Entscheidungsstichwort (Thema)

Verdienstausfall durch Ratsherrentätigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

Nach § 10 Nr. 1 Buchst. b des Manteltarifvertrages für die Arbeitnehmer und Auszubildenden in der Milch-, Käse- und Schmelzkäseindustrie sind die Arbeitgeber nicht verpflichtet, ihren Arbeitnehmern für die Zeiten einer Ratsherrentätigkeit nach der Niedersächsischen Gemeindeordnung den Unterschiedsbetrag zwischen dem entgangenen Arbeitsentgelt und dem von der Gemeinde gewährten Ersatz des Verdienstausfalles zu zahlen. Die Ratsherrentätigkeit ist nicht als Erfüllung einer öffentlich-rechtlichen Verpflichtung im Sinne dieser Tarifvorschrift anzusehen.

 

Normenkette

TVG § 1 Tarifverträge: Milch-Käseindustrie; Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer und Auszubildenden in der Milch-, Käse- und Schmelzkäseindustrie § 10 Nr. 1 Buchst. b; BGB a.F. § 616 Abs. 1; Niedersächsische Gemeindeordnung §§ 39, 23 Abs. 1, § 37 Abs. 1; Niedersächsisches Kommunalwahlgesetz § 40; BAT § 52 Abs. 1 Nr. 1

 

Verfahrensgang

LAG Niedersachsen (Urteil vom 29.04.1994; Aktenzeichen 3 Sa 2192/93)

ArbG Verden (Aller) (Urteil vom 18.11.1993; Aktenzeichen 2 Ca 50/93)

 

Tenor

  • Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 29. April 1994 – 3 Sa 2192/93 – aufgehoben.
  • Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Verden (Aller) vom 18. November 1993 – 2 Ca 50/93 – wird zurückgewiesen.
  • Der Kläger hat die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger für die Zeiten seiner Ratsherrentätigkeit den Unterschiedsbetrag zwischen dem entgangenen Arbeitsentgelt und dem von der Gemeinde gewährten Ersatz des Verdienstausfalles zu zahlen.

Der Kläger ist bei der Beklagten als Betriebsschlosser beschäftigt. Auf sein Arbeitsverhältnis finden die Tarifverträge für die Arbeitnehmer in der Milch-, Käse- und Schmelzkäseindustrie Anwendung. § 10 des Manteltarifvertrages für die Arbeitnehmer und Auszubildenden in der Milch-, Käse- und Schmelzkäseindustrie des Gebietes Hamburg, Schleswig-Holstein, Bremen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Hessen und Rheinland-Pfalz (MTV) lautet auszugsweise wie folgt:

“§ 10

Arbeitsverhinderung

  • Ist der Arbeitnehmer für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit durch einen in seiner Person liegenden Grund ohne sein Verschulden an der Arbeitsleistung verhindert (§§ 616 BGB, 63 HGB, 133c GewerbeO), so ist das Entgelt in folgenden Fällen fortzuzahlen:

    • aus Anlaß der Erfüllung öffentlich-rechtlicher Verpflichtungen, soweit Entschädigungen hierfür nicht gewährt werden, für die benötigte Zeit, nicht jedoch, wenn der Arbeitnehmer im Strafprozeß Beschuldigter oder im Zivilprozeß Partei ist.

Der Kläger ist Mitglied sowohl des Rates der Samtgemeinde Z… als auch des Rates der Gemeinde H…. Bis zum 31. März 1992 glich die Beklagte den durch die Ratsherrentätigkeit entstandenen Lohnausfall aus. Seit 1. April 1992 stellte sie den Kläger nur noch von der Arbeit frei, zahlte jedoch für Zeiten der Ratsherrentätigkeit keine Arbeitsvergütung mehr. Daraufhin wandte sich der Kläger, dessen Stundenlohn sich im Jahre 1992 auf 20,38 DM brutto belief, an die Samtgemeinde Z… und die Gemeinde H…. Während ihm die Samtgemeinde Z… den durch die Ratsherrentätigkeit entstandenen Verdienstausfall in vollem Umfang ersetzt, gewährt ihm die Gemeinde H… entsprechend ihrer Satzung über die Entschädigung für ehrenamtliche Tätigkeiten vom 6. Mai 1977 lediglich 15,-- DM pro Stunde für seinen Verdienstausfall durch Ratsherrentätigkeit. Er hat am 1. April und 2. April 1992 je zwei Stunden, am 21. Oktober 1992 7 3/4 Stunden und am 16. November 1992 weitere zwei Stunden Ratsherrentätigkeit ausgeübt.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Beklagte sei nach § 10 Nr. 1 Buchst. b MTV insoweit zur Fortzahlung der Arbeitsvergütung verpflichtet, als die Gemeinde H… aufgrund ihrer Satzung den durch die Ratsherrentätigkeit entstandenen Verdienstausfall nicht ersetzt.

