Entscheidungsstichwort (Thema)

Außerordentliche Kündigung, Betäubungsmittel

 

Leitsatz (amtlich)

Wirkt ein Heimerzieher trotz des im Heim bestehenden generellen Drogenverbots an dem Cannabisverbrauch eines der ihm anvertrauten Heiminsassen mit, so ist dies als wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung nach § 626 BGB an sich geeignet.

 

Normenkette

BGB § 626; BtMG §§ 29, 31a

 

Verfahrensgang

LAG Baden-Württemberg (Urteil vom 09.02.2000; Aktenzeichen 12 Sa 103/99)

ArbG Mannheim (Urteil vom 30.09.1999; Aktenzeichen 5 Ca 300/99)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg Kammern Mannheim vom 9. Februar 2000 – 12 Sa 103/99 – wird zurückgewiesen.

Von den Kosten des Revisionsinstanz haben die Beklagte 7/8 und der Kläger 1/8 zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung.

Der 1956 geborene Kläger (geschieden, ein unterhaltsberechtigtes Kind) ist seit 1. Oktober 1985 bei der Beklagten als Jugend- und Heimerzieher zu einem Gehalt von zuletzt 5.080,00 DM angestellt. Die Beklagte betreibt eine Rehabilitationseinrichtung mit angeschlossenem Internat und beschäftigt 370 Arbeitnehmer, darunter 150 Lehrer und 70 Erzieher. In der Internatsordnung ist u.a. folgendes geregelt:

„Rauchen ist Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren nicht gestattet. Bei Jugendlichen über 16 Jahren ist das Rauchen in den Internaten des Schulbereiches nur in den dafür vorgesehenen Räumen gestattet. Für den Konsum von Alkoholika gelten die Bestimmungen des Jugendschutzgesetzes. Der Verzehr von branntweinhaltigen Getränken ist untersagt. Für den Verzehr von Bier und Wein wird ein verantwortlicher Umgang erwartet, ggf. müssen wir auch diese im Einzelfall einschränken oder verbieten (Suchtgefahr und andere medizinische Gründe).

Der Gebrauch sonstiger Rauschmittel ist streng verboten …”

Der Kläger hat mit einer überwiegend erwachsenen Rehabilitandengruppe gearbeitet. Im Frühjahr 1998 kam der 22jährige W. in das Internat und wurde der Gruppe des Klägers zugeteilt. Der Kläger wurde sein Kontakt-Erzieher. Herr W. ist schwerstbehindert und leidet am sog. Von-Hippel-Lindau-Syndrom, das zum plötzlichen Ausfall von Körperfunktionen führen kann. Er ist Tetraplegiker und an einen Rollstuhl gebunden, seine Hände kann er nur eingeschränkt und phasenweise benutzen. Herr W. hat keinen Schulabschluß und lebte vor Einweisung in das Internat auf der Straße. Im Laufe des Jahres 1999 mußte er sich wegen einer Krebserkrankung in stationäre Krankenhausbehandlung begeben. Anschließend befand er sich für die Dauer von zwei Wochen auf ärztlichen Rat im Internat der Beklagten in Quarantäne. In dieser Zeit hatte er – neben den Ärzten und ihren Hilfspersonen – lediglich Kontakt mit dem Kläger, der sich auch privat um ihn kümmerte. Herr W. klagte in dieser Zeit oft über körperliche Schmerzen und Verzweiflung. In dieser Situation bat er den Kläger, ihm zur Milderung seiner Not eine Haschisch-Zigarette zu drehen. Herr W. hatte eine geringfügige Menge von Haschisch in einem sog. Überraschungsei aufbewahrt. Der Kläger kam aus Mitleid dem Wunsch nach, drehte Herrn W. insgesamt zwei Mal eine Haschisch-Zigarette, zündete sie an, zog an ihr und steckte sie Herrn W. in den Mund.

Aufgrund einer schriftlichen Denunziation vom 9. Juni 1999 ermittelte die Beklagte gegen den Kläger und hörte diesen schließlich am 17. Juni 1999 an. Der Kläger gab zu, die Haschisch-Zigaretten gedreht zu haben, bestritt aber weitere Vorwürfe. Mit schriftlichem Anhörungsbogen vom 18. Juni 1999 hörte die Beklagte den Betriebsrat zu einer gegenüber dem Kläger auszusprechenden fristlosen Kündigung an. Der Betriebsrat widersprach mit Schreiben vom 22. Juni 1999 unter Hinweis auf humanitäre Gesichtspunkte. Gleichwohl kündigte die Beklagte dem Kläger am 23. Juni 1999 fristlos im wesentlichen mit der Begründung, der Kläger habe vorsätzlich gegen das sozialpädagogische Drogenkonzept der Einrichtung verstoßen. Erschwerend sei hinzugekommen, daß der Kläger als Erzieher in besonderem Maße verpflichtet gewesen wäre, dieses Konzept zu beachten.

