Entscheidungsstichwort (Thema)

Überforderungsschutz bei Vorruhestand. Erziehungsurlaub und Beschäftigtenzahl

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Berechnung des tariflichen Überforderungsschutzes nach § 2 Nr. 2 VRTV, § 2 Abs. 1 Nr. 4 VRG

 

Normenkette

VRG § 2 Abs. 1 Nr. 4; BErzGG § 21 Abs. 7; ZPO § 551 Nr. 7; Vorruhestandstarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer und Angestellten der Bekleidungsindustrie vom 14. Juni 1984 (VRTV) §§ 1-3

 

Verfahrensgang

LAG Nürnberg (Urteil vom 10.07.1990; Aktenzeichen 4 Sa 786/88)

ArbG Bayreuth (Urteil vom 14.09.1988; Aktenzeichen 3 Ca 894/87)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Nürnberg vom 10. Juli 1990 – 4 Sa 786/88 – wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die am 19. Dezember 1929 geborene Klägerin ist seit über 18 Jahren bei der Beklagten als Büglerin beschäftigt gewesen.

Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien war der mit Wirkung vom 1. Januar 1985 für allgemeinverbindlich erklärte Vorruhestandstarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer und Angestellten der Bekleidungsindustrie vom 14. Juni 1984 (VRTV) anzuwenden.

Zu seinem Geltungsbereich wird im VRTV bestimmt:

“§ 1

Geltungsbereich

Dieser Tarifvertrag gilt:

persönlich für die der Sozialversicherungspflicht unterliegenden gewerblichen Arbeitnehmer, kaufmännischen und technischen Angestellten sowie Meister, sofern ihr Entgelt nicht die Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung übersteigt, sämtlich im folgenden “Arbeitnehmer” genannt.”

Zur Anspruchsvoraussetzung und zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses sind im VRTV folgende Regelungen getroffen:

“§ 2

Anspruchsvoraussetzungen

  • Arbeitnehmer, die das 58. Lebensjahr vollendet haben, können nach Maßgabe dieses Tarifvertrags aus dem Erwerbsleben ausscheiden und in den Vorruhestand treten, wenn sie am Tag des Ausscheidens dem Betrieb mindestens fünf Jahre ununterbrochen angehört haben.
  • Der Arbeitnehmer hat Anspruch auf eine Vorruhestandsregelung, soweit durch die Inanspruchnahme die Grenze von 2 % der Arbeitnehmer des Betriebes gem. § 2 Abs. 1 Ziff. 4 VRG nicht überschritten wird. Diese Grenze gilt mit der Maßgabe, daß in Betrieben ab 40 Arbeitnehmern ein Arbeitnehmer … diesen Anspruch haben; ….
  • Der Anspruch auf Eintritt in den Vorruhestand nach Maßgabe vorstehender Ziffern besteht:

    … im Jahre 1987 und danach für Arbeitnehmer, die vor dem Jahre 1930 geboren sind,

    …”

“§ 3

Beendigung des Arbeitsverhältnisses

  • Der Arbeitnehmer hat dem Arbeitgeber die Inanspruchnahme der Vorruhestandsregelung möglichst frühzeitig, spätestens drei Monate vor dem beabsichtigten Ausscheidenszeitpunkt, anzukündigen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer sollen sich über den Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses einigen.
  • Kommt keine Einigung über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zustande, so kann der Arbeitnehmer unter Einhaltung der für ihn maßgeblichen Kündigungsfrist durch einseitige Erklärung gegenüber dem Arbeitgeber in den Vorruhestand eintreten, wenn dadurch der Anspruchsrahmen nach § 2 Ziff. 2 nicht überschritten wird.

    …”

Mit Schreiben vom 7. September 1987 hat die Klägerin der Beklagten unter Bezugnahme auf § 3 Nr. 1 VRTV mitgeteilt, daß sie von der Möglichkeit des Vorruhestands Gebrauch machen und zum 29. Dezember 1987 aus ihrem Arbeitsverhältnis ausscheiden möchte. Die Beklagte hat am 30. September 1987 den Eintritt der Klägerin in den Vorruhestand abgelehnt.

