Entscheidungsstichwort (Thema)

Kündigung nach Infektion mit HIV-Virus

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Kündigt der Arbeitgeber einem mit dem HIV-Virus infizierten Arbeitnehmer, der noch nicht den allgemeinen Kündigungsschutz nach § 1 Abs 1 KSchG genießt, fristgerecht, so ist die Kündigung jedenfalls nicht sittenwidrig nach § 138 Abs 1 BGB, wenn der Arbeitnehmer nach Kenntnis von der Infektion einen Selbsttötungsversuch unternommen hat, danach längere Zeit (hier: nahezu drei Monate) arbeitsunfähig krank war, dieser Zustand nach einem vor Ausspruch der Kündigung vorgelegten ärztlichen Attest "bis auf weiteres" fortbestehen sollte und diese Umstände für den Kündigungsentschluß jedenfalls mitbestimmend waren.

2. Eine unter solchen Umständen ausgesprochene Kündigung ist ferner nicht nach § 242 BGB treuwidrig und verstößt auch nicht gegen das Diskriminierungsverbot des Art 3 Abs 3 GG und das Maßregelungsverbot des § 612a BGB.

 

Orientierungssatz

Die vorliegende Entscheidung enthält keine Beantwortung der Frage, inwieweit eine Infektion mit dem HIV-Virus eine dem Kündigungsschutzgesetz unterliegende Kündigung sozial zu rechtfertigen vermag.

 

Normenkette

BGB §§ 138, 242, 612a; GG Art. 3 Abs. 3

 

Verfahrensgang

LAG Düsseldorf (Entscheidung vom 10.05.1988; Aktenzeichen 8 Sa 314/88)

ArbG Düsseldorf (Urteil vom 11.02.1988; Aktenzeichen 2 Ca 6267/87)

 

Tatbestand

Der 39jährige Kläger war als gelernter Florist seit dem 15. August 1987 bei dem Beklagten gegen ein monatliches Bruttoentgelt von 2.000,-- DM beschäftigt. Der Beklagte betreibt fünf Einzelhandelsgeschäfte und beschäftigt insgesamt 25 Floristen sowie fünf Auszubildende.

Am 24. August 1987 unternahm der Kläger einen Selbsttötungsversuch, nachdem ihm mitgeteilt worden war, daß er mit dem HIV-Virus infiziert sei. Von diesem Zeitpunkt an war er arbeitsunfähig krank.

Etwa acht Tage nach dem Selbsttötungsversuch unterrichtete der Kläger zunächst die Ehefrau des Beklagten und sodann diesen selbst von seiner Infektion. Später suchten Mitarbeiter der AIDS- Hilfe den Beklagten auf. In einem am 31. Oktober 1987 ausgestellten und dem Beklagten vorgelegten ärztlichen Attest wurde dem Kläger Arbeitsunfähigkeit "bis auf weiteres" bescheinigt.

Mit einem auf den 15. November 1987 datierten, dem Kläger bereits am 13. November 1987 zugegangen Schreiben, kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis ohne Angabe von Gründen fristgerecht zum 30. November 1987.

Mit der am 3. Dezember 1987 bei Gericht eingegangenen Klage hat sich der Kläger gegen diese Kündigung gewandt. Er hat vorgetragen, sie sei wegen seiner HIV-Infektion ausgesprochen worden; denn der Beklagte habe ihn wiederholt wissen lassen, daß er mit seinen Leistungen zufrieden sei. Die Kündigung sei deshalb sittenwidrig und stelle darüber hinaus eine Diskriminierung von Minderheiten dar.

Der Kläger hat beantragt

festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis zwischen

den Parteien durch die Kündigung vom 15. November

1987, zugegangen am 13. November 1987, nicht auf-

gelöst worden ist.

Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Er hat vorgetragen, einer Begründung der Kündigung bedürfe es nicht, da dem Kläger fristgerecht gekündigt worden sei und für ihn noch kein Kündigungsschutz bestehe.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen.