Der Kläger hält die Kündigung für unwirksam. Er hat geltend gemacht, er habe sich in einer einmaligen psychischen Ausnahmesituation falsch verhalten. Eine außerordentliche Kündigung als einschneidenste arbeitsrechtliche Sanktion sei angesichts dieses Fehlverhaltens nicht gerechtfertigt. Er habe Mitleid mit dem psychisch und physisch leidenden Rehabilitanden gehabt, der sich wegen seiner Erkrankung nicht selbst habe helfen können. Seine objektive Verfehlung habe sich im außerdienstlichen Bereich abgespielt. Sie sei während seiner Freizeit geschehen. Er habe sich in einer emotionalen Zwangslage befunden und sei in seiner Steuerungsfähigkeit eingeschränkt gewesen. In der Vergangenheit habe er häufig gerügt, daß trotz der generell belastenden Situation als Erzieher von Schwerbehinderten Jugendlichen eine Supervision nicht stattfinde. Er sei in seinem Arbeitsteam persönlich isoliert gewesen. Die Beklagte überbewerte auch ihre sozialpolitische Konzeption des Drogenverbots. Die Heimleiterin selbst habe anläßlich eines einmaligen Drogenkonsums eines Schülers geäußert, sie erwarte von den Mitarbeitern professionelle, an den jeweiligen Rehabilitanden angepaßte, individuelle, flexible, pädagogische Arbeit. Soweit die Beklagte rüge, er habe als Vorbild versagt, sei hierdurch das erforderliche Vertrauensverhältnis nicht auf Dauer zerstört gewesen. Er habe mehr als 13 Jahre seinen Dienst für die Beklagte unbeanstandet versehen und es bestehe keine Wiederholungsgefahr. Von dem Verfasser des denunzierenden Schreibens vom 9. Juni 1999 sei er zu Unrecht des Diebstahls und des Drogenhandels bezichtigt worden. Die Polizei ermittele gegen diesen wegen falscher Anschuldigung. Es sei zu vermuten, daß die Beklagte über den Kündigungssachverhalt bereits lange vor dem 9. Juni 1999 informiert gewesen sei, so daß die Kündigung an der Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 BGB scheitern müsse. Aus diesem Grund müsse auch die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats bestritten werden.

Der Kläger hat zuletzt beantragt

festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 23. Juni 1999 nicht beendet wurde.

Die Beklagte hat zur Begründung ihres Klageabweisungsantrags vorgetragen, sie habe davon Abstand genommen, das Verhalten des Klägers mit einer Rüge oder einer Abmahnung zu ahnden, weil die übrigen Jugendlichen im Internat dies als Duldung hätten verstehen können. Es müsse berücksichtigt werden, daß die Schüler und die sonstigen Internatsbewohner in einem Alter seien, in dem sie besonders anfällig für Drogen seien. Auch volljährige Internatsbewohner wie Herr W. seien eigentlich wie Jugendliche zu behandeln, da sie aufgrund ihrer Erkrankung häufig in ihrer Entwicklung zurückgeblieben seien. Daß der Kläger im Tatzeitpunkt in seiner Steuerungsfähigkeit eingeschränkt gewesen sei und daß ihm die Möglichkeit einer psychologischen Supervision nicht hätte gewährt werden können, werde bestritten. Es habe auch keine Möglichkeit bestanden, den Kläger in anderen als erzieherischen Bereichen einzusetzen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht dem Feststellungsantrag stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Die außerordentliche Kündigung vom 23. Juni 1999 hat das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgelöst.

I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, das pflichtwidrige Verhalten des Klägers stelle keinen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung dar. Der Beklagten sei jedenfalls die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar gewesen. Auslöser für den Vertragsverstoß des Klägers sei die wohl singuläre und nicht den Normalfall in der Internatspraxis darstellende Quarantänesituation des Rehabilitanden gewesen, die Gefahr einer Wiederholung eines derartigen Fehlverhaltens während der Kündigungsfrist sei als äußerst gering einzuschätzen. Eine ordentliche Kündigung sei nicht ausgesprochen worden. Eine Umdeutung der Kündigung in eine ordentliche Kündigung scheitere an der fehlenden Betriebsratsanhörung hierzu.

II. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts, es habe kein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung iSv. § 626 Abs. 1 BGB vorgelegen, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

1. Bei der Prüfung des Vorliegens eines wichtigen Grundes handelt es sich um die Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs, die vom Revisionsgericht nur daraufhin überprüft werden kann, ob das Berufungsgericht den Rechtsbegriff selbst verkannt hat, ob es bei der Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnorm des § 626 BGB Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt hat und ob es alle vernünftigerweise in Betracht kommenden Umstände, die für oder gegen die außerordentliche Kündigung sprechen, beachtet hat (Senat 16. September 1999 – 2 AZR 123/99 – AP BGB § 626 Nr. 159 = EzA BGB § 626 Krankheit Nr. 2). Dieser eingeschränkten Überprüfung hält das Berufungsurteil stand.

2. Das Landesarbeitsgericht ist unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (9. März 1994 – 2 BvL 43, 51, 63, 64, 70, 80/92 – und 2 BvR 2031/92 – BVerfGE 90, 145; 20. Januar 2000 – 2 BvR 2382/99 und weitere – DVBl 2000, 622; 24. April 1997 – 2 BvR 55/97 – NJW 1997, 1910; 10. Juni 1997 – 2 BvR 910/97 – NStZ 1997, 498; 24. Juni 1993 – 1 BvR 689/92 – BVerfGE 89, 69) allerdings zutreffend davon ausgegangen, der Kläger habe durch das zweimalige Herstellen und Verabreichen eines „Joints” an den ihm anvertrauten Rehabilitanden W. gegen seine Vertragspflichten verstoßen und dieses Fehlverhalten komme als wichtiger Grund iSv § 626 Abs. 1 BGB an sich in Betracht.

a) Das Betäubungsmittelgesetz enthält in § 29 ein generelles strafbewehrtes Cannabisverbot. Wenn der Gesetzgeber damit angesichts der noch nicht abgeschlossenen kriminalpolitischen Diskussion über eine Verminderung des Cannabiskonsums an der Auffassung festhält, das generelle Verbot schrecke eine größere Anzahl potentieller Konsumenten ab als die Aufhebung der Strafdrohung und sei daher zum Rechtsgüterschutz besser geeignet, so ist das nach der zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es ist allerdings zu berücksichtigen, daß die ursprüngliche Einschätzung des Gesetzgebers zu den Gesundheitsgefahren, die von Cannabisprodukten ausgehen, heute nicht uneingeschränkt aufrecht erhalten werden kann. So ist heute überwiegend anerkannt, daß das Suchtpotential von Cannabis gering ist, eine Schrittmacherfunktion von Cannabis als Einstiegsdroge nicht sicher feststellbar ist und die unmittelbaren gesundheitlichen Schäden bei mäßigem Genuß von Cannabis als gering anzusehen sind (vgl. etwa BVerfG 9. März 1994 a.a.O. 179 ff.; BVerfG 10. Juni 1997 aaO). Auch eine vorsichtigere Handhabung des Cannabisverbots bei einer Anwendung zu medizinischen Zwecken wird zumindest diskutiert (BVerfG 20. Januar 2000 aaO). Soweit Cannabisprodukte nur in geringen Mengen und ausschließlich zum gelegentlichen Eigenverbrauch erworben und besessen werden und eine Fremdgefährdung nicht eingetreten ist, macht es das verfassungsrechtliche Übermaßverbot erforderlich, daß die Strafverfolgungsbehörden von einer Strafe (vgl. § 29 Abs. 5 BtMG) oder Strafverfolgung absehen (vgl. §§ 153 ff. StPO, § 31 a BtMG; Richtlinien für eine einheitliche Praxis der Strafverfolgung bei Verfahren nach dem Betäubungsmittelgesetz AV des Justizministeriums Baden-Württemberg vom 3. August 1995 – 4061 – III/241 Die Justiz 1995, 366).

