Entscheidungsstichwort (Thema)

Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall: 80 % oder 100 %

 

Leitsatz (amtlich)

§ 7 Nr. 2 des Rahmentarifvertrags für Angestellte im Gebäudereiniger-Handwerk im Land Niedersachsen vom 19. Oktober 1995 enthält keine konstitutive Regelung zur Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und begründet keinen Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts in Höhe von 100 %.

 

Normenkette

EFZG § 4 Abs. 1 S. 1 in der vom 1. Oktober 1996 bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Fassung; Rahmentarifvertrag für Angestellte im Gebäudereiniger-Handwerk im Land Niedersachsen vom 19. Oktober 1995 § 7 Nrn. 2-3

 

Verfahrensgang

LAG Niedersachsen (Urteil vom 10.03.1999; Aktenzeichen 15 Sa 1973/97)

ArbG Braunschweig (Urteil vom 30.05.1997; Aktenzeichen 2 Ca 116/97)

 

Tenor

1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 10. März 1999 – 15 Sa 1973/97 – wird zurückgewiesen.

2. Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen !

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.

Der Kläger ist seit dem 1. März 1994 als technischer Angestellter – Objektleiter – in dem Reinigungsunternehmen der Beklagten beschäftigt. Der Kläger war am 21. und 22. Oktober 1996 arbeitsunfähig erkrankt. Die Beklagte leistete Entgeltfortzahlung in Höhe von 80 %.

Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der allgemeinverbindliche Rahmentarifvertrag für Angestellte im Gebäudereinigerhandwerk im Land Niedersachsen vom 19. Oktober 1995 Anwendung. Der Tarifvertrag ist geschlossen zwischen dem Landesinnungsverband Niedersachsen des Gebäudereiniger-Handwerks, Hannover, und der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt, Landesverband Niedersachsen-Bremen, Hannover. Der Tarifvertrag (im folgenden: RTV) enthält ua. folgende Regelung:

„§ 7 Arbeitsversäumnis bei Arbeitsunfähigkeit

  1. Ist ein Angestellter infolge von Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert (Arbeitsunfähigkeit), so hat er gegen seinen Arbeitgeber einen Anspruch auf Fortzahlung seines Gehalts bis zur Dauer von 6 Wochen.

    Das gleiche gilt bei Kur- und Heilverfahren, die dem Angestellten von einem Träger der Sozialversicherung oder einem sonstigen Sozialleistungsträger gewährt werden.

  2. Bei Arbeitsunfähigkeit infolge eines nicht selbst verschuldeten Betriebsunfalls hat der Angestellte Anspruch auf einen Zuschuß mit Beginn der 7. Krankheitswoche in Höhe von 3/169 seines monatlichen Gehalts je Arbeitstag.

    Der Zuschuß wird gezahlt:

    1. bis zu 3-jähriger Betriebszugehörigkeit bis Ende der 9. Krankheitswoche,
    2. nach 3-jähriger Betriebszugehörigkeit bis Ende der 12. Krankheitswoche,
    3. nach 5-jähriger Betriebszugehörigkeit bis Ende der 15. Krankheitswoche,
    4. nach 7-jähriger Betriebszugehörigkeit bis Ende der 18. Krankheitswoche

Krankengeld und Zuschuß dürfen zusammen das bisherige Nettogehalt nicht übersteigen.”

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, daß § 7 RTV die Höhe der Entgeltfortzahlung im Arbeitsvertrag eigenständig regele, und hat die der Höhe nach unstreitige Differenz zu 100 %-iger Entgeltfortzahlung geltend gemacht.

Der Kläger hat – soweit in der Revisionsinstanz noch von Interesse – beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 76,32 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich hieraus ergebenden Nettobetrag seit 1. November 1996 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Der Kläger hat für die in Rede stehende Zeit seiner Arbeitsunfähigkeit keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung in voller Höhe. § 7 Abs. 2 RTV enthält keine eigenständige Regelung zur Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Dies ergibt die Auslegung der Vorschrift.

1. Im gegebenen Zusammenhang finden die Grundsätze über die Auslegung des normativen Teils von Tarifverträgen Anwendung. Diese folgen den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien ist über den reinen Wortlaut hinaus zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern und so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Lassen sich auch so zuverlässige Auslegungsergebnisse nicht gewinnen, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge auf weitere Anhaltspunkte zurückgreifen, etwa die Tarifgeschichte, die praktische Tarifübung und die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages (st. Rspr., vgl. BAG 16. Juni 1998 – 5 AZR 67/97 – BAGE 89, 95, 101 f.).

