Entscheidungsstichwort (Thema)

Verweigerung der Entgeltfortzahlung bei unterlassener Mitteilung (nur) der ausländischen Urlaubsadresse? Beweiswert ausländischer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die in einem Land außerhalb der EU ausgestellt wurde, kommt im allgemeinen der gleiche Beweiswert zu wie einer in Deutschland ausgestellten Bescheinigung. Die Bescheinigung muß jedoch erkennen lassen, daß der ausländische Arzt zwischen einer bloßen Erkrankung und einer mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Krankheit unterschieden und damit eine den Begriffen des deutschen Arbeits- und Sozialversicherungsrechts entsprechende Beurteilung vorgenommen hat (BAGE 48, 115 = AP Nr. 4 zu § 3 LohnFG).

2. § 7 Abs. 1 Nr. 1 EFZG räumt dem Arbeitgeber nur das Recht ein, die Entgeltfortzahlung zeitweilig zu verweigern. Die Verletzung der Mitteilungspflichten des § 5 Abs. 2 Satz 1 EFZG kann je nach den Umständen des Einzelfalls dazu führen, daß der Beweis für das Vorliegen der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als nicht erbracht anzusehen ist.

3. Teilt der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber seine im Ausland eingetretene Arbeitsunfähigkeit telefonisch mit und fragt der Arbeitgeber nicht nach der Urlaubsanschrift, so kann er die Entgeltfortzahlung nicht mit der Begründung verweigern, ihm sei dadurch die Möglichkeit genommen worden, die Arbeitsunfähigkeit überprüfen zu lassen.

 

Normenkette

EFZG § 3 Abs. 1, §§ 5, 7

 

Verfahrensgang

Hessisches LAG (Urteil vom 18.10.1995; Aktenzeichen 1 Sa 1367/95)

ArbG Offenbach am Main (Urteil vom 27.07.1995; Aktenzeichen 5 Ca 64/95)

 

Tenor

1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 18. Oktober 1995 – 1 Sa 1367/95 – wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

VonRechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.

Der bei der Klägerin gegen Krankheit versicherte Arbeitnehmer E. war bei der Beklagten vom 26. November 1985 bis zum 31. Dezember 1994 beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis fand der gemeinsame Manteltarifvertrag der Hessischen Eisen-, Metall- und Elektroindustrie Anwendung.

Herr E. war bereits vom 26. August bis zum 13. September 1987 und vom 16. August bis zum 25. August 1989 in der Türkei arbeitsunfähig krank geschrieben worden, wo er damals seinen Urlaub verbrachte.

Seinen für die Zeit vom 1. August bis Anfang September 1994 bewilligten Urlaub verbrachte der Arbeitnehmer wiederum in der Türkei. Am 25. August 1994 bescheinigte ihm der Vertragsarzt des zuständigen türkischen Sozialversicherungsträgers krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit wegen akuter Enteritis (Dünndarmentzündung). Davon unterrichtete der türkische Sozialversicherungsträger die Klägerin auf dem nach dem deutsch-türkischen Abkommen über soziale Sicherheit und der dazu ergangenen Durchführungsvereinbarung vorgesehenen zweisprachigen Formblatt A/T 15. Darin heißt es u.a.:

„A. Antrag auf Leistungen

3. Der vorgenannte Versicherte hat am 25. August 1994 Geldleistungen beantragt wegen Arbeitsunfähigkeit infolge

Akut enterit … (Krankheitsbezeichnung),

4. Die Bescheinigung des … Vertragsarztes … ist beigefügt. …”

Am Tag der Krankschreibung (25. August 1994) unterrichtete der Arbeitnehmer seinen unmittelbaren Vorgesetzten telefonisch von seiner Arbeitsunfähigkeit. Am 29. August 1994 ging bei der Beklagten die schriftliche Auslandskrankmeldung ein. Sie wurde dem Betriebsratsmitglied S. von einem türkischen Kollegen überbracht.