Mit seiner hiergegen eingelegten Berufung hat der Kläger weiter vorgetragen, die Kündigung sei ausschließlich aufgrund unbegründeter Ängste und Befürchtungen des Beklagten im Hinblick auf die HIV-Infektion ausgesprochen worden. Die Arbeitskollegen seien zu weiterer Zusammenarbeit bereit gewesen. Eine so motivierte Entlassung treffe Mitmenschen, die ohnehin in ihrer Existenz schwer betroffen seien und Gefahr liefen, wichtige soziale Kontakte zu verlieren.

Der Beklagte hat erwidert, der Vortrag des Klägers, die Kündigung sei wegen der HIV-Infektion ausgesprochen worden, sei weder richtig noch erheblich. Darüber hinaus sei hier eine Ansteckungsgefahr gegeben, weil gerade Floristen der häufigen Gefahr kleinerer Verletzungen durch Stiche, Schnitte und Hautabschürfungen unterlägen. Eine innerbetriebliche Umsetzung mit der Folge, daß der Kläger keine Kontakte mehr zu anderen Floristen und zu Kunden habe, sei nicht möglich. Schließlich liege auch deshalb ein Kündigungsgrund vor, weil der Kläger durch die Feststellung der Infektion psychisch belastet sei. Dies werde durch seinen Selbsttötungsversuch und seine längere Erkrankung dokumentiert. Daraus sei zu schließen, daß er auch in Zukunft länger fehlen werde.

Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein vorinstanzliches Klagebegehren weiter. Der Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

I. Als Ausgangspunkt ist festzuhalten, daß die Kündigung des Beklagten nicht auf ihre soziale Rechtfertigung überprüft werden kann, weil das Arbeitsverhältnis des Klägers bei Ausspruch der Kündigung noch keine sechs Monate bestanden hatte und er deshalb noch nicht den allgemeinen Kündigungsschutz gemäß §§ 1 ff. KSchG in Anspruch nehmen konnte. Es braucht deshalb für die Entscheidung des vorliegenden Falles nicht die Frage beantwortet zu werden, inwieweit eine Infektion mit dem HIV-Virus eine dem Kündigungsschutzgesetz unterliegende Kündigung sozial zu rechtfertigen vermag (vgl. dazu Bruns, MDR 1987, 353, 357; Haesen, RdA 1988, 158, 162; Lepke, DB 1987, 1299, 1300, 1301; Löwisch, DB 1987, 936, 941; Rzadkowski/Schmalz, Der Personalrat 1988, 31, 35; Richardi, NZA 1988, 73, 78; Weller, Personalführung 1988, 41, 46 ff.). Das Berufungsgericht ist somit zutreffend davon ausgegangen, daß der Grundsatz der Kündigungsfreiheit Platz greift und der Beklagte vorbehaltlich der durch die §§ 134, 138, 242 und 612 a BGB gezogenen Grenzen nicht gehindert war, das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger im Wege der ordentlichen Kündigung zu beenden. Der Kläger hat darzulegen und ggf. zu beweisen, daß die Kündigung aufgrund dieser Vorschriften rechtsunwirksam ist (vgl. BAGE 24, 438, 440 = AP Nr. 2 zu § 134 BGB).