b) Diese geänderte Haltung zu dem generellen Cannabisverbot des Betäubungsmittelgesetzes entlastet den Kläger jedoch nicht. Das Berufungsgericht stellt zutreffend darauf ab, daß eine Fremdgefährdung regelmäßig angenommen wird und deshalb ein Absehen von der Strafverfolgung nach § 31 a BtMG nicht in Betracht kommt, wenn gegen das Cannabisverbot durch Erzieher, Lehrer etc. verstoßen wird oder die Tat in Schulen, Jugendheimen, Krankenhäusern oder ähnlichen Einrichtungen begangen wird (Richtlinien a.a.O. 2.4.2.3; Lundt/Schiwy Betäubungsmittelrecht/Suchtbekämpfung § 31 a BtMG Stichwort: Fehlen des öffentlichen Interesses, vgl. BVerfG 9. März 1994 aaO). Wirkt ein Heimerzieher trotz des im Heim bestehenden generellen Drogenverbots an dem Cannabisverbrauch eines der ihm anvertrauten Heiminsassen mit, so ist dies als wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung nach § 626 BGB an sich geeignet.

Unabhängig von der Frage, wie das Verhalten des Klägers strafrechtlich zu würdigen wäre, ist mit dem Berufungsgericht davon auszugehen, daß der Kläger gegen seine arbeitsvertraglichen Pflichten als Erzieher dadurch verstoßen hat, daß er den Cannabisgebrauch des Rehabilitanden W. zumindest unterstützt hat. Als Erzieher in einem Heim hatte der Kläger die Aufgabe, das allgemeine Drogenverbot auch hinsichtlich der Droge Cannabis einzuhalten und durchzusetzen. Dieses Drogenverbot war ihm in der Internatsordnung noch einmal verdeutlicht worden. Wenn die Heimleiterin bei einem einmaligen Drogenkonsum eines minderjährigen Rehabilitanden eine „individuelle, flexible, pädagogische Reaktion” für angemessen erklärt hatte, so konnte dies nicht als eine Aufforderung an die Erzieher zu einer laxen Handhabung des Drogenverbots aufgefaßt werden. Es ist auch nicht entscheidend, daß der Drogenkonsum des W. in der Freizeit des Klägers stattgefunden hat; da der Vorfall sich im Heim abgespielt hat, war eine Fremdgefährdung nicht auszuschließen. Sprach sich der Vorfall im Heim und etwa bei den Eltern herum, so konnte dies das Drogenkonzept der Beklagten gefährden. Der Pflichtverstoß des Klägers läßt sich auch nicht dadurch bagatellisieren, daß der Kläger geltend macht, er habe nicht am „Genuß” des Rehabilitanden W. mitgewirkt, sondern nur zur Linderung von dessen Schmerzen beigetragen. Der Einsatz von Cannabis zu medizinischen Zwecken war, abgesehen davon, daß eine Genehmigung nach dem Betäubungsmittelgesetz nicht vorlag, nicht Aufgabe des Klägers als Erzieher, sondern oblag den behandelnden Ärzten.

3. Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, der Beklagten sei dennoch zumindest eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist zumutbar gewesen, hält sich aber im Beurteilungsspielraum der Tatsacheninstanz. Die durch das Berufungsgericht vorgenommene Interessenabwägung ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

a) Alle vernünftigerweise in Betracht kommenden Tatumstände sind bei der Interessenabwägung berücksichtigt. Das Berufungsgericht geht davon aus, der Kläger sei auch in der konkreten, mitleiderregenden Situation (schwerkranker Patient in Quarantäne, noch dazu schwerbehindert) verpflichtet gewesen, die Einhaltung der Internatsordnung seinem Wunsch nach mitfühlender Hilfe aus Barmherzigkeit voranzustellen. Das Konzept des generellen Drogenverbots sei eine tragende Tendenz des Internatsbetriebs der Beklagten. Nehme die Beklagte eine Vertragsverletzung wie die des Klägers einfach hin, so könne dies negative Auswirkungen auf den gesamten Internatsbetrieb mit seiner großen Anzahl von Rehabilitanden haben. Gegenüber den Interessen der Beklagten an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses seien jedoch die Interessen des Klägers an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes zumindest für die Dauer der ordentlichen Kündigungsfrist als überwiegend anzusehen. Das Fehlverhalten des Klägers sei angesichts der geringfügigen Menge, der Tatsache, daß der Rehabilitand zum Konsum fest entschlossen gewesen sei, und der sonstigen mitleiderregenden Umstände nicht als besonders schwer anzusehen. Da Auslöser für den Vertragsverstoß des Klägers die wohl singuläre und nicht den Normalfall in der Internatspraxis darstellende Quarantänesituation des Rehabilitanden gewesen sei, sei eine Wiederholungsgefahr jedenfalls während des Laufs der ordentlichen Kündigungsfrist als außerordentlich gering anzusehen gewesen. Dann sei aber entscheidend zugunsten des Klägers zu berücksichtigen, daß dieser sich 13 ½ Jahre vertragstreu verhalten habe und sich weder allgemeine Vertragsverletzungen noch einschlägige Vorfälle habe zuschulden kommen lassen.

b) Die gegen diese Interessenabwägung gerichteten Rügen der Revision greifen nicht durch.