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, ab 1. Januar 1988 sei ein Vorruhestandsverhältnis zwischen den Parteien begründet worden. Sie hat für den Betrieb der Beklagten eine durchschnittliche Beschäftigtenzahl von über 40 Arbeitnehmern errechnet.

Die Klägerin hat am 3. November 1987 beim Arbeitsgericht Klage erhoben und beantragt,

festzustellen, daß zwischen den Parteien ab dem 1. Januar 1988 ein Vorruhestandsverhältnis besteht.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten mit dem am 10. Juli 1990 verkündeten Urteil zurückgewiesen. Das Urteil ist der Beklagten am 20. Februar 1991 zugestellt worden. Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter. Die Klägerin bittet, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Zu Recht ist das Landesarbeitsgericht von einem zwischen den Parteien ab 1. Januar 1988 begründeten Vorruhestandsverhältnis ausgegangen. Im Betrieb der Beklagten waren mehr als 40 Arbeitnehmer beschäftigt. Die Klägerin ist als einzige aus der Belegschaft den Vorruhestand beanspruchende Arbeitnehmerin durch einseitige, der Beklagten am 5. November 1987 zugegangene Erklärung in den Vorruhestand getreten. Die Revision der Beklagten war deshalb zurückzuweisen.

1. Die Beklagte rügt mit der Revision erfolglos die verspätete Abfassung und Zustellung der Entscheidung des Berufungsgerichts.

a) Zwar liegt ein absoluter Revisionsgrund nach § 551 Nr. 7 ZPO vor, wenn infolge Zeitablaufs nicht mehr gewährleistet ist, daß die schriftlich niedergelegten Urteilsgründe das Ergebnis der mündlichen Verhandlung und Beratung wiedergeben. Die Entscheidung gilt dann i. S. von § 551 Nr. 7 ZPO als ein nicht mit Gründen versehenes Urteil.

Davon ist aber im arbeitsgerichtlichen Verfahren noch nicht auszugehen, wenn zwischen der Verkündung der Entscheidung und der Zustellung des Urteils etwas mehr als 7 Monate liegen. Das Bundesarbeitsgericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, daß ein Urteil ohne Gründe erst dann vorliegt, wenn zwischen Urteilsverkündung und seiner Abfassung mehr als zwölf Monate liegen (BAGE 33, 208 = AP Nr. 10 zu § 551 ZPO; BAGE 38, 55 = AP Nr. 1 zu § 68 ArbGG 1979; BAGE 44, 323 = AP Nr. 82 zu §§ 22, 23 BAT 1975; BAG Urteil vom 9. März 1983 – 4 AZR 350/81 – DB 1984, 1836; BAG Urteil vom 27. April 1988 – 4 AZR 691/87 – AP Nr. 4 zu § 10 TV ArbBundespost).

Demgegenüber sehen das Bundesverwaltungsgericht und der Bundesgerichtshof ein Urteil als nicht mit Gründen versehen an, wenn es später als fünf Monate nach seiner Verkündung abgefaßt und zugestellt wird. Nur innerhalb dieses Zeitraums sei gewährleistet, daß dem Rechtsmittelführer die Monatsfrist zur Einlegung des Rechtsmittels nach Ablauf der Frist des § 552 ZPO voll zur Verfügung stehe. Die in der genannten Bestimmung festgelegte Fünfmonatsgrenze bilde eine vom Gesetzgeber festgelegte Grenze, bis zu der davon ausgegangen werden könne, daß die Entscheidungsgründe auch tatsächlich das Ergebnis von mündlicher Verhandlung und Beratung seien (BVerwG, Vorlagebeschluß an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 23. April 1992, GrSen 1.91; BVerwG Beschluß vom 3. August 1990 – 7 C 41-43.89 – AP Nr. 17 zu § 551 ZPO und Urteil vom 5. Oktober 1990 – 4 CB 18/90 – NJW 1991, 313; BGH Urteil vom 29. Oktober 1986 – IVa ZR 119/85 – NJW 1987, 2446).