II. Das Berufungsgericht hat zu Recht eine Sittenwidrigkeit der Kündigung des Beklagten verneint.

1. Das Berufungsgericht hat seine Ansicht im wesentlichen wie folgt begründet:

Die Sittenwidrigkeit könne nicht auf Umstände gestützt werden, die in den Schutzbereich des Kündigungsschutzgesetzes fielen. Der schwere Vorwurf der Sittenwidrigkeit komme nicht bereits bei Sozialwidrigkeit der Kündigung, sondern nur in krassen Fällen in Betracht. Diese Voraussetzung sei erfüllt, wenn sie auf einem verwerflichen Motiv des Kündigenden beruhe, wie insbesondere Rachsucht oder Vergeltung, oder wenn sie aus anderen Gründen dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden widerspreche. Da hierfür der Arbeitnehmer darlegungs- und beweispflichtig sei, gelinge ihm nur im Ausnahmefall der Nachweis, daß der Arbeitgeber, der ohne Angabe von Gründen oder auch unter Vorschützen anderer Gründe kündige, tatsächlich aus sittlich zu mißbilligenden Gründen gekündigt habe. Dieses Ergebnis würde vermieden, würde man vom Nachweis einer vorwerfbaren Gesinnung absehen und die Kündigung dann als sittenwidrig ansehen, wenn sie einen Zustand herbeiführe, den die Rechtsordnung nicht zulassen könne. Ob dieser Ansicht zu folgen sei, könne hier unentschieden bleiben.

Selbst wenn die Behauptung des Klägers, der Beklagte habe die Kündigung wegen seiner HIV-Infektion erklärt, als richtig unterstellt werde, so sei sie deshalb nicht sittenwidrig. Sie sei nicht unmittelbar nach Kenntniserlangung von der HIV-Infektion durch den Beklagten, sondern erst nach dem Selbsttötungsversuch des Klägers und der daraufhin eingetretenen Arbeitsunfähigkeit ausgesprochen worden. Es könne deshalb nicht ausgeschlossen werden, daß auch diese Tatsachen mitentscheidend gewesen seien. Eine unter solchen Umständen erklärte Kündigung sei nicht sittenwidrig. Die durch die HIV-Infektion hervorgerufene psychische Belastung des Klägers habe sich bereits auf das Arbeitsverhältnis ausgewirkt.

Die Unheilbarkeit der Krankheit führe zu Ängsten, die oftmals sachlich nicht begründet seien. Bei Einzelhandelsgeschäften, wie sie der Beklagte betreibe, sei nicht nur von Bedeutung, wie der Beklagte als Inhaber und die Arbeitskollegen des Klägers eine eventuelle Ansteckungsgefahr beurteilen, sondern aus der Sicht des Beklagten sei ebenfalls entscheidend, wie die Kundschaft dies beurteile.

Unerheblich sei in diesem Zusammenhang, ob die Arbeitskollegen weiterhin zu einer Zusammenarbeit mit dem Kläger bereit seien bzw. ob die Infektion bereits bei der Kundschaft bekannt gewesen sei und zu Reaktionen geführt habe. Dies sei dann zu berücksichtigen, wenn in einem Kündigungsschutzprozeß der Arbeitgeber sich darauf berufe.

Auch wenn der Beklagte den Kläger hätte weiterbeschäftigen können, so sei dies für die Beurteilung der Kündigung nicht maßgeblich. Nicht übersehen werden dürfe, daß eine Ansteckungsgefahr im vorliegenden Fall nicht völlig ausgeschlossen werden könne. Die Tätigkeit eines Floristen bringe es mit sich, daß ständig kleinere Verletzungen wie Hautabschürfungen, Stiche und Schnitte aufträten. Da als potentiell gefährdet alle Berufe anzusehen seien, bei denen die Gefahr einer Kontaminierung mit Blut bestehe, sei unter den vom Beklagten vorgetragenen Umständen der Berufsausübung eines Floristen eine Ansteckungsgefahr jedenfalls nicht völlig auszuschließen.

Aus der dem Arbeitgeber den anderen Arbeitnehmern gegenüber obliegenden Fürsorgepflicht gem. § 618 BGB bzw. aus haftungsrechtlichen Gesichtspunkten gegenüber Kunden und Arbeitnehmern werde in der Literatur gefolgert, daß zumindest dann, wenn durch besondere Schutzvorkehrungen der Ansteckungsgefahr nicht entgegengewirkt werden könne, der Arbeitgeber selbst einem Arbeitnehmer, der den allgemeinen Kündigungsschutz genieße, kündigen könne. Aufgrund des Nichteingreifens des Kündigungsschutzgesetzes könne dahingestellt bleiben, ob dieser Auffassung zu folgen sei. Bejahe man diese Ansicht, so werde umso deutlicher, daß die Kündigung nicht sittenwidrig sei.