Soweit die Revision Widersprüche in dem angefochtenen Urteil rügt, ist dies nicht nachvollziehbar. Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, daß sich der Kläger als Erzieher gegenüber dem Rehabilitanden W. nicht in einer Ausnahmesituation, sondern eher in einer Standardsituation befand, in der er pflichtgemäß sein Mitleid hätte unterdrücken müssen. Dies steht nicht im Widerspruch zu der Annahme des Berufungsgerichts, der Rehabilitand W. selbst habe sich in einer „singulären … Quarantänesituation”, also wohl in einer Ausnahmesituation befunden. Es ist auch nicht widersprüchlich, wenn das Landesarbeitsgericht einerseits den Antrag des Klägers auf Weiterbeschäftigung auf der Grundlage eines noch nicht rechtskräftigen zweitinstanzlichen Urteils abgelehnt hat, anderseits aber nicht davon ausgegangen ist, daß ein wichtiger Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB vorlag. Die Interessenabwägung bei der Prüfung eines Anspruchs auf vorläufige Weiterbeschäftigung und im Rahmen der Prüfung des § 626 Abs. 1 BGB sind insoweit nicht vergleichbar. Ein beachtliches Arbeitgeberinteresse, den gekündigten Arbeitnehmer erst nach rechtskräftigem Unterliegen im Kündigungsschutzprozeß zu beschäftigen, stellt nicht notwendigerweise einen wichtigen Grund zur fristlosen Kündigung dar.

Auch die Rüge, das Landesarbeitsgericht habe die Interessen der Beklagten zu gering bewertet, ist unberechtigt. Die Vorbildfunktion des Klägers als Erzieher hat das Berufungsgericht bei der Interessenabwägung durchaus mitberücksichtigt. Wenn es angesichts der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und unter ausführlicher Würdigung aller Tatumstände zu dem Ergebnis gelangt ist, es handele sich um „kein besonders schweres Tatobjekt”, so hält sich dies im Beurteilungsspielraum der Tatsacheninstanz. Die Beklagte möchte insoweit nur unzulässigerweise ihre abweichende Wertung an die Stelle der Wertung des Berufungsgerichts setzen. Die Revision rügt in diesem Zusammenhang auch unzutreffend, das Landesarbeitsgericht habe die Auswirkungen des Verhaltens auf Dritte außer Betracht gelassen. Dieser Punkt wird in den Entscheidungsgründen ausführlich abgehandelt. Zwar geht das Berufungsgericht insoweit vor allem auf generalpräventive Gesichtspunkte im Hinblick auf die anderen Arbeitnehmer und Rehabilitanden ein. Wenn dabei aber ausdrücklich festgestellt wird, das Tolerieren einer derartigen Pflichtverletzung hätte negative Auswirkungen auf den gesamten Internatsbetrieb der Beklagten und das Konzept des generellen Drogenverbots sei eine tragende Tendenz des Internatsbetriebs, so schließt dies unausgesprochen auch die Auswirkungen auf Eltern und Kostenträger mit ein.

Ebenso unbegründet ist die Rüge, das Berufungsgericht habe die Interessen des Klägers beträchtlich überbewertet. Die vom Landesarbeitsgericht bindend festgestellte äußerst geringe Wiederholungsgefahr konnte nicht, wie die Revision meint, unberücksichtigt bleiben, denn auch bei einer fristlosen Kündigung ist der Kündigungsgrund zukunftsbezogen. Die lange – noch dazu nach den Feststellungen des Berufungsgerichts allgemein und auch im Hinblick auf Drogen unbeanstandete – Betriebszugehörigkeit des Klägers mußte das Landesarbeitsgericht bei der Interessenabwägung berücksichtigen. Das von der Revision insoweit angeführte Gegenbeispiel (dringender Verdacht eines Diebstahls bzw. einer Unterschlagung) betrifft keinen mit dem vorliegenden vergleichbaren Fall. Es ist schließlich auch revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, daß das Berufungsgericht das Mitgefühl des Klägers mit dem Rehabilitanden W. als menschlich verständlich zu seinen Gunsten in die Interessenabwägung eingestellt hat. Den trotzdem vorliegenden Pflichtverstoß des Klägers hat es durchaus gesehen.