Im arbeitsgerichtlichen Verfahren hat jedoch der Gesetzgeber in § 9 Abs. 5 Satz 4 ArbGG abweichend von § 552 ZPO den zeitlichen Abstand, bis zu der äußerstenfalls das Erinnerungsvermögen der beteiligten Richter reicht, auf ein Jahr festgelegt. Daran ist auch für das vorliegende Verfahren festzuhalten.

b) Ein Zeitraum unter zwölf Monaten zwischen Verkündung und Zustellung des Urteils kann gleichwohl dann den absoluten Revisionsgrund nach § 551 Nr. 7 ZPO begründen, wenn besondere Umstände vorliegen, die an der zutreffenden Wiedergabe des Sach- und Streitstandes in den Gründen Zweifel aufkommen lassen. Legt der Rechtsmittelführer dar, er sei durch die verspätete Zustellung des Urteils an dem Stellen eines Tatbestandsberichtigungsantrags innerhalb der Dreimonatsfrist des § 320 Abs. 2 Satz 3 ZPO gehindert worden, liegt ein solcher besonderer Umstand vor. Nicht ausreichend ist hierfür der bloße formale Verlust der Berichtigungsmöglichkeit. Das angefochtene Urteil muß darüber hinaus auf den Tatsachen beruhen, dessen Berichtigung oder Ergänzung der Rechtsmittelführer begehrt (BAGE 2, 194 = AP Nr. 1 zu § 60 ArbGG 1953; BAGE 4, 81 = AP Nr. 2 zu § 60 ArbGG 1953; BAG Urteil vom 11. Juni 1963 – 4 AZR 180/62 – = AP Nr. 1 zu § 320 ZPO; BGHZ 32, 17; Stein/Jonas/Grunsky, ZPO, 20. Aufl., § 551 Rz 31; Zöller/Vollkommer, ZPO, 17. Aufl., § 320 Rz 8; Grunsky, ArbGG, 6. Aufl., § 60 Rz 11; Germelmann/Matthes/Prütting, ArbGG, § 60 Rz 32).

Die Beklagte hat mit ihrer Revision beanstandet, daß ihr durch Zeitablauf eine Tatbestandsberichtigung abgeschnitten worden sei. Damit hätte sie die Aufnahme ihres Vortrags zu den im Betrieb infolge Mutterschaft und Erziehungsurlaub vorgenommenen Ersatzeinstellungen in den Tatbestand des berufungsgerichtlichen Urteils beantragt. Diese Ersatzeinstellungen seien bei der nach § 2 Nr. 2 VRTV notwendigen Ermittlung, ob mindestens 40 Arbeitnehmer im Betrieb der Beklagten beschäftigt waren, fehlerhaft doppelt oder dreifach gezählt worden. Aus § 21 Abs. 7 BErzGG ergebe sich indessen, daß abwesende Mitarbeiterinnen bis zur Beendigung ihres Erziehungsurlaubs nicht mitzuzählen seien, soweit für sie eine befristete Vertretungskraft eingestellt worden sei.

Die zulässige Verfahrensrüge der Beklagten dringt nicht durch, denn § 21 Abs. 7 BErzGG ist auf den vorliegenden Sachverhalt nicht anwendbar. Die Zahl der Arbeitnehmer im Betrieb der Beklagten ist nicht maßgeblich für die Anwendung arbeitsrechtlicher Gesetze oder Verordnungen. Entscheidungserheblich ist, ob eine tarifvertraglich für die Inanspruchnahme von Vorruhestand gesetzte Untergrenze der Belegschaftsstärke überschritten wird, die den Arbeitgeber vor Überforderung schützen soll. Es kommt demnach nicht auf die Anwendung arbeitsrechtlicher Gesetze oder Verordnungen an, sondern allein auf die Auslegung der §§ 2 Nr. 2, 3 Nr. 2 VRTV. Dort findet sich keine § 21 Abs. 7 BErzGG entsprechende Regelung, wonach die Arbeitnehmer nicht mitzuzählen sind, für die eine befristete Ersatzkraft eingestellt worden ist. In § 2 Nr. 2 Satz 1 VRTV wird auf § 2 Abs. 1 Vorruhestandsgesetz (VRG), nicht auf § 21 Abs. 7 BErzGG verwiesen. Danach ist für die Festlegung des Überforderungsschutzes nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 VRG allein auf die Zahl der im Durchschnitt der in den letzten zwölf Monaten beschäftigten Arbeitnehmer im Betrieb der Beklagten abzustellen. Die behauptete Fehlerhaftigkeit des Tatbestandes zu den Ersatzeinstellungen kann die Entscheidung daher nicht beeinflussen (§ 563 ZPO). Ein Revisionsgrund ist insoweit nicht gegeben.

2. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend festgestellt, daß zwischen den Parteien ab dem 1. Januar 1988 ein Vorruhestandsverhältnis gem. § 3 VRTV besteht.

a) Der VRTV findet auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung, da er für allgemeinverbindlich erklärt worden ist (§ 5 Abs. 4 TVG). § 3 Nr. 1 VRTV sieht vor, daß die Arbeitsvertragsparteien nach einer mindestens dreimonatigen Ankündigungsfrist seitens des Arbeitnehmers sich über den Eintritt in den Vorruhestand und die gleichzeitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses einigen sollen. Gelingt dies nicht, kann der den Vorruhestand begehrende Arbeitnehmer auch durch Erklärung gegen den Willen des Arbeitgebers in den Vorruhestand eintreten.

Die Klägerin hat der Beklagten mit Schreiben vom 7. September 1987 und damit rechtzeitig drei Monate vor dem beabsichtigten Ausscheidenszeitpunkt die Inanspruchnahme der Vorruhestandsregelung angekündigt (§ 3 Nr. 1 VRTV). Die Beklagte hat die einvernehmliche Begründung eines Vorruhestandsverhältnisses mit der Klägerin abgelehnt. Die Klägerin war deshalb gem. § 3 Nr. 2 VRTV berechtigt, durch Erklärung gegenüber der Beklagten unter Einhaltung der für sie maßgeblichen Kündigungsfrist in den Vorruhestand einzutreten.

Die Klägerin hat eine solche Erklärung nicht ausdrücklich abgegeben. Doch bedarf die einseitige Erklärung nach dem Tarifvertrag keiner bestimmten Form. Sie kann auch durch schlüssiges Verhalten erfolgen. Der von der Klägerin gestellte Antrag, festzustellen, daß zwischen den Parteien ab dem 1. Januar 1988 ein Vorruhestandsverhältnis besteht, konnte die Beklagte nur dahin verstehen (§§ 133, 157 BGB), daß die Klägerin von ihrem tariflichen Recht nach § 3 Nr. 2 VRTV Gebrauch machen wollte, in den Ruhestand einzutreten. Da die Klageschrift eine Erklärung gegenüber dem Prozeßgegner ist, erfolgte die Erklärung mit der gerichtlichen Zustellung auch gegenüber der Beklagten als Arbeitgeberin.

Der Wirksamkeit der Erklärung steht nicht entgegen, daß die Klageschrift durch die von der Klägerin beauftragten Rechtssekretäre eingereicht wurde. Die ihnen erteilte Prozeßvollmacht berechtigt nicht nur zur Abgabe von Prozeßerklärungen, sondern auch zur Abgabe von materiell-rechtlichen Willenserklärungen gegenüber der Beklagten, soweit diese sich auf den Gegenstand des Rechtsstreits beziehen (Zöller/Vollkommer, ZPO, § 81 Rz 10; Germelmann/ Matthes/Prütting, ArbGG, § 11 Rz 105). Gegenstand des Rechtsstreits ist das Bestehen eines Vorruhestandsverhältnisses zwischen den Parteien. Die Abgabe der Erklärung gem. § 3 Nr. 2 VRTV ist Voraussetzung für die Entstehung eines Vorruhestandsverhältnisses, steht daher in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Streitgegenstand.

Ist das Arbeitsverhältnis mit der Erklärung der Klägerin beendet worden, geht die als “vorsorgliche Kündigung” bezeichnete Erklärung der Klägerin vom 10. Mai 1988 ins Leere. Mit der Klageerhebung hat die Klägerin auch die für sie nach § 3 Nr. 2 VRTV einzuhaltende tarifliche Kündigungsfrist gewahrt. Nach § 22 Nr. 1 des Manteltarifvertrages für die gewerblichen Arbeitnehmer der Bekleidungsindustrie im Bundesgebiet vom 17. Mai 1979 i. d. F. vom 17. Juni 1984 beträgt die Kündigungsfrist zwei Wochen zum Wochenschluß. Mit der am 5. November 1987 der Beklagten zugestellten Klageschrift wird diese Frist eingehalten.

b) Entgegen der Rechtsauffassung der Revision wird durch die Inanspruchnahme des Vorruhestandes seitens der Klägerin der Anspruchsrahmen nach § 2 Nr. 2 VRTV nicht überschritten (§ 3 Nr. 2 VRTV). § 2 Nr. 2 VRTV bestimmt, daß ein Arbeitnehmer nur dann Anspruch auf eine Vorruhestandsregelung hat, soweit durch die Inanspruchnahme des Vorruhestands die Grenze von 2 % der Arbeitnehmer des Betriebes gem. § 2 Abs. 1 Nr. 4 VRG nicht überschritten wird. Diese Grenze gilt nach § 2 Nr. 2 VRTV mit der Maßgabe, daß in Betrieben ab 40 Arbeitnehmern und unter 90 Arbeitnehmern ein Arbeitnehmer Anspruch auf Vorruhestand hat. Die Beklagte hat 40 Arbeitnehmer beschäftigt, so daß die Klägerin gem. § 2 Nr. 2 Satz 2 VRTV als einzige Anspruchsstellerin aus der Belegschaft den Vorruhestand verlangen kann.

Für die Berechnung der für den sog. Überforderungsschutz des § 2 Nr. 2 VRTV maßgeblichen Arbeitnehmerzahl ist auf die Zahl der Arbeitnehmer abzustellen, die ausschließlich der Auszubildenden und Schwerbehinderten im Durchschnitt der letzten zwölf Kalendermonate vor dem Ausscheiden des Arbeitnehmers beschäftigt waren (§ 2 Abs. 1 Nr. 4 VRG). Maßgeblich ist allein die durchschnittliche Beschäftigtenzahl der letzten zwölf Monate vor dem Ausscheiden des Arbeitnehmers (vgl. auch BT-Drucks. 10/1175, S. 28); die zukünftige Entwicklung der Beschäftigtenzahl ist ebensowenig zu berücksichtigen wie die regelmäßige Beschäftigungszahl (vgl. Arbeitsgericht Gelsenkirchen, Urteil vom 13. Juni 1985 – 3 Ca 271/85 – DB 1985, 2002). Anders als in § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG kommt es nicht auf die Zahl der “in der Regel” beschäftigten Arbeitnehmer an, sondern nach dem abweichenden Wortlaut des § 2 Abs. 1 Nr. 4 VRG auf die Zahl der im Durchschnitt der letzten zwölf Monate beschäftigten Arbeitnehmer. Abweichend vom Kündigungsschutzgesetz werden mit der Durchschnittsberechnung Schwankungen in der Beschäftigtenzahl deshalb voll berücksichtigt. Der insoweit eindeutige Wortlaut des § 2 Abs. 1 Nr. 4 VRG verbietet eine andere Berechnung. Maßgeblich ist die Zahl der bei der Beklagten im Durchschnitt von Januar bis Dezember 1987 beschäftigten Arbeitnehmer, nachdem die Klägerin ihr Ausscheiden zum 31. Dezember 1987 erklärt hat.

Entgegen der Auffassung der Beklagten ist insoweit nicht auf den Zeitpunkt des tatsächlichen Ausscheidens des Arbeitnehmers, sondern der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses abzustellen. Dies ist entweder der Zeitpunkt, auf den sich die Parteien geeinigt haben (§ 3 Nr. 1 VRTV), oder der Zeitpunkt, zu dem die einseitige Erklärung gem. § 3 Nr. 2 VRTV wirksam wird. Würde das tatsächliche Ausscheiden zugrunde gelegt, käme es zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit, wenn durch das Führen eines Rechtsstreits der Zeitpunkt des tatsächlichen Ausscheidens lange Zeit ungewiß bleibt.

Für die Bestimmung des sog. Überforderungsschutzes nach den maßgeblichen Vorschriften des VRTV und des VRG sind mit Ausnahme der Auszubildenden und Schwerbehinderten alle sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer (§ 1 VRTV) zu berücksichtigen. Es sind demnach auch die Beschäftigten im Erziehungsurlaub mitzuzählen. Ihr Arbeitsverhältnis besteht unter Ruhen der beiderseitigen Hauptpflichten fort (BAG Urteil vom 22. Juni 1988 – 5 AZR 526/87 –; BAG Urteil vom 10. Mai 1989 – 6 AZR 660/87 – EZA, § 16 BErzGG Nr. 2; Winterfeld, NA, Stand Februar 1990, Teil M, Rz 183) und unterliegt auch – wenngleich beitragsfrei – weiterhin der Sozialversicherungspflicht (Winterfeld, aaO, Rz 369 ff). Aufgrund ihrer Sozialversicherungspflicht sind sie auch als Arbeitnehmer i. S. von § 1 VRTV in die Berechnung aufzunehmen. Ebenfalls zu berücksichtigen sind die für diese Arbeitnehmer eingestellten Ersatzkräfte, denn § 21 Abs. 7 BErzGG ist hier nicht anwendbar (vgl. oben zu 1b der Gründe). Der Durchschnitt der bei der Beklagten in den letzten zwölf Kalendermonaten beschäftigten Arbeitnehmer ist also unter Einschluß der Arbeitnehmer zu errechnen, die Erziehungsurlaub hatten.

Für die Berechnung ist für jeden Monat die durchschnittliche Beschäftigtenzahl zu bestimmen. Soweit das Landesarbeitsgericht zur Feststellung der Zahl der Arbeitnehmer einen Stichtag auf den 31. eines Monats festgelegt hat, widerspricht dies der tariflichen Regelung. Scheidet ein Arbeitnehmer während des laufenden Monats aus, ist vielmehr eine durchschnittliche Beschäftigtenzahl zu errechnen. Der im Verlauf des Monats ausscheidende Arbeitnehmer ist daher mit dem Anteil im Monat zu berücksichtigen, in dem sein Arbeitsverhältnis bestanden hat. Für die Entscheidung kann offenbleiben, ob die Summe der exakten monatlichen Durchschnittswerte durch zwölf zu teilen oder ob jeder monatliche Durchschnittswert zunächst auf volle Zahlen auf- bzw. abzurunden ist (vgl. Rundungsregel § 2 Nr. 2 Satz 2 VRTV), bevor deren Summe durch zwölf zu dividieren ist. Beide Berechnungsarten führen vorliegend zu dem Ergebnis, daß durchschnittlich über 40 Arbeitnehmer im Betrieb der Beklagten waren.

Im einzelnen ergibt sich für das Jahr 1987 nach der einen Berechnungsmethode folgende Entwicklung der Beschäftigtenzahl bei der Beklagten:

In der Zeit von Januar bis April 1987 beschäftigte die Beklagte 41 Arbeitnehmer. Hierbei sind die sich in Erziehungsurlaub befindenden Arbeitnehmerinnen S… (ab 2. Dezember 1986) und Sc … (ab 30. März 1987) mitgezählt.

Am 29. Mai 1987 schied die Arbeitnehmerin Sch … aus dem Betrieb der Beklagten aus, so daß sich für Mai 1987 eine durchschnittliche Beschäftigtenzahl von 40,9 Arbeitnehmern ergibt.

Im Juni und Juli 1987 blieb der Mitarbeiterbestand mit je 40 Arbeitnehmern unverändert.

Ab dem 1. August 1987 wurde zusätzlich die Arbeitnehmerin V… eingestellt. Die Arbeitnehmerin S… beendete ihren Erziehungsurlaub und war ab dem 10. August wieder für die Beklagte tätig. Ab dem 24. August wurde die Arbeitnehmerin Sy… eingestellt. Soweit ihre Einstellung befristet zur Probe erfolgt, ändert dies nichts daran, daß sie in einem Arbeitsverhältnis steht und demzufolge in die Berechnung der Beschäftigtenzahl eingeht. Zum 31. August schieden die Arbeitnehmer B… und W… bei der Beklagten aus. Es ergibt sich daher für August 1987 eine durchschnittliche Arbeitnehmerzahl von 41,3.

Zum 1. September 1987 trat der Mitarbeiter E… in den Betrieb der Beklagten ein. Zum 24. September 1987 schied die Arbeitnehmerin S… und zum 30. September 1987 die Arbeitnehmerin Sa … aus. Damit ergibt sich für September 1987 eine Beschäftigtenzahl von 40,8.

Zum 15. Oktober 1987 schied sodann die Arbeitnehmerin S… aus. Für Oktober 1987 ergibt sich daher eine Beschäftigtenzahl von 38,5.

Ab dem 24. November 1987 wurde zusätzlich die Arbeitnehmerin F… – zunächst befristet auf Probe – eingestellt. Im November 1987 beschäftigte die Beklagte somit 38,2 Arbeitnehmer.

Nach Ablauf ihres Erziehungsurlaubs schied die Arbeitnehmerin Sc… mit dem 6. Dezember 1987 aus. Die Arbeitnehmerin F… wurde nach Ablauf der Probezeit am 18. Dezember nicht weiter beschäftigt. Die Arbeitnehmerin L… hatte ab dem 25. Dezember Erziehungsurlaub. Für Dezember 1987 ergibt sich daher eine Arbeitnehmerzahl von 37,8.

Für das gesamte Jahr 1987 ergibt sich demnach eine Beschäftigtenzahl von 481,5, d.h. im Durchschnitt je Monat 40,13 Arbeitnehmer. Unterlegt man die gerundeten Monatszahlen nach der anderen Methode, sind 482 (41 × 7 Monate + 40 × 2 Monate + 38 × 2 Monate + 39 × 1 Monat) durch 12 (Monate) zu teilen. Auch hiernach ist im Durchschnitt eine Beschäftigtenzahl von 40,16 Arbeitnehmern erreicht und damit die Grenze des § 2 Nr. 2 VRTV i. V. m. § 2 Abs. 1 Nr. 4 VRG überschritten.

c) Die Klägerin hat auch die übrigen Voraussetzungen für den Eintritt in den Vorruhestand erfüllt. Mit dem 29. Dezember 1987 hat sie das 58. Lebensjahr vollendet (§ 2 Nr. 1, Nr. 4 VRTV). Sie gehörte dem Betrieb der Beklagten mehr als 18 Jahre und damit länger als 5 Jahre (§ 2 Nr. 1 2. HS VRTV) an.

3. Die Beklagte hat die Kosten des erfolglosen Rechtsmittels zu tragen (§ 97 Abs. 1 ZPO).

 

Unterschriften

Dr. Leinemann, Dörner, Dr. Lipke, Dr. Wolter, Beckerle

 

Fundstellen

Haufe-Index 846789

BB 1992, 2149

RdA 1992, 402

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