Dieser Würdigung ist jedenfalls im Ergebnis zuzustimmen.

2.a) Die Kündigung, die als eine auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses gerichtete Willenserklärung ihrem Inhalt nach wertfrei ist, kann mit Rücksicht auf ihr Motiv und ihren Zweck gleichwohl sittenwidrig sein. Auch der Gesetzgeber hat dies in seiner Regelung in § 13 Abs. 2 Satz 1 KSchG ausdrücklich anerkannt (KR-Friedrich, 3. Aufl., § 13 KSchG Rz 111 ff., 116; Hueck, KSchG, 10. Aufl., § 13 Rz 38 ff.). An die Sittenwidrigkeit einer Kündigung sind jedoch strenge Anforderungen zu stellen (Auffarth/Müller, KSchG, § 11 Anm. 22; KR-Friedrich, aaO, Rz 120; Rohlfing/Rewolle/Bader, KSchG, Stand Januar 1988, § 13 Anm. 8). Nicht jede Kündigung, die im Falle der Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes im Sinne des § 1 KSchG als nicht sozial gerechtfertigt beurteilt werden müßte, ist deshalb schon sittenwidrig. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist eine Kündigung vielmehr erst dann sittenwidrig, wenn sie auf einem verwerflichen Motiv des Kündigenden beruht, wie insbesondere Rachsucht oder Vergeltung, oder wenn sie aus anderen Gründen dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden widerspricht (vgl. BAGE 12, 60, 65 = AP Nr. 22 zu § 138 BGB, zu II der Gründe; Senatsurteil vom 25. Juni 1964 - 2 AZR 135/63 - AP Nr. 3 zu § 242 BGB Auskunftspflicht, zu I 3 der Gründe; Senatsurteil vom 19. Juli 1973 - 2 AZR 464/72 - AP Nr. 32 zu § 138 BGB, zu I 2 b der Gründe; Senatsurteil vom 2. April 1987 - 2 AZR 227/86 - BAGE 55, 190, 196 = AP Nr. 1 zu § 612 a BGB, zu II 1 b der Gründe; alle jeweils m.w.N.; ebenso Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 7. Aufl., Bd. 1, S. 558; Nikisch, Arbeitsrecht, 3. Aufl., Bd. 1, S. 705; Schmidt, AR-Blattei Kündigungsschutz VIII C; G. Müller, DB 1960, 1037, 1041; Galperin, BB 1966, 1458, 1461; Staudinger/Neumann, BGB, 12. Aufl., Vorbem. zu § 620 Rz 76). Darlegungs- und beweispflichtig für die tatsächlichen Voraussetzungen der Sittenwidrigkeit der vom Arbeitgeber ausgesprochenen Kündigung ist der Arbeitnehmer (Senatsurteil vom 19. Juli 1973, aaO).

