könne er sich wegen seines Alkoholkonsums nicht mehr erinnern. Auf der Polizeiwache habe er nicht einmal seine eigenen Kinder wiedererkannt.

Die Beklagte hat zur Begründung ihres Klageabweisungsantrags geltend gemacht, die Mißachtung des betrieblichen Alkoholverbots, die den beiden Werkschutzmitarbeitern zugefügten Verletzungen und das gezeigte brutale Verhalten des Klägers machten es ihr unzumutbar, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen. Alleiniger Aggressor bei der Auseinandersetzung sei der Kläger gewesen. Die Werkschutzmitarbeiter hätten sich so passiv wie möglich verhalten und sich bewußt auf ihre Verteidigung beschränkt. Seine ernsthafteste Verletzung habe der Kläger erst erlitten, als er von einem der herbeigerufenen Polizisten mit einem gezielten Faustschlag außer Gefecht gesetzt worden sei.

Sie bestreite eine Alkoholerkrankung des Klägers. Daß der Kläger in der Vergangenheit bis auf den einen Vorfall nie auffällig geworden sei, lasse erkennen, daß bei ihm eine Alkoholabhängigkeit nicht vorliege. Die behaupteten persönlichen Umstände könnten den Kläger auch nicht entlasten. Die geschilderte Erkrankung und die dadurch bedingten Operationen seien kein Grund, übermäßig Alkohol zu trinken.

Selbst wenn der Kläger alkoholkrank gewesen sei, seien die alkoholbedingten Tätlichkeiten gegenüber den Werkschutzmitarbeitern durch ihn verschuldet worden, denn entweder dürfe er vor Arbeitsantritt nichts trinken oder er müsse Vorsorge treffen, daß er im betrunkenen Zustand nicht zur Arbeit erscheine. Im Zeitpunkt der Kündigung sei ihr auch nicht bekannt gewesen, daß der Kläger vorgehabt habe, sich einer längeren Entziehungskur zu unterziehen.

Ihre Fürsorgepflicht gegenüber den anderen Mitarbeitern, insbesondere gegenüber den Werkschutzmitarbeitern stehe einer Weiterbeschäftigung des Klägers im Betrieb entgegen. Die Mitarbeiter müßten vor weiteren Angriffen des Klägers geschützt werden. Es könne nicht ausgeschlossen werden, daß der Kläger erneut unter Alkoholeinfluß den Betrieb aufsuche und sich ähnliche Vorfälle wie der vom 22. Juli 1991 wiederholten. Abgesehen davon, daß der Kläger im alkoholisierten Zustand zu erheblichen Brutalitäten neige, gefährde er nicht nur sich selbst, sondern auch seine Arbeitskollegen. Dies sei nicht hinnehmbar. Eine Versetzung sei nicht möglich, der Kläger stelle im ganzen Betrieb ein Sicherheitsrisiko dar.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Die Berufung der Beklagten blieb erfolglos. Hiergegen richtet sich die Revision der Beklagten. In der mündlichen Verhandlung vor dem Revisionsgericht haben die Parteien den Weiterbeschäftigungsantrag übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet.

A. Das Berufungsgericht hat sowohl die fristlose als auch die fristgerechte Kündigung der Beklagten für rechtsunwirksam erachtet und dies im wesentlichen wie folgt begründet:

Beschimpfungen und Tätlichkeiten gegenüber Werkschutzmitarbeitern, wie sie der Kläger unstreitig begangen habe, seien an sich geeignet, einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung abzugeben. Es komme nicht darauf an, daß sich die Vorfälle außerhalb des Betriebsgeländes abgespielt hätten und es sich um den Werkschutz der Muttergesellschaft gehandelt habe.

Dem Kläger müsse auch hinsichtlich seiner Handlungen vom 22. Juli 1991 ein Schuldvorwurf gemacht werden. Absolut verschuldensunfähig sei der Kläger zur Tatzeit nicht gewesen, dies ergebe sich aus dem Blutalkoholwert.