c) Wenn schließlich das Landesarbeitsgericht die Gefahr einer Wiederholung des Fehlverhaltens des Klägers während des Laufs der ordentlichen Kündigungsfrist für außerordentlich gering gehalten und deshalb angenommen hat, der Beklagten sei eine Weiterbeschäftigung des Klägers zumindest bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist zumutbar gewesen, so ist dies gleichfalls nicht zu beanstanden. Auch durch den Ausspruch einer ordentlichen Kündigung hätte die Beklagte gegenüber ihren Arbeitnehmern, den Rehabilitanden, Eltern und Kostenträgern deutlich gemacht, daß sie zur kompromißlosen Durchsetzung ihres Drogenkonzepts bereit und in der Lage war. Nachteilige Auswirkungen auf den Internatsbetrieb für den Fall, daß das Fehlverhalten des Klägers bekannt wurde, hätten damit weitgehend eingedämmt werden können. Abgesehen davon hat offenbar erst die scharfe Reaktion der Beklagten dazu geführt, daß der Vorfall im Internat bekannt wurde.

d) Im übrigen dürfte die Beklagte entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts den ultima-ratio-Grundsatz verletzt haben, indem sie auf die Pflichtverletzung des Klägers nicht mit einer Abmahnung, sondern sofort mit dem schärfsten Mittel einer fristlosen Kündigung reagiert hat. Wie das Berufungsgericht im Ansatz zutreffend angenommen hat, könnte eine Abmahnung allenfalls dann entbehrlich sein, wenn das Fehlverhalten des Klägers als schwere Pflichtverletzung anzusehen wäre, deren Rechtswidrigkeit für den Kläger ohne weiteres erkennbar war und bei der die Hinnahme dieses Verhaltens durch die Beklagte offensichtlich ausgeschlossen war (Senat 10. Februar 1999 – 2 ABR 31/98 – BAGE 91, 30). Dies scheint aber im vorliegenden Fall eher fraglich. Ein Arbeitnehmer, der sich wie der Kläger 13 ½ Jahre lang stets an das Drogenkonzept der Einrichtung gehalten hat, muß nicht ohne weiteres davon ausgehen, daß er seinen Arbeitsplatz aufs Spiel setzt, wenn er in einem Ausnahmefall unter erheblich mildernden Umständen in diesem Punkt versagt (vgl. zum Abmahnungserfordernis bei Drogenkonsum OVG Saarland 11. Dezember 1998 – 4 P 1/98PersR 1999, 214; LAG Baden-Württemberg 19. Oktober 1993 – 11 TaBV 9/93 – LAGE BGB § 626 Nr. 76).

4. Auf die Einhaltung der Frist des § 626 Abs. 2 BGB durch die Beklagte kommt es damit nicht mehr an.

IV. Es ist auch nicht mehr zu entscheiden, ob der Betriebsrat der Beklagten zur Kündigung ordnungsgemäß angehört worden ist, was der Kläger, allerdings recht pauschal, gerügt hat.

V. Eine ordentliche Kündigung hat die Beklagte unstreitig nicht ausgesprochen. Angesichts des Widerspruchs des Betriebsrats gegen die fristlose Kündigung kommt auch eine Umdeutung der Kündigung in eine ordentliche Kündigung mangels Betriebsratsanhörung zu einer ordentlichen Kündigung nicht in Betracht. Es ist deshalb nicht zu entscheiden, ob, was das Landesarbeitsgericht in einem obiter dictum ohne nähere Begründung bejaht hat, das Fehlverhalten des Klägers eine ordentliche Kündigung rechtfertigen würde.

VI. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 97, 566, § 515 Abs. 3 Satz 1 ZPO.

 

Unterschriften

Rost, zugleich für den wegen Ablauf der Amtszeit an der Unterschrift gehinderten Richter Mauer, Bröhl, Fischermeier, Baerbaum

 

Fundstellen

Haufe-Index 558071

BB 2001, 476

DB 2001, 1044

NJW 2001, 1301

BuW 2001, 349

ARST 2001, 106

FA 2001, 115

FA 2001, 90

JR 2002, 131

NZA 2001, 383

SAE 2001, 240

ZTR 2001, 283

AP, 0

AuA 2002, 91

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Personal Office Platin. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge