Entscheidungsstichwort (Thema)

Lohnfortzahlung für alkoholabhängige Arbeitnehmer

 

Leitsatz (amtlich)

Ein seit längerer Zeit an Alkoholabhängigkeit erkrankter Arbeitnehmer kann schuldhaft im Sinne der lohnfortzahlungsrechtlichen Bestimmungen handeln, wenn er – in noch steuerungsfähigem Zustand – sein Kraftfahrzeug für den Weg zur Arbeitsstelle benutzt, während der Arbeitszeit in erheblichem Maße dem Alkohol zuspricht und alsbald nach Dienstende im Zustande der Trunkenheit einen Verkehrsunfall verursacht, bei dem er verletzt wird.

 

Verfahrensgang

LAG Niedersachsen (Entscheidung vom 28.10.1986; Aktenzeichen 2 Sa 1109/86)

ArbG Oldenburg (Oldenburg) (Entscheidung vom 19.02.1986; Aktenzeichen 2 Ca 995/85)

 

Tatbestand

Der Kläger verlangt von der Beklagten Restlohn. Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte wirksam mit einer Gegenforderung aufgerechnet hat, die ihr nach ihrer Ansicht wegen nicht geschuldeter Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle zusteht.

Der Kläger ist bei der Beklagten als gewerblicher Arbeitnehmer beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis ist kraft Vereinbarung der Manteltarifvertrag für gewerbliche Arbeitnehmer des Bundes (MTB II) anzuwenden. Am 7. Februar 1983 fuhr der Kläger morgens mit eigenem Pkw zur Arbeitsstelle. Damals war er bereits seit längerer Zeit an Alkoholismus erkrankt. Während des Dienstes sprach er in erheblichem Maße dem Alkohol zu. Auf der Rückfahrt, etwa gegen 16.45 Uhr, verursachte er mit einem Blutalkoholgehalt von 2,7 bis 2,85 g %o einen Auffahrunfall mit Personen- und Sachschaden. Deswegen verurteilte ihn das Amtsgericht Oldenburg am 3. Oktober 1983 wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung – begangen im Zustand verminderter Schuldfähigkeit, § 21 StGB – zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 25,– DM. Zugleich wurde ihm die Fahrerlaubnis entzogen.

Infolge des Unfalls, bei dem er auch selbst verletzt wurde, war der Kläger vom 7. bis zum 26. Februar 1983 arbeitsunfähig krank. Die Beklagte zahlte ihm den Lohn als Krankenbezüge in Höhe der Klageforderung weiter. Mit Schreiben vom 11. Juli 1983 verlangte die Beklagte den als Lohnfortzahlung geleisteten Betrag zurück und behielt ihn später während der Zeit von März bis Dezember 1984 unter Beachtung der Pfändungsvorschriften wieder vom Lohn des Klägers ein.

Mit seiner am 30. April 1985 eingereichten Klage nimmt der Kläger die Beklagte auf Zahlung der einbehaltenen Lohnteile in Anspruch. Er hat vorgetragen: Seine Arbeitsunfähigkeit im Februar 1983 habe er nicht selbst verschuldet. Zwar habe sein Blutalkoholgehalt im Zeitpunkt des Unfalls auf dem Genuß geistiger Getränke während der Arbeitszeit beruht, wegen seiner Alkoholabhängigkeit sei seine Steuerungsfähigkeit damals jedoch dauerhaft ausgeschaltet gewesen. Außerdem habe der hohe Blutalkohol seine Schuldfähigkeit ausgeschlossen, jedenfalls aber erheblich gemindert.

Der Kläger hat beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an ihn 1.885,52 DM brutto nebst 10 % Zinsen nach näherer Staffelung zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat geltend gemacht, der Kläger habe seine Arbeitsunfähigkeit im Sinne des § 1 Abs. 1 LFZG selbst verschuldet. Daher habe ihm ein Anspruch auf Lohnfortzahlung nicht zugestanden.

Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klageziel weiter.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Das Landesarbeitsgericht hat richtig entschieden. Dem Kläger stand ein Anspruch auf Lohnfortzahlung nicht zu. Die Beklagte hat zu Recht mit ihrem Anspruch auf Rückgewähr der überzahlten Krankenbezüge aufgerechnet.