Auch eine Alkoholabhängigkeit des Klägers sei nicht geeignet, den Schuldvorwurf zu beseitigen. Es bestünden keine hinreichenden oder bewiesenen Anhaltspunkte dafür, daß der Kläger im Juli 1991 alkoholkrank oder alkoholabhängig gewesen sei. Zwar deuteten die Atteste und die durchgeführte Entziehungskur darauf hin, daß der Kläger damals erhebliche Alkoholprobleme gehabt habe. Die vorliegenden Indizien seien aber nicht geeignet, zur Überzeugung des Gerichts eine krankhafte Alkoholabhängigkeit beim Kläger zu belegen. Die ärztlichen Diagnosen beruhten stets auf den eigenen Angaben des Klägers. Wenn beim Kläger zu Beginn der Entziehungskur keine behandlungsbedürftige Entzugssymptomatik aufgetreten sei und er auch im Betrieb der Beklagten seit 1989 nie mit Alkoholproblemen aufgefallen sei, so zeige dies, daß eine krankhafte Alkoholabhängigkeit kaum vorgelegen haben dürfte.

Selbst wenn man jedoch von einer derartigen Erkrankung des Klägers ausgehe, sei der Kläger für sein Verhalten verantwortlich. Bei arbeitsvertraglichen Pflichtverletzungen des Arbeitnehmers infolge Alkoholabhängigkeit könne nicht automatisch von einem fehlenden Verschulden ausgegangen werden. Ob der an Alkoholismus leidende Arbeitnehmer aufgrund dieser Erkrankung in konkreten Lebenssituationen nicht in der Lage gewesen sei, sein Verhalten im Sinne einer Vorwerfbarkeit oder eines Verschuldens zu steuern, müsse der Beurteilung im konkreten Einzelfall überlassen bleiben. Angesichts der konkreten Umstände sei beim Kläger davon auszugehen, daß er sich zumindest fahrlässig in die Situation begeben habe, in der er die Tätlichkeiten gegenüber den Werkschutzmitarbeitern begangen habe. Wenn der Kläger in erster Instanz vorgetragen habe, er sei der Meinung gewesen, am 22. Juli 1991 nicht arbeiten zu müssen, so zeige dies, daß er sehr wohl in der Lage gewesen sei, sich vor dem Alkoholkonsum zu überlegen, ob er habe trinken dürfen oder nicht. Wenn der Kläger darüber hinaus seit 1989 im Betrieb der Beklagten nie auffällig geworden sei, so zeige dies, daß er seinen Alkoholkonsum jedenfalls insoweit habe steuern können, als er ihn vor und während der Arbeitszeit unterlassen habe. Es seien keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, daß der Kläger am 21. oder 22. Juli 1991 seinen Alkoholkonsum nicht habe steuern können.

Gleichwohl müsse die Interessenabwägung zugunsten des Klägers ausfallen. Zwar seien die Pflichtverletzungen des Klägers schwerwiegend und wegen des erheblichen Interesses der Beklagten, eine Wiederholung derartiger Vorfälle zu verhindern, sei auch der Präventivcharakter der außerordentlichen Kündigung von nicht unerheblichem Gewicht. Demgegenüber seien jedoch die Interessen des Klägers an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes noch höher anzusetzen. Angesichts der Betriebszugehörigkeit von knapp 29 Jahren könne eine Kündigung nur unter besonderen Umständen als zulässig angesehen werden, zumal sich das Arbeitsverhältnis bis auf den einen früheren Vorfall problemlos entwickelt habe. Das Fehlverhalten des Klägers am 22. Juli 1991 müsse als einmalige, wenn auch nicht unerhebliche Entgleisung gewertet werden. Bei der Bewertung des Verschuldens des Klägers müsse berücksichtigt werden, daß es letztlich das fahrlässige "Sichbetrinken" gewesen sei, was dem Kläger angelastet werde, nicht aber seine tätlichen Übergriffe selbst. Die Alkoholprobleme des Klägers, selbst wenn sie nicht zur krankhaften Alkoholabhängigkeit geführt haben sollten, seien erklärbar und der Grad seines Verschuldens gering. Der Kläger sei aufgrund besonders widriger Umstände in eine Situation geraten, die letztlich verständlich sei und sein sonst vorwerfbares Verhalten in einem milderen Licht erscheinen lasse. Hinzu komme, daß er angesichts der von ihm verursachten Verletzungen und Beschädigungen nicht nur "aufgewacht" sei, sondern den Schaden wiedergutgemacht habe. Mit einer Wiederholung des hier zu beurteilenden Verhaltens des Klägers sei nicht zu rechnen. Die Gesamtabwägung spreche deshalb trotz der Schwere der Pflichtverletzung des Klägers für eine Weiterbeschäftigung.