b) In Anlehnung an eine im wirtschaftlichen Bereich vertretene Auffassung, nach der es nicht auf den Verstoß gegen eine "herrschende Moral" ankommt, sondern darauf, ob das Rechtsgeschäft "mit den Voraussetzungen, von denen her Privatautonomie ihre Aufgabe in unserer Wirtschaftsordnung erfüllen kann" unvereinbar ist (Esser, ZHR 1971, Bd. 135, 320, 336; StudK BGB-Hadding, 2. Aufl., § 138 Anm. II 1 a), wird in der Literatur teilweise der Begriff der guten Sitten auch im Kündigungsrecht objektiviert (Schwerdtner, Arbeitsrecht I, Individualarbeitsrecht, S. 128). Die Kündigung wegen Sittenwidrigkeit sei nicht von erkennbaren und damit beweisbaren verwerflichen Motiven des Kündigenden abhängig zu machen, da der Schutz, den § 138 BGB dem Arbeitnehmer gewähren wolle, nicht davon abhängig sein könne, ob der Arbeitgeber aus Ungeschicklichkeit seine möglicherweise verwerflichen Motive offenbare. In diesem Fall laufe er Gefahr, daß im arbeitsgerichtlichen Verfahren seine Kündigung für nichtig erkannt werde; wer sich dagegen nicht in die Karten schauen lasse, bleibe unbehelligt (Schwerdtner, JZ 1973, 377, 378; KR-Friedrich, 3. Aufl., § 13 KSchG Rz 129). Daher soll es genügen, wenn diejenigen Umstände bekannt und nachgewiesen werden, aus denen sich bei Anlegung eines objektiven Wertmaßstabes die Sittenwidrigkeit ergibt (Soergel/Siebert/Hefermehl, BGB, 12. Aufl., § 138 Rz 6 ff.; Staudinger/Dilcher, BGB, 12. Aufl., § 138 Rz 12 ff.; Erman/Brox, BGB, § 138 Rz 30 ff.). Vom Vorliegen bzw. Nachweis einer verwerflichen Gesinnung soll überhaupt abgesehen werden können, wenn das Rechtsgeschäft einen Zustand herbeiführe, den die Rechtsordnung nicht zulassen könne (MünchKomm-Mayer-Maly, BGB, 2. Aufl., § 138 Rz 106 unter Hinweis auf RGZ 99, 107, 109).

3. Vorliegend kann es dahingestellt bleiben, welcher Auffassung zu folgen ist, da die Kündigung des Beklagten weder nach subjektiven noch nach objektiven Beurteilungsmaßstäben sittenwidrig im Sinne des § 138 BGB ist.

a) Das Berufungsgericht hat zum Sachverhalt ausgeführt, es könne zwar die Behauptung des Klägers unterstellt werden, der Beklagte habe ihm wegen der "AIDS-Infektion" (genauer: HIV-Infektion) gekündigt. Es hat jedoch weiter berücksichtigt, daß der Beklagte erst nach dem Selbsttötungsversuch und der hierauf folgenden Arbeitsunfähigkeit des Klägers, die bis zum Ausspruch der Kündigung und somit nahezu drei Monate angedauert hatte, gekündigt hat. Nach dem unstreitigen Sachverhalt lag dem Beklagten im Zeitpunkt der Kündigung das ärztliche Attest vom 31. Oktober 1987 vor, dß Arbeitsunfähigkeit "bis auf weiteres" bescheinigte. Das Berufungsgericht hat hierzu ausgeführt, es sei nicht auszuschließen, daß auch diese Umstände für den Kündigungsentschluß des Beklagten mitentscheidend gewesen seien. Damit hat es für seine rechtliche Würdigung nicht unterstellt, der Beklagte habe ausschließlich wegen der "AIDS-Infektion" gekündigt. Diese tatsächlichen Feststellungen zum Motiv für die Kündigung sind für den Senat bindend, weil hiergegen keine Verfahrensrüge erhoben worden ist (§ 561 Abs. 1 ZPO).

b) Im Hinblick auf diese tatsächlichen Feststellungen braucht der Senat auch nicht zu der Frage Stellung zu nehmen, ob eine Kündigung, die der Arbeitgeber ausschließlich wegen einer HIV-Infektion, die zunächst ohne konkrete Auswirkungen auf die Arbeitsleistung geblieben ist, ausgesprochen hat, als sittenwidrig anzusehen ist (verneinend: Haesen, aaO, 163; Lepke, aaO, 1301).

Nach den derzeitigen medizinischen Erkenntnissen kommt es nach der initialen Infektion mit dem HIV-Virus gelegentlich zu vorübergehenden, "drüsenfieberartigen" Symptomen. Anschließend kann der Patient viele Jahre beschwerdefrei bleiben. Dann folgt das sog. ARC (AIDS Related Complex) Stadium mit jahrelang sich hinziehenden unspezifischen Beschwerden wie Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Konzentrationsverlust, Nervenlähmungen, Gewichtsabnahme, unerklärlichem Fieber und Durchfällen. Danach kommt es zu spezifischen, sog. "opportunistischen" Infektionen (Infektionen durch Erreger, die bei intaktem Immunsystem kaum Krankheiten verursachen), wie Lungenentzündung, Darminfektion, Neuropathie, Gehirnentzündung oder zu gewissen seltenen Tumoren (z.B. Kaposi-Sarkom). Erst dieses Stadium wird als AIDS definiert (vgl. Koch, NZA 1987, Beilage 2/87, S. 4; Weller, aaO, 41). Bei diesem typischen Verlauf der Erkrankung treten erst im ARC-Stadium jeweils zur Arbeitsunfähigkeit führende häufige und wechselnde Kurzerkrankungen auf, während das AIDS-Stadium zur Arbeitsunfähigkeit auf Dauer führt.

Aber auch andere klinische Bilder können als Folge einer HIV-Infektion zu akuter Erkrankung und zum Tode führen, ohne die Bedingungen der AIDS-Definition zu erfüllen und ohne daß vorher Immunmangelerscheinungen auftreten. Hierzu zählen Tuberkulose, Blutgerinnungsstörungen, Blutvergiftung, schwere Hirnatrophie mit Lähmungen und Demenz, andere Nervenerkrankungen, gesteigerte Unfallrisiken als Folge von Fehlhandlungen und Beurteilungsfehlern sowie Selbsttötung (Koch, aaO). Im vorliegenden Fall stellt der Selbsttötungsversuch des Klägers mit der sich daran anschließenden mehrmonatigen Arbeitsunfähigkeit eine derartige Folge der HIV-Infektion dar. Von ihr muß nach dem festgestellten Sachverhalt als für die Kündigung des Beklagten mitentscheidendes Motiv ausgegangen werden. Das Berufungsgericht hat dies nicht auszuschließen vermocht, und der für die eine Sittenwidrigkeit der Kündigung begründenden Tatsachen darlegungs- und beweispflichtige Kläger ist für die HIV-Infektion als ausschließliches, nach seiner Ansicht zur Sittenwidrigkeit der Kündigung führendes Motiv beweisfällig geblieben.

c) Danach liegen aber für die Kündigung des Beklagten weder ein verwerfliches Motiv noch - im Sinne der zur Sittenwidrigkeit der Kündigung vertretenen neueren Ansicht im Schrifttum - Umstände vor, aus denen sich bei Anlegung eines objektiven Wertmaßstabes Sittenwidrigkeit ergibt.

Eine mehrere Monate währende, auf Krankheit - hier: Zustand nach Selbsttötungsversuch - beruhende Arbeitsunfähigkeit von nicht absehbarer Dauer ist selbst im Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes an sich geeignet, einen Kündigungsgrund abzugeben; ob sie die konkrete Kündigung sozial rechtfertigt, hängt dann allerdings von den weiteren Voraussetzungen für eine Kündigung wegen langanhaltender Krankheit gemäß § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG ab (vgl. dazu BAGE 40, 361 = AP Nr. 7 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit). Geht der Arbeitgeber bei Ausspruch der Kündigung von einem solchen Grundtatbestand aus, der zehn Tage nach Beginn des Arbeitsverhältnisses eingetreten ist, nahezu drei Monate angedauert hat und dessen Ende nach vorliegendem ärztlichen Attest noch nicht absehbar war, so verstößt die Kündigung auch bei Anlegung eines objektiven Wertmaßstabes nicht gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden. Der Arbeitgeber macht hier von einem Recht Gebrauch, das ihm dem Grunde nach selbst bei Geltung des Kündigungsschutzgesetzes zustehen würde. Die Revision macht demgegenüber ohne Erfolg geltend, nach bisheriger Erfahrung werde der Großteil der infizierten Personen nach Überwindung des ersten psychischen Schocks in seiner Arbeitsfähigkeit nicht beeinträchtigt, so daß die vom Berufungsgericht angenommene Befürchtung des Beklagten, der Kläger werde auch in Zukunft länger fehlen, gerade als Indiz für die Sittenwidrigkeit der Kündigung gewertet werden müsse, weil der Kläger damit vom weiteren Arbeitsleben ausgeschlossen worden sei, obwohl er erst nach längerer Zeit akut erkranken werde. Sie übersieht, daß im konkreten Fall der Kläger nicht nur einen psychischen Schock erlitten, sondern unter dem Eindruck der Infektion einen Selbsttötungsversuch unternommen hatte, bereits mehrere Monate arbeitsunfähig war und dieser Zustand nach vorliegendem ärztlichen Attest "bis auf weiteres" fortbestehen sollte, als der Beklagte sich zur Kündigung entschloß.