2. Der Senat hat nach diesen Grundsätzen einen tariflichen Anspruch auf Fortzahlung von 100 % des Arbeitsentgelts bejaht, wenn ein Tarifvertrag nicht nur auf die gesetzlichen Vorschriften verwiesen, sondern die Vorschriften über die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall wörtlich oder inhaltsgleich übernommen und darüber hinaus eine Regelung über Zuschüsse zum Krankengeld ab der siebten Krankenwoche getroffen hat (BAG 16. Juni 1998 – 5 AZR 638/97 – BAGE 89, 108; BAG 16. Juni 1999 – 5 AZR 284/98 – USK 9918; BAG 12. April 2000 – 5 AZR 704/98 – zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen).

a) Eine solche eigenständige Regelung der Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall enthält § 7 Nr. 2 RTV nicht. Die Formulierung, bei Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit habe der Angestellte „einen Anspruch auf Fortzahlung seines Gehalts bis zur Dauer von sechs Wochen”, läßt die Frage offen, in welcher Höhe das Entgelt fortzuzahlen sei. Dementsprechend hat der Senat erst in Formulierungen wie „Anspruch auf Bezahlung des vollen Gehalts bzw. Lohnes” eine eigenständige tarifliche Regelung gesehen(BAG 5. Mai 1999 – 5 AZR 530/98 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Gaststätten Nr. 6). Liegt eine eindeutige tarifliche Regelung nicht vor, gelten die gesetzlichen Bestimmungen. Die Tarifunterworfenen mußten deshalb § 7 Nr. 2 RTV nach der Herabsetzung der Höhe der Entgeltfortzahlung durch das Arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25. September 1996 so verstehen, daß das Gehalt sechs Wochen in der gesetzlich vorgesehenen Höhe von 80 % fortzuzahlen sei.

b) Anders als in der vom Senat zu einer nahezu gleichlautenden Formulierung getroffenen Entscheidung vom 16. Juni 1998 (aaO) begründet im vorliegenden Fall auch die Zuschußregelung in § 7 Nr. 3 RTV kein anderes Verständnis. Nach dieser Bestimmung hat der Angestellte bei Arbeitsunfähigkeit „infolge eines nicht selbst verschuldeten Betriebsunfalls” Anspruch auf einen Zuschuß zum Krankengeld ab der siebten Krankheitswoche. Dies ist eine eigenständige tarifliche Regelung, weil sie Ansprüche gewährt, die über die gesetzlichen Ansprüche hinausgehen. Der konstitutive Charakter eines Teils eines zusammenhängenden Regelungsbereichs läßt aber noch keinen Schluß auf den Charakter des übrigen Teils der auszulegenden Bestimmung zu. Den Tarifvertragsparteien steht es frei, von ihrer Regelungsbefugnis nur in Teilbereichen Gebrauch zu machen und im übrigen die gesetzlichen Bestimmungen unverändert zu lassen(BAG 16. Juni 1998 aaO). In dem Fall, der der Senatsentscheidung vom 16. Juni 1998 zugrunde lag, ergab sich die eigenständige Regelung der Höhe der Entgeltfortzahlung schon für die ersten sechs Wochen der Arbeitsunfähigkeit daraus, daß andernfalls der mit der Zuschußregelung beabsichtigte Zweck nicht erfüllt würde. Die dortige Tarifbestimmung sah vor, daß „nach dreijähriger ununterbrochenen Betriebszugehörigkeit … Angestellte, wenn sie infolge Krankheit an der Arbeitsleistung verhindert sind …, von der 7. Woche an einen Zuschuß vom Arbeitgeber bis zur Dauer von sechs Wochen (erhalten)”. Die Regelung bezweckt, den längerbeschäftigten Angestellten auch nach Ablauf der Sechs-Wochen-Frist für einen bestimmten Zeitraum finanziell (etwa) so zu stellen wie innerhalb der Sechs-Wochen-Frist. Die Annahme, die Tarifvertragsparteien hätten den längerbeschäftigten Angestellten einen Anspruch auf einen Krankengeldzuschuß in Höhe des Differenzbetrages zum Nettoentgelt ab der siebten Woche unabhängig von der Höhe der Entgeltfortzahlung in den ersten sechs Wochen zuerkannt, liegt bei einer solchen Regelung fern. Im Streitfall dagegen haben die Tarifvertragsparteien die Gewährung eines Zuschusses zum Krankengeld auf die Ausnahme beschränkt, daß die Arbeitsunfähigkeit auf einem nicht selbst verschuldeten Betriebsunfall beruht. Wegen dieser Anspruchsbegrenzung kann für den Regelfall einer auf Krankheit beruhenden Arbeitsunfähigkeit der äußere Widerspruch zwischen einer geringeren Entgeltfortzahlung in den ersten sechs Wochen und einer finanziellen Besserstellung ab der siebten Woche nicht eintreten. Hinzu kommt, daß es bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten auch nach § 4 Abs. 1 Satz 2 EFZG in seiner bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Fassung bei der Fortzahlung des vollen Entgelts geblieben war.

Es gibt deshalb keinen tariflichen Anhaltspunkt dafür, daß die Tarifvertragsparteien die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall unabhängig von der jeweiligen Gesetzeslage hätten regeln wollen. Auch angesichts der Zuschußregelung in § 7 Nr. 3 RTV ist Nr. 2 der Tarifbestimmung vielmehr dahin auszulegen, daß sich die Höhe der Entgeltfortzahlung bei einer nicht auf einem Betriebsunfall beruhenden Arbeitsunfähigkeit nach den gesetzlichen Vorschriften richtet. Sie betrug für den von der Klage erfaßten Zeitraum nur 80 % des regelmäßigen Arbeitsentgelts.

 

Unterschriften

Griebeling, Müller-Glöge, Kreft, Müller, Zorn

 

Veröffentlichung

Veröffentlicht am 30.08.2000 durch Metze, Urkundsbeamter der Geschäftsstelle

 

Fundstellen

Haufe-Index 547219

DB 2001, 1622

NZA 2001, 743

SAE 2001, 198

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