Auch die fristgemäße Kündigung sei sozial ungerechtfertigt. Zwar seien auch bei erheblichem sozialem Besitzstand tätliche Auseinandersetzungen im Betrieb in der Regel geeignet, eine fristgerechte Kündigung zu rechtfertigen. Dennoch sei wegen der besonderen Umstände im Rahmen der umfassenden Interessenabwägung das Interesse des Klägers an einer Fortsetzung seines Arbeitsverhältnisses höher zu bewerten als das Interesse der Beklagten an der jedenfalls fristgemäßen Beendigung des Arbeitsverhältnisses.

B. Die Würdigung des vom Berufungsgericht festgestellten, im wesentlichen unstreitigen Sachverhalts ist frei von revisiblen Rechtsfehlern.

I.1. Die Anwendung des § 626 Abs. 1 BGB durch das Berufungsgericht kann vom Revisionsgericht nur eingeschränkt daraufhin überprüft werden, ob der Sachverhalt unabhängig von den Besonderheiten des Einzelfalls an sich geeignet ist, einen wichtigen Grund abzugeben, und ob bei der erforderlichen Interessenabwägung alle vernünftigerweise in Betracht kommenden Umstände des Einzelfalls daraufhin überprüft worden sind, ob es dem Kündigenden unzumutbar geworden ist, das Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist fortzusetzen. Die Bewertung der für und gegen die Unzumutbarkeit sprechenden Umstände liegt weitgehend im Beurteilungsspielraum der Tatsacheninstanz. Hält sich die Interessenabwägung im Rahmen des Beurteilungsspielraums, kann das Revisionsgericht die angegriffene Würdigung nicht durch eine eigene ersetzen (vgl. BAG Urteile vom 26. August 1976 - 2 AZR 377/75 - und vom 2. April 1987 - 2 AZR 418/86 - AP Nr. 68 und 96 zu § 626 BGB, zu I 1 bzw. A II 2 der Gründe; KR-Hillebrecht, 3. Aufl., § 626 BGB Rz 285). Bei Anwendung dieses eingeschränkten Prüfungsmaßstabs hält das angefochtene Urteil der revisionsrechtlichen Nachprüfung stand.

2. Zutreffend hat das Berufungsgericht angenommen, der Kündigungssachverhalt sei an sich geeignet, einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung nach § 626 Abs. 1 BGB abzugeben.

a) Dabei hat das Berufungsgericht zu Recht nicht auf die vom Kläger behauptete Alkoholkrankheit abgestellt. Die Beklagte hat nicht mit der Begründung, der Kläger sei alkoholkrank, eine fristlose und hilfsweise fristgerechte Kündigung aus personenbedingten Gründen ausgesprochen, sondern die Kündigung auf das Fehlverhalten des Klägers am 22. Juli 1991 gestützt.

b) Der Kläger hat am 22. Juli 1991 die beiden Werkschutzbeamten, die ihn in seinem eigenen Interesse nach Hause begleiten sollten, beschimpft und beleidigt, tätlich angegriffen und nicht unerheblich verletzt und darüber hinaus das Werkschutzfahrzeug beschmutzt und beschädigt. Strafbare Handlungen im Betrieb, insbesondere Tätlichkeiten gegenüber Arbeitskollegen sind an sich geeignet, einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung abzugeben (Senatsurteil vom 12. März 1987 - 2 AZR 176/86 - AP Nr. 47 zu § 102 BetrVG 1972, zu B II 2 b der Gründe; KR-Hillebrecht, 3. Aufl., § 626 BGB Rz 107, m.w.N.; Stahlhacke/Preis, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 5. Aufl., Rz 530 ff.). Der arbeitsvertragliche Bezug der Pflichtverletzungen des Klägers ändert sich auch nicht dadurch, daß die beiden Werkschutzmitarbeiter bei der Muttergesellschaft der Beklagten angestellt und aufgrund eines Vertrages zwischen der Beklagten und der Muttergesellschaft tätig geworden sind, und daß die Tätlichkeiten des Klägers auf der dienstlich veranlaßten Fahrt sich außerhalb des Betriebsgeländes abgespielt haben. Den Kläger traf die vertragliche Nebenpflicht, im Rahmen der Vertragserfüllung nicht die Interessen des Arbeitgebers zu beeinträchtigen, indem er Werkschutzmitarbeiter, die im Auftrag des Arbeitgebers ihre den Betriebszwecken dienende Arbeit verrichteten, angriff. Diese Pflicht hat der Kläger verletzt und die Pflichtverletzung wiegt deshalb besonders schwer, weil die Werkschutzleute zum Schutz des Klägers eingesetzt waren, nachdem der Kläger schon dadurch seine arbeitsvertraglichen Pflichten verletzt hatte, daß er alkoholisiert zum Dienst erschien.