Da die Kündigung bereits aus diesen Gründen nicht sittenwidrig ist, braucht auf die zur Verneinung der Sittenwidrigkeit angestellten weiteren Überlegungen des Berufungsgerichts nicht eingegangen zu werden, nach den vom Beklagten unwidersprochen vorgetragenen Umständen der Tätigkeit eines Floristen und den im Schrifttum mitgeteilten Fällen von HIV-Infektionen durch Nadelstichverletzungen sei eine Ansteckungsgefahr im Falle einer Weiterbeschäftigung des Klägers jedenfalls nicht völlig ausgeschlossen.

III. Nach dem festgestellten Sachverhalt zum Motiv der Kündigung erweist sich die Kündigung auch nicht aus anderen Gründen als unwirksam, wie das Berufungsgericht ebenfalls zutreffend angenommen hat.

1. Die Kündigung verstößt nicht gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB).

Die Vorschrift des § 242 BGB ist neben § 1 KSchG nur in beschränktem Umfang anwendbar. Das Kündigungsschutzgesetz hat die Voraussetzungen und Wirkungen des Grundsatzes von Treu und Glauben konkretisiert und abschließend geregelt, soweit es um den Bestandsschutz und das Interesse des Arbeitnehmers an der Erhaltung seines Arbeitsplatzes geht. Umstände, die im Rahmen des § 1 KSchG zu würdigen sind und die die Kündigung als sozial ungerechtfertigt erscheinen lassen können, kommen deshalb als Verstöße gegen Treu und Glauben nicht in Betracht. Eine Kündigung verstößt dann gegen § 242 BGB und ist nichtig, wenn sie aus Gründen, die von § 1 KSchG nicht erfaßt sind, Treu und Glauben verletzt. Nichts anders gilt für eine Kündigung, auf die wegen Nichterfüllung der sechsmonatigen Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG das Kündigungsschutzgesetz keine Anwendung findet, weil sonst für diese Fälle über § 242 BGB der kraft Gesetzes ausgeschlossene Kündigungsschutz doch gewährt würde (ständige Rechtsprechung; vgl. BAG Urteil vom 21. März 1980 - 7 AZR 314/78 - AP Nr. 1 zu § 17 SchwbG, zu II 4 der Gründe; BAGE 44, 201, 209 = AP Nr. 29 zu § 102 BetrVG 1972, zu A II 2 a der Gründe; jeweils m.w.N.).

Im Streitfall hat der Beklagte die Kündigung, wie ausgeführt, auf Umstände gestützt, die im Rahmen des § 1 KSchG zu würdigen sind und die Kündigung als sozial ungerechtfertigt erscheinen lassen könnten. Sie können bereits deshalb die Kündigung nicht als treuwidrig erscheinen lassen. Für die typischen Tatbestände der treuwidrigen Kündigung wie insbesondere widersprüchliches Verhalten oder Ausspruch der Kündigung in verletzender Form oder zur Unzeit (vgl. dazu KR-Friedrich, aaO, § 13 KSchG Rz 236 ff.) sind keine Anhaltspunkte vorgetragen und auch nicht ersichtlich.

2. Die Kündigung ist schließlich auch nicht gemäß § 134 BGB wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot unwirksam.

a) Ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG scheitert bereits, wie das Berufungsgericht richtig gesehen hat, daran, daß eine Erkrankung in dem in dieser Verfassungsnorm enthaltenen Katalog von Merkmalen, derentwegen eine Benachteiligung verboten ist, nicht aufgeführt ist, der Katalog jedoch abschließend ist und nicht durch Analogie erweitert werden kann (Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand November 1988, Art. 3 Abs. 3 Rz 27, 28).

b) Die Kündigung verstößt ferner nicht gegen das Maßregelungsverbot des § 612 a BGB.

Eine Kündigung kann eine Maßnahme im Sinne dieser Norm sein (BAGE 55, 190 = AP Nr. 1 zu § 612 a BGB).

Die Vorschrift enthält ein allgemeines Diskriminierungsverbot. Sie soll verhindern, daß Arbeitnehmerrechte deshalb nicht wahrgenommen werden, weil die Arbeitnehmer bei ihrer Inanspruchnahme mit Benachteiligungen rechnen müssen. Geschützt ist damit die Willensfreiheit des Arbeitnehmers bei der Entscheidung darüber, ob er ein Recht ausüben will oder nicht. Wie sich aus diesem Charakter der Norm ergibt, muß die Maßnahme, hier die Kündigung des Arbeitgebers, eine unmittelbare Reaktion gerade auf die Wahrnehmung der Rechte des Arbeitnehmers darstellen (Senatsurteil vom 16. Februar 1989 - 2 AZR 299/88 - zur Veröffentlichung bestimmt, zu B III 3 b und c der Gründe). Daran fehlt es, wenn der Arbeitgeber, wie im Streitfall, ein nicht dem Kündigungsschutz unterliegendes Arbeitsverhältnis kündigt, weil der erst wenige Tage beschäftigte Arbeitnehmer nach einem durch die Kenntnis von einer HIV-Infektion ausgelösten Selbsttötungsversuch nahezu drei Monate arbeitsunfähig krank gewesen ist und nach einem vorgelegten ärztlichen Attest dieser Zustand "bis auf weiteres" fortbestehen sollte. Der Arbeitnehmer hat vor Einsetzen des allgemeinen Kündigungsschutzes kein Recht auf Fortführung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber über die gesetzliche oder vertragliche Kündigungsfrist hinaus erworben. Die im Rahmen der in diesem Stadium der rechtlichen Beziehungen bestehenden Vertragsfreiheit ausgesprochene Kündigung durch den Arbeitgeber stellt somit keine Reaktion auf eine vorausgegangene Wahrnehmung von Arbeitnehmerrechten dar.

Vorsitzender Richter Hillebrecht Triebfürst Dr. Ascheid

ist wegen Urlaubs an der Unter-

schrift verhindert.

Triebfürst

Binzek Rupprecht

 

Fundstellen

BAGE 61, 151-162 (LT1-2)

BAGE, 151

BB 1990, 209

BB 1990, 209-211 (LT1-2)

DB 1989, 2382-2384 (LT1-2)

NJW 1990, 141

NJW 1990, 141-143 (LT1-2)

EBE/BAG 1989, 166-168 (LT1-2)

AiB 1990, 166-167 (LT1-2)

BetrVG, (6) (LT1-2)

DRsp VI (610) 215 a-b, 216 d-f (T)

ARST 1990, 5-6 (LT1-2)

EEK, II/184 (ST1)

JR 1990, 176

NZA 1989, 962-964 (LT1-2)

RdA 1989, 376

RzK, I 8k Nr 5 (LT1-2)

AP § 138 BGB (LT1-2), Nr 46

AR-Blattei, ES 1010.9 Nr 73 (LT1-2)

AR-Blattei, Kündigung IX Entsch 73 (LT1-2)

EzA § 138 BGB, Nr 23 (LT1-2)

EzBAT § 53 BAT Krankheit, Nr 16 (LT1-2)

MDR 1990, 183-184 (LT1-2)

Belling / Luckey 2000, 183

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