I.1. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 LFZG behält der Arbeiter den Anspruch auf Arbeitsentgelt bis zur jeweiligen Dauer von sechs Wochen, wenn er seine Arbeitsleistung infolge unverschuldeter Krankheit nicht erbringen kann. Diese Grundregel der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle ist, abgesehen von einer abgestuften, längeren Dauer der Lohnfortzahlung, von § 42 Abs. 1 MTB II übernommen. Danach werden dem Arbeiter im Falle einer nach Beginn der Beschäftigung durch Krankheit verursachten Arbeitsunfähigkeit Krankenbezüge gezahlt, es sei denn, daß er sich die Krankheit vorsätzlich oder grob fahrlässig zugezogen hat. Grob fahrlässig im Sinne der genannten Vorschrift handelt – wie in den Fällen der vom Gesetz angeordneten Entgeltfortzahlung des § 616 Abs. 1 Satz 1 BGB, § 63 Abs. 1 Satz 1 HGB, § 133 c Satz 1 GewO oder des § 1 Abs. 1 Satz 1 LFZG – der Arbeitnehmer, der in erheblichem Maße gegen die von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhaltensweise verstößt (vgl. nur BAGE 43, 54, 58 = AP Nr. 52 zu § 1 LohnFG, zu I 3 a der Gründe; ferner die zur Veröffentlichung bestimmte Entscheidung des Senats vom 11. November 1987 - 5 AZR 497/86 -, zu I 1 der Gründe, DB 1988, 402 und BB 1988, 407). Insoweit stimmt der Verschuldensgrad des § 42 Abs. 1 MTB II trotz des abweichenden Wortlauts mit dem der gesetzlichen Regelungen überein (vgl. auch O. Scheuring/Steingen/Banse/M. Scheuring, Mantel-Tarifvertrag für Arbeiter des Bundes, MTB II, vom 27. Februar 1964, 5. Aufl., § 42 Rz 2 c).

2. Im Streitfall ist der Kläger nicht aufgrund seiner als Krankheit anzusehenden Alkoholabhängigkeit (vgl. dazu BAGE 43, 54, 57 = AP Nr. 52 aaO, zu II 2 der Gründe) arbeitsunfähig geworden. Diese war vielmehr nur die mittelbare Ursache dafür. Unmittelbare Ursache für die Arbeitsunfähigkeit war der durch übermäßigen Alkoholkonsum herbeigeführte Verkehrsunfall des Klägers. Grundsätzlich ist ein den Lohnfortzahlungsanspruch beseitigendes Verschulden des Arbeitnehmers zu bejahen, wenn die Arbeitsunfähigkeit auf einem Unfall beruht, der durch Alkoholmißbrauch herbeigeführt worden ist, ohne daß eine andere Ursache dabei mitgewirkt hat (vgl. Senatsurteil vom 11. März 1987 - 5 AZR 739/85 - AP Nr. 71 zu § 1 LohnFG, zu I 1 der Gründe, mit zahlreichen Nachweisen). Im vorliegenden Fall ist allerdings folgendes in Betracht zu ziehen: Zu dem Verkehrsunfall wäre es nicht gekommen, wenn der Kläger seine krankhafte Neigung zum Alkohol hätte beherrschen können und sich während des Dienstes nicht ungehemmt dem Alkoholkonsum zugewandt hätte. Wegen seiner Alkoholabhängigkeit war er zu dieser Beherrschung jedoch nicht mehr in der Lage. Gleichwohl ist ihm der Vorwurf schuldhaften Verhaltens zu machen.

Schuldhaft handelt der Arbeitnehmer, der gröblich gegen die von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhaltensweise verstößt (s. oben zu I 1). Bei einem solchen „Verschulden gegen sich selbst” wäre es unbillig, den Arbeitgeber mit der Zahlungspflicht zu belasten, weil der Arbeitnehmer zumutbare Sorgfalt gegen sich selbst nicht beachtet und dadurch die Arbeitsunfähigkeit verursacht hat.

An Alkoholabhängigkeit Erkrankte sind nicht schlechthin schuldunfähig, sondern durchaus imstande, die von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhaltensweise zu beachten. Das gilt jedenfalls dann, wenn sie nicht unter dem Einfluß von Alkohol stehen. Aus dem unstreitigen Sachverhalt ergibt sich, daß der Kläger zur Zeit des Unfalls am 7. Februar 1983 schon seit längerem an Alkoholismus erkrankt war. Der Kläger kannte daher seine Krankheit und wußte, daß er mit dem Trinken nicht würde aufhören können, wenn er damit einmal angefangen hatte. Er kannte auch die Gefahren des Alkohols für den Autofahrer. Diese Gefahren kennt heute jeder Erwachsene. Wenn der Kläger daher gleichwohl am 7. Februar 1983 sein Fahrzeug für den Weg zur Arbeitsstelle benutzte, setzte er sich unbeherrschbaren Gefahren und damit einem besonders hohen Verletzungsrisiko aus (vgl. den für alle Bereiche des täglichen Lebens aufgestellten allgemeinen Grundsatz in BAGE 36, 371, 374 = AP Nr. 45 zu § 1 LohnFG, zu 2 a der Gründe). Unter diesen besonderen Umständen muß ihm als schuldhaft im Sinne der Lohnfortzahlungsbestimmungen zugerechnet werden, daß er sich, als er sein Verhalten noch steuern konnte, in sein Auto gesetzt hat und damit zur Arbeitsstelle gefahren ist.

II.

Ohne Erfolg rügt die Revision, das Landesarbeitsgericht habe einen Beweisantrag des Klägers übergangen und damit die Bestimmung des § 286 ZPO verletzt. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, der Kläger sei vor Antritt der Fahrt am 7. Februar 1983 noch steuerungsfähig gewesen. Demgegenüber macht die Revision geltend, der Kläger habe im Schriftsatz vom 18. November 1985 vorgetragen, seine Alkoholkrankheit bedinge, daß er auch zu dem Zeitpunkt, als er am Unfalltage mit dem Trinken begonnen habe, nicht in der Lage gewesen sei, sein Verhalten eigenverantwortlich zu steuern. Für diese Behauptung hat der Kläger Beweis angetreten durch Einholung eines Sachverständigengutachtens. Die Revision meint zu Unrecht, das Landesarbeitsgericht hätte diesem Beweisangebot nachgehen müssen.

Eine Beweiserhebung kam schon deswegen nicht in Betracht, weil der Vortrag des Klägers nicht schlüssig ist. Daß der Kläger, als er am Unfalltage während des Dienstes mit dem Alkoholkonsum anfing, sein Verhalten eigenverantwortlich alsbald nicht mehr zu steuern vermochte, mag zutreffen. Darauf kommt es aber nicht an. Das Landesarbeitsgericht hat dem Kläger – zu Recht – den Vorwurf gemacht, sich am Morgen als er nicht unter Alkoholeinfluß stand, überhaupt in seinen Wagen gesetzt und in den Straßenverkehr begeben zu haben. Daß er diese Fahrt unternommen hat, ist ihm zum Vorwurf zu machen, nicht daß er bei der Arbeit mit dem Trinken angefangen hat, wegen seiner Alkoholabhängigkeit damit nicht mehr aufhören konnte und dann schließlich in volltrunkenem Zustand einen Unfall verursachte.

Das Landesarbeitsgericht hat die beantragte Beweiserhebung daher zu Recht unterlassen.

III.

Danach stand dem Kläger ein Anspruch auf Lohnfortzahlung für die Zeit vom 7. bis zum 26. Februar 1983 nicht zu. Die Beklagte war folglich berechtigt, die überzahlten Krankenbezüge zurückzuverlangen. Sie hat zu Recht aufgerechnet. Ihr Aufrechnungsanspruch war ein Anspruch aus dem Arbeitsverhältnis und unterlag daher der tariflichen Verfallfrist (vgl. BAGE 51, 308, 310 f. = AP Nr. 67 zu § 1 LohnFG, zu II 1 der Gründe). Diese ist jedoch eingehalten worden. Auch das hat das Landesarbeitsgericht richtig erkannt.

 

Unterschriften

Dr. Thomas, Dr. Gehring, Dr. Olderog, Dr. Koffka, Nitsche

 

Fundstellen

Haufe-Index 60154

BAGE 57, 380-385 (LT1)

BAGE, 380

BB 1988, 1464-1464 (T)

DB 1988, 1403-1403 (LT1)

NJW 1988, 2323

NJW 1988, 2323-2324 (LT1)

SteuerBriefe 1988, 277 (LT1)

AiB 1988, 316-316 (LT1)

BetrR 1988, Nr 8, 15-17 (LT1)

ARST 1988, 118-119 (LT1)

DOK 1988, 688-689 (KT)

DOK 1988, 689 (K)

EWiR 1988, 919-919 (S1)

JR 1989, 44

JR 1989, 528

RdA 1988, 256

SAE 1988, 249-250 (LT1)

SKrV 1989, Nr 6, 13 (K)

USK, 8805 (ST)

WzS 1992, 757 (L)

ZTR 1988, 308-309 (LT1)

AP, Nr 77 zu § 1 LohnFG (LT1)

AuA 2005, 30

BAGUV RdSchr, 42/88 (T)

BKK 1988, 331 (K)

Blutalkohol 25, 335-337 (1988) (ST1)

Die Leistungen 1989, 251-254 (ST)

EzA, § 1 LohnFG Nr 92 (LT1)

EzBAT, Verschulden Nr 15 (LT1)

HV-INFO 1988, 1595-1598

JZ 1988, 778

JZ 1988, 778-779 (ST1)

PersR 1988, 251-252 (L1)

SVFAng Nr 51, 15 (K)

VR 1989, 69 (K)

ZfSH/SGB 1988, 373-374 (ST1)

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