3. Ohne revisiblen Rechtsfehler geht das Berufungsgericht auch davon aus, den Kläger treffe, was bei verhaltensbedingten Kündigungsgründen regelmäßig erforderlich ist, ein Verschulden an den begangenen Arbeitspflichtverletzungen. Das Verschulden und die einzelnen Arten des Verschuldens sind Rechtsbegriffe (vgl. BGHZ 10, 14, 16 und 10, 69, 74). Die Feststellung ihrer Voraussetzungen liegt im wesentlichen auf tatsächlichem Gebiet, wobei dem Tatrichter ein nicht unerheblicher Beurteilungsspielraum zusteht. Das Revisionsgericht kann nur prüfen, ob der Tatrichter von den richtigen rechtlichen Beurteilungsmaßstäben ausgegangen ist und Denkgesetze, Erfahrungssätze oder Verfahrensvorschriften verletzt hat (vgl. BAGE 57, 47, 50 = AP Nr. 92 zu § 611 BGB Haftung des Arbeitnehmers, zu II 2 der Gründe, m.w.N.). Dieser eingeschränkten Nachprüfung hält die Würdigung des Berufungsgerichts stand.

Das Berufungsgericht folgert im wesentlichen aus der Tatsache, daß der Kläger während der gesamten Dauer der behaupteten Alkoholabhängigkeit im Betrieb nicht mit irgendwelchen Krankheitssymptomen aufgefallen ist, der Kläger habe seinen Alkoholkonsum jedenfalls soweit steuern können, daß er rechtzeitig vor Arbeitsbeginn mit dem Trinken habe aufhören können, so daß es ihm als fahrlässig vorzuwerfen sei, wenn er am 21./22. Juli 1991 derartige Mengen Alkohol zu sich genommen habe, daß es zu den im wesentlichen unstreitigen Ausschreitungen gekommen sei. Die Revision rügt insoweit keine Rechtsfehler, sondern stützt im Gegenteil das angefochtene Urteil mit eigenen Überlegungen, weshalb ihrer Ansicht nach von einem Verschulden des Klägers auszugehen ist bzw. auch ohne ein Verschulden eine wirksame fristlose Kündigung anzunehmen ist. Durch die Annahme des Berufungsgerichts, der Kläger habe schuldhaft gehandelt, ist die Beklagte nicht beschwert, diese Annahme wirkt sich nur nachteilig zu Lasten des Klägers aus. Das Berufungsgericht und die Revision setzen sich dabei mit der Rechtsansicht auseinander, das Vorliegen einer Alkoholabhängigkeit schließe stets das Verschulden des Arbeitnehmers aus. Dies hat der Senat in dieser Ausschließlichkeit nie vertreten (vgl. Senatsurteil vom 7. Dezember 1989 - 2 AZR 134/89 - n.v.); daß z.B. der nüchterne Alkoholiker schuldhaft handeln kann, ist selbstverständlich.

4. Wenn das Berufungsgericht bei der abschließenden Interessenabwägung zu dem Ergebnis gelangt ist, unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls und der Abwägung der beiderseitigen Interessen sei der Beklagten die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ende der ordentlichen Kündigungsfrist zumutbar, und damit die Kündigung der Beklagten rechtsunwirksam, so ist dies revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Auch bei dieser Würdigung hat sich das Berufungsgericht im Rahmen des ihm zustehenden Beurteilungsspielraums gehalten, es hat insbesondere alle vernünftigerweise in Betracht kommenden Umstände des Einzelfalls berücksichtigt. Wenn die Revision rügt, das Berufungsgericht habe die Interessen des Klägers an einer Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses überbewertet und die Interessen der Beklagten an einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu gering eingeschätzt, so verlangt sie damit, das Revisionsgericht solle die angegriffene Interessenabwägung durch eine eigene ersetzen, was nicht Aufgabe des Revisionsgerichts ist (vgl. BAG Urteil vom 26. August 1976 - 2 AZR 377/75 - AP Nr. 68 zu § 626 BGB).