Am 4. September 1994 stellte ein anderer Vertragsarzt des türkischen Sozialversicherungsträgers die Fortdauer der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers bei derselben Diagnose für die Zeit bis zum 13. September 1994 fest. Davon unterrichtete der türkische Sozialversicherungsträger die Klägerin mit dem dafür vorgesehenen, am 22. September 1994 ausgestellten zweisprachigen Formular A/T 18. Am 13. September 1994 kehrte der Arbeitnehmer in die Bundesrepublik zurück. An dem selben Tag untierrichtete er die Beklagte über die Verlängerung der Erkrankung. Am 14. September 1994 nahm der Arbeitnehmer die Arbeit bei der Beklagten wieder auf.

Die Beklagte verweigerte die Entgeltfortzahlung, da Herr E gegen seine Mitteilungspflichten aus § 5 Abs. 2 EFZG verstoßen habe. Daraufhin gewährte die Klägerin dem Arbeitnehmer Krankengeld für die Zeit vom 25. August bis zum 13. September 1994 in Höhe von insgesamt 1.803,40 DM. Sie verlangt von der Beklagten Erstattung dieses Betrages.

Die Klägerin hat vorgetragen: Der bei ihr versicherte Arbeitnehmer sei arbeitsunfähig krank gewesen. Das sei durch die Atteste der Vertragsärzte des türkischen Sozialversicherungsträgers bewiesen. Die Bescheinigungen seien ordnungsgemäß ausgestellt worden. Der Arbeitnehmer sei gründlich untersucht worden und habe sich mit dem Arzt, der die erste Bescheinigung ausgestellt habe, ausführlich über seinen Arbeitsplatz unterhalten. Die Beklagte könne sich nicht darauf berufen, daß der Arbeitnehmer seine Urlaubsanschrift nicht mitgeteilt habe, was sie mit Nichtwissen bestreite. Sie habe ihn in dem Telefongespräch nicht danach gefragt. Sie habe auch seinen Kollegen nicht befragt, der die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung überbracht habe.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie 1.803,48 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 14. Februar 1995 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vorgetragen: Es könne zwar zutreffen, daß der Arbeitnehmer in der Türkei krank geworden sei. Er sei jedoch nicht arbeitsunfähig gewesen. Er habe aber schon deshalb keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung gehabt, weil er seine Urlaubsanschrift nicht mitgeteilt habe. Aus diesem Grunde sei es ihr unmöglich geworden, ihn an seinem Aufenthaltsort durch einen Arzt ihres Vertrauens untersuchen zu lassen. Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit ergäben sich daraus, daß Herr E. sich bereits 1987 und 1989 während seines Urlaubs in der Türkei habe krankschreiben lassen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Mit der Revision erstrebt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Der Anspruch des Arbeitnehmers auf Entgeltfortzahlung (§ 3 Abs. 1 EFZG) ist in Höhe des geleisteten Krankengeldes auf die Klägerin übergegangen (§ 115 Abs. 1 SGB X). Der Beweis für die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit ist erbracht.

I. Der Entgeltfortzahlungsanspruch des in Deutschland beschäftigten in der Heimat erkrankten türkischen Arbeitnehmers richtet sich ausschließlich nach deutschem Recht.

1. Allerdings erklären Art. 10 und 11 des Beschlusses Nr. 3/80 des EWG-türkischen Assoziationsrates (abgedruckt in: Assoziierungsabkommen und Protokolle EWG-Türkei sowie andere Basisdokumente, Brüssel 1992, S. 349) die Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, mit bestimmten Modifikationen für anwendbar, darunter auch die Bestimmungen über Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft. Der Europäische Gerichtshof hat aber mit Urteil vom 10. September 1996 (– RS C-277/94 – EuroAS 1996, 168) entschieden, daß der genannte Beschluß in den Mitgliedsstaaten keine unmittelbare Wirkung hat und für den einzelnen nicht das Recht begründet, sich vor den innerstaatlichen Gerichten darauf zu berufen, solange der Rat nicht die zur Durchführung dieses Beschlusses unerläßlichen ergänzenden Maßnahmen erlassen hat. Mithin kann der Anspruch der Klägerin nicht auf europarechtliche Vorschriften gestützt werden.

2. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 der vom 1. Juni 1994 bis zum 30. September 1996 geltenden Fassung des Entgeltfortzahlungsgesetzes (Art. 13 des Arbeitsrechtlichen Beschäftigungsförderungsgesetzes vom 25. September 1996, BGBl. I S. 1476) verliert der Arbeitnehmer, der durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert ist, ohne daß ihn ein Verschulden trifft, dadurch nicht den Anspruch auf Arbeitsentgelt für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen.

§ 5 Abs. 1 EFZG erlegt dem Arbeitnehmer bei Erkrankungen im Inland Anzeige- und Nachweispflichten auf, u.a. die Verpflichtung, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzulegen, wenn die Arbeitsunfähigkeit länger als drei Kalendertage dauert. § 5 Abs. 2 EFZG enthält Sonderregeln für den Fall der Erkrankung im Ausland. Nach § 5 Abs. 2 Satz 1 EFZG ist der Arbeitnehmer „verpflichtet, dem Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit, deren voraussichtliche Dauer und die Adresse am Aufenthaltsort in der schnellstmöglichen Art der Übermittlung mitzuteilen”. Nach § 5 Abs. 2 Satz 3, 4 hat er die Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer bzw. Fortdauer der deutschen Krankenkasse anzuzeigen; abweichend davon bestimmen Art. 18 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 und zwischenstaatliche Sozialversicherungsabkommen wie das deutsch-türkische Abkommen über soziale Sicherheit nebst Durchführungsverordnung (abgedruckt in: Plöger/Wortmann, Deutsche Sozialversicherungsabkommen mit ausländischen Staaten, XX, Türkei), daß sich der Arbeitnehmer an den ausländischen Sozialversicherungsträger zu wenden hat. Auch die deutschen Krankenkassen können dies festlegen (§ 5 Abs. 2 Satz 5 EFZG).

II. Der dem Anspruchsteller obliegende Beweis für das Vorliegen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit ist durch die Bescheinigungen des türkischen Sozialversicherungsträgers erbracht.

1. Die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hat einen hohen Beweiswert. Sie ist der gesetzlich vorgesehene und damit wichtigste Beweis für die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit. Der Beweiswert ergibt sich aus der Lebenserfahrung; der Tatrichter kann normalerweise den Beweis der Erkrankung als erbracht ansehen, wenn der Arbeitnehmer im Rechtsstreit eine solche Bescheinigung vorlegt. Der Arbeitgeber, der eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht gelten lassen will, muß im Rechtsstreit Umstände darlegen und beweisen, die zu ernsthaften Zweifeln an der behaupteten krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit Anlaß geben. Das entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl. nur BAGE 28, 144, 146 = AP Nr. 2 zu § 3 LohnFG, zu I 2 der Gründe; BAG Urteil vom 4. Oktober 1970 – 5 AZR 326/77 – AP Nr. 3 zu § 3 LohnFG, zu II 3 a der Gründe; BAGE 48, 115, 119 = AP Nr. 4 zu § 3 LohnFG, zu I 1 a der Gründe; BAGE 71, 9 = AP Nr. 98 zu § 1 LohnFG = EzA § 3 LohnFG Nr. 17, zu II der Gründe; BAG Urteil vom 21. März 1996 – 2 AZR 543/95 – AP Nr. 42 zu § 123 BGB, zu B I 2 e der Gründe).

Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dient dem außerprozessualen und prozessualen Nachweis der Arbeitsunfähigkeit. Sie hat keine anspruchsbegründende Bedeutung (BAG Urteil vom 27. August 1971 – 1 AZR 107/71 – AP Nr. 1 zu § 3 LohnFG; BAG Urteil vom 23. Januar 1985 – 5 AZR 592/82 – BAGE 48, 11 = AP Nr. 63 zu § 1 LohnFG, zu I 3 der Gründe; BAG Urteil vom 12. Juni 1996 – 5 AZR 960/94 – zur Veröffentlichung vorgesehen, zu III 1 der Gründe).