Der Kläger hat zuletzt beantragt,

  • die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 280,23 DM brutto abzüglich 206,25 DM netto nebst 4 % Zinsen aus dem sich ergebenden Nettobetrag aus 239,47 DM brutto abzüglich 176,25 DM netto seit 14. Januar 1993 und aus 40,76 DM brutto abzüglich 30,-- DM netto seit dem 1. Februar 1993 zu zahlen.
  • festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger ab 1. Januar 1993 Lohn für ausgefallene Arbeitsstunden aus Anlaß seiner Ratsherrentätigkeit in der Gemeinde Heeslingen gemäß § 10 Nr. 1 Buchst. b MTV für die Arbeitnehmer und Auszubildenden in der Milch-, Käse- und Schmelzkäseindustrie vom 16. März 1989 nebst 4 % Zinsen aus dem sich jeweils ergebenden Nettobetrag ab jeweiliger monatlicher Fälligkeit zu zahlen.

Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Sie hat die Auffassung vertreten, nach § 10 Nr. 1 Buchst. b MTV könne der Kläger keine bezahlte Freistellung von der Arbeit verlangen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht der Klage stattgegeben und die Revision zugelassen. Die Beklagte begehrt mit ihrer Revision die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Dem Kläger steht der geltend gemachte Vergütungsanspruch für die Zeiten seiner Ratsherrentätigkeit nicht zu. Er kann lediglich von den Gemeinden, deren Rat er angehört, Ersatz seines Verdienstausfalles verlangen.

1. Als Anspruchsgrundlage kommt allein § 10 Nr. 1 Buchst. b MTV in Betracht.

a) § 39 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der Niedersächsischen Gemeindeordnung (NGO) verpflichtet den Arbeitgeber nur zur Arbeitsbefreiung, begründet jedoch keinen Anspruch auf Lohnfortzahlung.

b) Ebensowenig kann die Klageforderung auf § 616 Abs. 1 BGB alte Fassung gestützt werden. Diese Regelung konnte durch Tarifvertrag abbedungen oder verändert werden (vgl. u.a. BAGE 41, 123, 126 = AP Nr. 58 zu § 616 BGB, m.w.N.). Von dieser Möglichkeit haben die Tarifvertragsparteien in § 10 Nr. 1 MTV Gebrauch gemacht und dies im Tarifwortlaut auch klar zum Ausdruck gebracht. Der Entgeltfortzahlungsanspruch wird auf die im Tarifvertrag näher umschriebenen Fälle beschränkt. Dabei handelt es sich um keine beispielhafte, sondern um eine abschließende Aufzählung.

2. Entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts sind die Anspruchsvoraussetzungen des § 10 Nr. 1 Buchst. b MTV nicht erfüllt.

a) Die Ratsherrentätigkeit ist nicht als Erfüllung einer öffentlich-rechtlichen Verpflichtung anzusehen. Der Arbeitsausfall beruhte auf einem freien Willensentschluß des Klägers und nicht auf einem rechtlichen Zwang.

aa) Die Bürger sind zwar nach § 23 Abs. 1 NGO verpflichtet, Ehrenämter und sonstige ehrenamtliche Tätigkeiten für die Gemeinde zu übernehmen und auszuüben. Die Mitgliedschaft im Rat ist aber kein derartiges Ehrenamt, sondern ein Wahlmandat. Nach § 36 NGO beginnt die Mitgliedschaft im Rat mit der Annahme der Wahl. Der Gewählte ist nach § 40 des Niedersächsischen Kommunalwahlgesetzes (NKWG) nicht verpflichtet, die Wahl anzunehmen. Die Mitgliedschaft im Rat endet nach § 37 Abs. 1 Nr. 1 NGO durch Verzicht, der jederzeit möglich ist und keiner Begründung bedarf (Thiele, Niedersächsische Gemeindeordnung, 2. Aufl., § 37 Anm. 1).

bb) Entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts ergibt sich aus dem letzten Halbsatz des § 10 Nr. 1 Buchst. b MTV nicht, daß die Freiwilligkeit der Übernahme und Beibehaltung eines Wahlmandats unerheblich ist. Die Stellung eines Beschuldigten in einem Strafverfahren oder eines Beklagten in einem Zivilprozeß beruht nicht auf einem frei gefaßten Entschluß. Da Selbsthilfe grundsätzlich gesetzlich verboten ist, muß der Kläger eines Zivilprozesses seine vom Beklagten bestrittenen Rechte gerichtlich geltend machen. Die im letzten Halbsatz des § 10 Nr. 1 Buchst. b NGO aufgeführten Arbeitsverhinderungen könnten demnach – im Gegensatz zur Übernahme eines Wahlmandats – an sich unter § 10 Nr. 1 Buchst. b MTV fallen, so daß insoweit eine einschränkende Zusatzregelung erforderlich war.

cc) Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts spielt das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 16. Dezember 1993 (– 6 AZR 236/93 – AP Nr. 5 zu § 52 BAT, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung bestimmt) im vorliegenden Fall keine Rolle. Diese Entscheidung ist zu § 52 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b BAT ergangen. Nach dieser Tarifvorschrift wird der Angestellte “zur Ausübung öffentlicher Ehrenämter” für die Dauer der unumgänglich notwendigen Abwesenheit von der Arbeit freigestellt. Eine derartige Formulierung fehlt in § 10 Nr. 1 Buchst. b MTV. Diese Tarifvorschrift ist enger gefaßt als § 52 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b BAT. Sie beschränkt die Lohnfortzahlung auf die Erfüllung öffentlichrechtlicher Verpflichtungen.