a) Zu Unrecht rügt die Revision, das Berufungsgericht habe bei der Beurteilung der Schwere der Pflichtverletzung des Klägers wesentliche Tatumstände unberücksichtigt gelassen. Aus der ausführlichen und sorgfältig abgewogenen Interessenabwägung ergibt sich im Gegenteil, daß das Berufungsgericht von einem gravierenden Fehlverhalten des Klägers ausgeht und die Brutalität seines Vorgehens besonders betont. Daß der Kläger mit seinen Handgreiflichkeiten in dem fahrenden Kraftfahrzeug begonnen hat, hat das Berufungsgericht ausdrücklich im Tatbestand festgestellt und bei der Interessenabwägung ersichtlich mitbewertet. Auch für eine unrichtige Bewertung der Dauer der Tätlichkeiten läßt sich aus dem angefochtenen Urteil kein Anhaltspunkt entnehmen. Wie das Berufungsgericht weiter erwähnt und berücksichtigt hat, richteten sich die Tätlichkeiten des Klägers gegen zwei Werkschutzmitarbeiter, die den Kläger aus Fürsorgegesichtspunkten nach Hause begleiten sollten. Durch ihren krankheitsbedingten Ausfall hat der Kläger betriebliche Störungen verursacht. Gerade damit hat das Berufungsgericht die Schwere der Pflichtverletzungen des Klägers begründet, die nach seiner Ansicht zunächst für eine Kündigung des Klägers als präventive Maßnahme sprechen.

b) Zu Unrecht beanstandet die Revision, das Berufungsgericht sei bei der Prüfung des Grads des Verschuldens des Klägers den Gründen nachgegangen, die die Alkoholprobleme des Klägers erklären und letztlich entschuldigen könnten. Es geht hier nicht darum, eine Kausalität etwa zwischen der Krebserkrankung des Klägers und seinen schweren Pflichtverletzungen am 22. Juli 1991 zu begründen. Die Beklagte weist zu Recht darauf hin, daß sie das Vorliegen einer solchen Kausalität bestritten hatte. Das Berufungsgericht ist vielmehr der Frage nachgegangen, welche Umstände (also z.B. auch die von der Beklagten nicht bestrittene schwere Erkrankung des Klägers) dazu geführt haben, daß beim der Kläger Alkoholprobleme auftraten. Diese Abwägung war erforderlich, um das Maß des Verschuldens des Klägers an den Vorfällen vom 22. Juli 1991 zutreffend beurteilen zu können.

Den vom Kläger geleisteten Schadensersatz erwähnt das Berufungsgericht nur ergänzend, ohne darauf die Interessenabwägung entscheidend zu stützen.

c) Auch bei der Bewertung der Interessen des Klägers an seiner Weiterbeschäftigung sind keine revisiblen Rechtsfehler erkennbar. Das Berufungsgericht durfte berücksichtigen, daß der Kläger bei der Beklagten im Zeitpunkt der Kündigung extrem lange beschäftigt war und daß sich das Arbeitsverhältnis auch nach dem eigenen Vorbringen der Beklagten bis auf den einen Vorfall aus dem Jahre 1989 durchgehend problemlos entwickelt hat. Wenn, wie der Betriebsrat in seiner Stellungnahme vom 26. Juli 1991 ausführt, beim Kläger bis auf den einen Vorfall eine "saubere" Personalakte vorliegt, so war dies bei der Interessenabwägung zu seinen Gunsten zu bewerten. Das Berufungsgericht spricht in diesem Zusammenhang von einem "einmaligen Ausrasten" des Klägers. Dies wertet den Sachverhalt zutreffend. Wenn der Kläger trotz seiner unstreitigen Alkoholprobleme es bis zum 22. Juli 1991 geschafft hat, lediglich einmal ca. 1 Jahre vor der Kündigung im Betrieb wegen einer Alkoholfahne aufzufallen, so zeigt dies, daß der Vorfall vom 22. Juli 1991 nicht der Schlußstein einer Kette von alkoholbedingten Pflichtverletzungen des Klägers, sondern eine bis dahin einmalige Entgleisung des Klägers darstellte.

d) Zu Recht hat das Berufungsgericht bei der Interessenabwägung vor allem darauf abgestellt, ob es sich bei dem Fehlverhalten des Klägers am 22. Juli 1991 um einen einmaligen Vorfall handelte, oder ob die Beklagte beim Kläger mit weiteren derart gravierenden Pflichtverletzungen rechnen mußte. Wenn das Berufungsgericht aus den Gesamtumständen geschlossen hat, die Beklagte brauche nicht mit einer Wiederholung des hier zu beurteilenden Verhaltens des Klägers zu rechnen, so ist dies revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Das Berufungsgericht hat dabei nicht entscheidend auf die Entwicklung nach der Kündigung, insbesondere also die Entziehungskur abgestellt. Das ergibt sich schon daraus, daß es eine Alkoholkrankheit des Klägers nicht für bewiesen und damit eine Entziehungskur letztlich nicht für erforderlich angesehen hat. Wenn das Berufungsgericht vor allem aus dem bisherigen Verhalten des Klägers folgert, eine derartige alkoholbedingte Entgleisung habe eher zu einem "Aufwachen" des Klägers als zu einer Wiederholungsgefahr führen müssen, so entspricht dies den Umständen des Falles. Das Vorbringen der Beklagten in diesem Punkt ist auch widersprüchlich, wenn sie einerseits wegen der Einmaligkeit des Fehlverhaltens des Klägers bestreitet, daß der Kläger alkoholkrank war, andererseits aber aus dem einmaligen Vorfall eine Wiederholungsgefahr herleiten möchte.

II. Es ist auch rechtlich nicht zu beanstanden, wenn das Berufungsgericht die ausgesprochene fristgerechte Kündigung zum 31. Dezember 1991 als sozial ungerechtfertigt und damit rechtsunwirksam ansieht, weil die Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 KSchG nicht vorliegen.

1. Das Berufungsgericht nimmt zwar zur Begründung der Unwirksamkeit der fristgerechten Kündigung im wesentlichen auf seine Ausführungen zur fristlosen Kündigung bezug. Dies bedeutet aber nicht, daß damit der unterschiedliche Beurteilungsmaßstab der §§ 626 BGB, 1 Abs. 2 KSchG verkannt wäre. Unter Berücksichtigung der von der Beklagten zitierten Entscheidungen (LAG Frankfurt am Main Urteil vom 28. Juni 1977 - 9 Sa 154/77 - NJW 1978, 444; LAG Düsseldorf Urteil vom 26. August 1980 - 18 Sa 673/80 - DB 1980, 2345) wird der Prüfungsmaßstab des § 1 Abs. 2 KSchG klar abgegrenzt und ausgeführt, auch bei einem außergewöhnlich hohen sozialen Besitzstand komme bei tätlichen Auseinandersetzungen im Betrieb in der Regel jedenfalls eine fristgerechte Kündigung in Betracht.

2. Wenn das Berufungsgericht bei seiner Abwägung das Interesse des Klägers an der Fortsetzung seines Arbeitsverhältnisses höher bewertet als das der Beklagten an einer jedenfalls fristgemäßen Beendigung des Arbeitsverhältnisses, so hält sich dies im Rahmen des der Tatsacheninstanz eingeräumten Beurteilungsspielraums. Zu Recht stellt das Berufungsgericht auch hier auf die Zukunftsprognose ab, die es nach den getroffenen Feststellungen als günstig ansieht. Wenn es sich bei dem Vorfall vom 22. Juli 1991 um eine einmalige Entgleisung des Klägers ohne Wiederholungsgefahr handelte, dann war es auch angesichts der Schwere der Pflichtverletzung des Klägers nicht als interessengerecht anzusehen, eine fristgerechte Kündigung auszusprechen. Da der Beklagten bei Ausspruch der Kündigung bekannt war, daß die Pflichtverletzungen des Klägers am 22. Juli 1991 alkoholbedingte Ursachen hatten und der Kläger mit Alkoholproblemen zu kämpfen hatte, war es der Beklagten zumutbar, erst z.B., wie vom Betriebsrat angeregt, vom Kläger zu verlangen, daß er sich einer Entziehungskur unterzog, ehe sie eine fristgerechte Kündigung aussprach, die die Gefahr, daß der Kläger in den Alkoholismus abglitt, nur verschärfen konnte.

III. Die Revision war deshalb mit der Kostenfolge der §§ 97, 91 a ZPO zurückzuweisen.

Hillebrecht Bitter Bröhl

Fischer Wolter

 

Fundstellen

Haufe-Index 437588

EWiR 1994, 857 (S)

RzK, I 5i Nr 85 (ST1)

EzA-SD 1994, Nr 1/2, 17-19 (ST1-2)

EzA § 626 nF BGB, Nr 152 (LT1-2)

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