Diese Rechtsprechung hat das Bundesarbeitsgericht zunächst zu den am 1. Juni 1994 außer Kraft getretenen Vorschriften des Lohnfortzahlungsgesetzes (Art. 60, 68 Abs. 4 PflegeVG vom 26. Mai 1994 – BGBl. I 1994, S. 1014, 1069, 1070) entwickelt, dann aber auch auf Angestellte übertragen (vgl. zuletzt BAG Urteil vom 21. März 1996 – 2 AZR 543/95 –, aaO). Für das am 1. Juni 1994 in Kraft getretene Entgeltfortzahlungsgesetz, dessen § 5 Arbeiter und Angestellte gleichermaßen verpflichtet, bei einer länger als drei Kalendertage dauernden Arbeitsunfähigkeit eine ärztliche Bescheinigung vorzulegen, gelten dieselben Grundsätze.

Das Bundesarbeitsgericht hat weiter entschieden, daß einer von einem ausländischen Arzt im Ausland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im allgemeinen der gleiche Beweiswert wie einer von einem deutschen Arzt ausgestellten Bescheinigung zukommt. Die Bescheinigung muß jedoch erkennen lassen, daß der ausländische Arzt zwischen einer bloßen Erkrankung und einer mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Krankheit unterschieden und damit eine den Begriffen des deutschen Arbeits- und Sozialversicherungsrechts entsprechende Beurteilung vorgenommen hat (BAGE 48, 115 = AP Nr. 4 zu § 3 LohnFG). An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten, soweit es sich um Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen aus nicht der Europäischen Gemeinschaft angehörigen Staaten handelt.

2. Die in der Türkei nach dem deutsch-türkischen Abkommen über die soziale Sicherheit ausgestellten zweisprachigen Bescheinigungen werden diesen Anforderungen gerecht.

Unter Nr. 3 der Bescheinigung vom 25. August 1994 heißt es, daß der Versicherte „Geldleistungen beantragt wegen Arbeitsunfähigkeit infolge … (Krankheitsbezeichnung)”. Daran wird deutlich, daß der dieses Formular ausfüllende ausländische Arzt – ebenso wie sein deutscher Kollege – zwischen einer bloßen Erkrankung und einer mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Erkrankung zu unterscheiden hat. Ist das genannte Formular – wie hier – ordnungsgemäß ausgestellt, so ist davon auszugehen, daß der ausländische Arzt auch tatsächlich diese Unterscheidung vorgenommen hat (LAG Hamm, Urteil vom 12. April 1989 – 1 Sa 1435/88 – DB 1989, 1473; Vossen, HZA, Gruppe 2, Entgeltfortzahlung, Rz 354).

Die Beklagte hat mit Nichtwissen bestritten, daß den behandelnden Ärzten die Unterschiede zwischen Erkrankung und Arbeitsunfähigkeit bekannt gewesen sind; sie hat ebenfalls mit Nichtwissen bestritten, daß sich die Ärzte tatsächlich mit dem Arbeitnehmer über dessen Arbeit bei der Beklagten unterhalten haben. Mit derartigen Vermutungen sind keine Umstände dargetan, die zur ernsthaften Zweifeln an der behaupteten krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit Anlaß geben können.

3. Der Beweiswert der hier im Streit befindlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ist auch nicht deshalb erschüttert, weil der Arbeitnehmer auch schon in den Jahren 1987 und 1989 während seines Heimaturlaubs in der Türkei arbeitsunfähig krankgeschrieben wurde. Allerdings können wiederholte Krankschreibungen jeweils am Ende eines Urlaubs, insbesondere wenn sie zu einer Verlängerung des Aufenthalts am Urlaubsort führen, zu ernsthaften Zweifeln an der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit Anlaß geben (BAGE 48, 115 = AP Nr. 4 zu § 3 LohnFG, zu I 2 b der Gründe). Daß ein Arbeitnehmer fünf Jahre nach seiner letzten Erkrankung im Urlaub erneut im Urlaub erkrankt, gibt aber nach der Lebenserfahrung keinen Anlaß zu der Annahme, die Arbeitsunfähigkeit sei vorgetäuscht.

III. Der Anspruch auf Entgeltfortzahlung entfällt auch dann nicht, wenn man zugunsten der Beklagten davon ausgeht, daß der Arbeitnehmer seine Urlaubsanschrift nicht mitgeteilt hat.

1. Das ergibt sich entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts nicht bereits daraus, daß in dem auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren gemeinsamen Manteltarifvertrag für Arbeiter und Angestellte in der Eisen-, Metall- und Elektroindustrie des Landes Hessen in der Fassung der Änderungsvereinbarung vom 10. März 1994 eine Verpflichtung zur Mitteilung der Urlaubsadresse nicht geregelt ist. Die im Streitzeitraum gültige Fassung des MTV stammt aus der Zeit vor Inkrafttreten des Entgeltfortzahlungsgesetzes (1. Juni 1994). Schon von daher kann nicht angenommen werden, daß der Manteltarifvertrag die erst durch das Entgeltfortzahlungsgesetz geschaffene Verpflichtung zur Angabe der Urlaubsadresse aufheben wollte. Dasselbe Ergebnis folgt aus einer systematischen Auslegung des Manteltarifvertrags. § 11 Abschnitt I MTV enthält zwar besondere Vorschriften zur „Mitteilungs- und Nachweispflicht”. Die Urlaubs- und Auslandserkrankung sind dort aber nicht erwähnt. Auch aus diesem Grunde kann die Bestimmung nicht dahin ausgelegt werden, daß die besonderen gesetzlichen Mitteilungspflichten bei Auslandserkrankungen nicht bestehen sollten.

2. Nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 EFZG ist „der Arbeitgeber berechtigt, die Fortzahlung des Entgelts zu verweigern,

  1. solange der Arbeitnehmer die von ihm nach § 5 Abs. 1 vorzulegende ärztliche Bescheinigung nicht vorlegt oder den ihm nach § 5 Abs. 2 obliegenden Verpflichtungen nicht nachkommt;
  2. wenn der Arbeitnehmer den Übergang eines Schadensersatzanspruches gegen einen Dritten auf den Arbeitgeber (§ 6) verhindert.

Die am 1. Juni 1994 außer Kraft getretene entsprechende Vorschrift des Lohnfortzahlungsgesetzes lautete wie folgt:

㤠5 Leistungsverweigerungsrecht des Arbeitgebers

Der Arbeitgeber ist berechtigt, die Fortzahlung des Arbeitsentgelts zu verweigern,

  1. solange der Arbeiter die von ihm nach § 3 Abs. 1 vorzulegende ärztliche Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit nicht vorlegt oder den ihm nach § 3 Abs. 2 oder § 4 Abs. 2 obliegenden Verpflichtungen nicht nachkommt;
  2. wenn der Arbeiter den Übergang eines Schadensersatzanspruchs gegen einen Dritten auf den Arbeitgeber (§ 4) verhindert.”

Zu § 5 LFZG hat das Bundesarbeitsgericht entschieden, daß die Nichtvorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dem Arbeitgeber nur ein zeitweiliges Leistungsverweigerungsrecht einräumt, das endet, wenn der Arbeiter die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, wenn auch verspätet, vorlegt (BAGE 23, 411 = AP Nr. 1 zu § 3 LohnFG). Im damaligen Verfahren hatte der Arbeitgeber geltend gemacht, das Leistungsverweigerungsrecht des Arbeitgebers nach § 5 LFZG müsse dann zu einem endgültigen werden, wenn die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erst nach der Wiedergenesung und sogar erst nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses vorgelegt werde. Diese Auffassung ist – wie in der genannten Entscheidung ausgeführt – mit dem Gesetzeswortlaut nicht zu vereinbaren. § 5 LFZG unterscheidet zwischen zwei Fällen: Kommt der Arbeiter seiner Pflicht zur rechtzeitigen Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht nach, ist der Arbeitgeber berechtigt, die Lohnfortzahlung zu verweigern, „solange” der Arbeiter säumig ist. Im zweiten Fall besteht das Leistungsverweigerungsrecht des Arbeitgebers, „wenn” der Arbeiter den Übergang eines Schadensersatzanspruchs gegen einen Dritten auf den Arbeitgeber verhindert. Daraus folgt, daß der Gesetzgeber sich im ersteren Fall für ein lediglich zeitweiliges und nur im zweiten Fall für ein endgültiges Leistungsverweigerungsrecht des Arbeitgebers ausgesprochen habe. Der Senat hat es auch nicht für richtig gehalten, daß bei dieser Auslegung § 5 LFZG ohne Bedeutung sei; dies folge schon aus der Gewährung eines zeitweiligen Leistungsverweigerungsrechts.