b) Ebenso wie in dem Fall, der dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 7. Dezember 1956 (– 3 AZR 393/54 – AP Nr. 7 zu § 616 BGB) zugrunde lag, hat die Gemeinde H… den ihr zustehenden Gestaltungsspielraum bei der Entschädigung der Ratsherren nicht ausgeschöpft. In der damaligen Entscheidung hat das Bundesarbeitsgericht den Arbeitnehmer, der die ihm gewährte Entschädigung für unzureichend hielt, darauf verwiesen, sich an die Gemeinde zu wenden und auf eine Erhöhung der Entschädigung hinzuwirken. Neumann-Duesberg hat in seiner Anmerkung zu AP Nr. 7 zu § 616 BGB zutreffend darauf hingewiesen, daß “der Arbeitgeber … hier nicht der Lückenbüßer zu sein brauche”. Noch weniger muß der Arbeitgeber die Folgen einer rechtsfehlerhaften Gemeindesatzung beseitigen.

aa) Die Begrenzung des Ersatzes des Verdienstausfalles auf 15,-- DM je Stunde widerspricht dem § 39 NGO. Nach § 39 Abs. 5 Satz 1 NGO haben die Ratsherren einen Anspruch gegen die Gemeinde auf Ersatz ihrer Auslagen und ihres Verdienstausfalles. Diese Ansprüche müssen zwar nach § 39 Abs. 5 Satz 2 NGO durch Satzung auf Höchstbeträge je Stunde und können außerdem auf Höchstbeträge je Tag oder je Monat begrenzt werden. Aus dem systematischen Zusammenhang zwischen § 39 Abs. 5 Satz 1 und 2 NGO und dem Wortlaut “Höchstbeträge” ergibt sich, daß nur der Ersatz eines überdurchschnittlichen Verdienstausfalles ausgeschlossen werden kann. Die Gemeinde soll nicht anläßlich einer Ratsherrentätigkeit verpflichtet sein, Spitzenverdienste auszugleichen. Bei der Festlegung der Höchstsätze ist deshalb darauf zu achten, daß zumindest der unselbständig tätige, durchschnittlich entlohnte Ratsherr vor unzumutbarer Verdiensteinbuße bewahrt bleibt (vgl. Thiele, NGO, 2. Aufl., § 39 Anm. 6). Beschränkt die Satzung der Gemeinde den Ersatz des Verdienstausfalls auf Beträge, die sogar bei unselbständig Tätigen sehr häufig unzureichend sind, so wird die Bereitschaft zur Übernahme und Ausübung des Amtes eines Ratsherrn in einem mit dem Behinderungsverbot des § 39 Abs. 2 Satz 1 NGO nicht mehr zu vereinbarenden Maße beeinträchtigt.

bb) Der Stundenlohn des Klägers betrug 20,38 DM brutto. Dies ergibt bei einer 40-Stunden-Woche einen Bruttomonatsverdienst von etwa 3.525,-- DM. Schon im Juli 1991 lag der durchschnittliche Monatsbruttoverdienst der Arbeitnehmer (Arbeiter und Angestellte) bei 4.152,-- DM (Datenreport 1992, Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland, herausgegeben vom Statistischen Bundesamt, S. 371).

Der Höchstsatz von 15,-- DM war bereits in der Gemeindesatzung über die Entschädigung für ehrenamtliche Tätigkeiten vom 6. Mai 1977 enthalten. Die Gemeinde H… hat die Entwicklung der nachfolgenden 15 Jahre nicht mehr berücksichtigt und keine Anpassung der Höchstsätze vorgenommen. Mit dieser dem § 39 NGO widersprechenden Untätigkeit werden nicht Vergütungsansprüche des Ratsherrn gegen seinen Arbeitgeber ausgelöst. Vielmehr muß sich der Ratsherr an seine Gemeinde halten und dort auf Abhilfe drängen.

3. Abgesehen davon, daß die Klageforderung bereits dem Grunde nach nicht besteht, kann der Kläger von der Beklagten nicht den Stundenlohn von 20,38 DM brutto abzüglich 15,-- DM netto verlangen. Aus 20,38 DM brutto ergab sich auch im Jahre 1992 nach Abzug der Steuern und der Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung ein Betrag von weniger als 15,-- DM netto. Der Arbeitgeber ist nicht verpflichtet, für den von der Gemeinde gewährten Ersatz des Verdienstausfalls Steuern und Sozialversicherungsabgaben zu zahlen.

 

Unterschriften

Dr. Heither, Kremhelmer, Bepler, Schmidt, Oberhofer

 

Fundstellen

Haufe-Index 870862

BB 1996, 276

JR 1996, 264

NZA 1996, 383

AP, 0

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