Ebenso hat der Senat zu § 100 Abs. 2 Satz 2 SGB IV entschieden, wonach der Arbeitgeber berechtigt ist, die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zu verweigern, „solange” der Arbeitnehmer den Sozialversicherungsausweis nicht hinterlegt (Urteil vom 14. Juni 1995 – 5 AZR 143/94 – AP Nr. 1 zu § 100 SGB IV = EzA SGB IV § 100 Nr. 1, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen). Der Senat hat dies u.a. aus der Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift und der Gesetzesbegründung hergeleitet.

3. § 7 Abs. 1 EFZG ist § 5 Satz 1 LFZG nachgebildet. Die Vorschrift war bereits in dem Entwurf eines Entgeltfortzahlungsgesetzes der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. vom 24. Juni 1993 (BT-Drucks. 12/5263) und dem gleichlautenden Gesetzentwurf der Bundesregierung (BR-Drucks. 506/93) enthalten. Demgegenüber beruht § 5 Abs. 2 Satz 1, 2 EFZG auf einer Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung vom 29. September 1993 (BT-Drucks. 12/5798). Dabei blieb § 7 Abs. 1 EFZG unverändert. Hieraus folgt, daß der Gesetzgeber dem Arbeitgeber nur ein zeitweiliges Leistungsverweigerungsrecht zubilligen wollte, das mit der Erfüllung der Verpflichtungen aus § 5 Abs. 2 Satz 1 EFZG erlischt, und zwar rückwirkend seit Beginn der Arbeitsunfähigkeit (Vossen, aaO, Rz 371; Schmitt, EFZG, 2. Aufl. 1995, § 7 Rz 23; Geyer/Knorr/Krasney, Entgeltfortzahlung, 7. Aufl. Stand Dezember 1996, § 7 Rz 5 ff.). Das zeitweilige Leistungsverweigerungsrecht wandelt sich auch nicht automatisch in ein endgültiges Leistungsverweigerungsrecht um, wenn der Arbeitnehmer in die Bundesrepublik zurückkehrt, ohne seine Urlaubsanschrift angegeben zu haben (vgl. Kaiser/Dunkl/Hold/Kleinsorge, EFZG, 3. Aufl. 1996, § 7 Rz 16; Wedde/Gerntke/Kunz/Platow, EFZG, 1994, § 7 Rz 18). Auch in einem solchen Fall erlischt das Leistungsverweigerungsrecht. Die Gegenauffassung (Gola, EFZG, 1995, § 7 Anm. 3.4) verkennt die Gesetzessystematik: Die Erfüllung der Mitteilungspflichten des § 5 Abs. 2 Satz 1 EFZG gehört nicht zu den – in § 3 EFZG genannten – Anspruchsvoraussetzungen.

IV. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts bedeutet dies nicht, daß die Verletzung der Verpflichtung, die ausländische Urlaubsadresse mitzuteilen, für den Entgeltfortzahlungsanspruch ohne Bedeutung ist.

1. Die Erweiterung der Mitteilungspflichten des im Ausland erkrankten Arbeitnehmers soll ausweislich der Gesetzesmaterialien (BT-Drucks. 12/5798, S. 26) der Möglichkeit eines Leistungsmißbrauchs entgegenwirken, die entstehen kann, wenn der Arbeitgeber erst mit großer Zeitverzögerung von Erkrankungen der Arbeitnehmer im Ausland erfährt und ihm dadurch faktisch die Möglichkeit genommen wird, die attestierte Arbeitsunfähigkeit überprüfen zu lassen. Die Vorschrift hat also – ebenso wie die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung – beweisrechtliche Bedeutung. Ihre Verletzung kann je nach den Umständen als Beweisvereitelung angesehen werden. Eine Beweisvereitelung liegt vor, wenn jemand seinem beweispflichtigen Gegner die Beweisführung unmöglich macht. Die Rechtsprechung läßt in solchen Fällen Beweiserleichterungen, die bis zur Umkehr der Beweislast gehen können, dann zu, wenn dem eigentlich Beweispflichtigen die volle Beweislast billigerweise nicht mehr zugemutet werden kann (BGH Urteil vom 15. November 1904 – IX ZR 157/83 – DB 1985, 1019 = NJW 1986, 59, 60; BGHZ 121, 266, 277; 131, 163, 165 = NJW 1993, 1391, 1392; 1996, 315, 316).

Das bedeutet hier: Die Verletzung der Mitteilungspflichten des § 5 Abs. 2 Satz 1 EFZG kann je nach den Umständen des Einzelfalls dazu führen, daß das Gericht den Beweis für das Vorliegen der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als nicht erbracht ansieht.

Maßgebend sind demnach die Umstände des Einzelfalls. Dabei ist die Wertung des § 7 Abs. 2 EFZG zu beachten: Hat der Arbeitnehmer die Verletzung der ihm obliegenden Mitteilungspflichten nicht zu vertreten, so kommen beweisrechtliche Sanktionen nicht ohne weiteres in Betracht. Allgemein kommt es auf die Gründe an, die dazu geführt haben, daß der Arbeitnehmer seine Mitteilungspflichten nicht erfüllt hat. Teilt er dem Arbeitgeber telefonisch seine Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer mit, so ist es grundsätzlich dessen Sache, nach der Adresse am Aufenthaltsort zu fragen. Tut er dies nicht, so kann dies darauf beruhen, daß er keinen Wert darauf legt, das Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit überprüfen zu lassen. Denkbar ist auch, daß ein Arbeitgeber die Entgeltfortzahlung allein deshalb verweigern will, weil der Arbeitnehmer nicht von sich aus seine Urlaubsadresse mitgeteilt hat. Eine solche Haltung würde aber keinen Schutz verdienen. Teilt der Arbeitnehmer dagegen seine Urlaubsadresse auf eine ausdrückliche Frage des Arbeitgebers nicht mit, so kann es gerechtfertigt sein, den Beweis für das Vorliegen der Arbeitsunfähigkeit als nicht erbracht anzusehen.

2. Hier hat der Arbeitnehmer E. der Beklagten seine Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer sofort telefonisch mitgeteilt. Die Beklagte hat nicht vorgetragen, daß der unmittelbare Vorgesetzte für die Entgegennahme von Krankmeldungen aus dem Ausland nicht zuständig gewesen sei. Es bestand demnach die Möglichkeit, ihn nach seiner Urlaubsadresse zu fragen. Das ist nicht geschehen. Die Beklagte hat auch nicht versucht, die Adresse von dem türkischen Kollegen zu erfragen, der die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung überbrachte.

Darüber hinaus hat die Beklagte nicht angegeben, was sie hätte veranlassen wollen, wenn Herr E. seine Urlaubsadresse mitgeteilt hätte. Sie hat trotz entsprechenden Vorhalts der Klägerin in der Berufungsinstanz nur ihren Vortrag wiederholt, ihr sei die Möglichkeit genommen worden, das Vorliegen der Arbeitsunfähigkeit durch einen Arzt ihres Vertrauens überprüfen zu lassen. Es besteht daher Anlaß zu der Annahme, daß sie die Möglichkeit einer Nachprüfung gar nicht genutzt hätte. Im übrigen geben das Deutsch-Türkische Abkommen über Soziale Sicherheit, die Durchführungsvereinbarung und die Vereinbarungen der Verbindungsstelle – anders als Art. 18 Abs. 5 Verordnung (EWG) Nr. 574/72 – weder der deutschen Krankenkasse noch dem Arbeitgeber das Recht, den versicherten Arbeitnehmer durch einen Arzt ihrer Wahl untersuchen zu lassen.

 

Unterschriften

Griebeling, Schliemann, Reinecke, Brücker, Blank

 

Fundstellen

Haufe-Index 440468

BAGE, 167

NJW 1997, 1942

NWB 1997, 772

NZA 1997, 652

SAE 1998, 81

EuZW 1997, 544

MDR 1997, 655

NJ 1997, 187

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Personal Office Platin. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge