Entscheidungsstichwort (Thema)

Lohnfortzahlung bei Schwangerschaftsabbruch wegen Notlagenindikation

 

Leitsatz (redaktionell)

Ein im Sinne des § 1 Abs 2 Satz 2 LFZG nicht rechtswidriger Abbruch einer Schwangerschaft wegen einer Notlagenindikation setzt voraus, daß die Notlage in einem schriftlichen ärztlichen Attest festgestellt worden ist.

 

Normenkette

LFZG § 1; StGB §§ 218 a, 219 Fassung 1976-05-18

 

Verfahrensgang

LAG Hamm (Entscheidung vom 28.09.1988; Aktenzeichen 1 Sa 2232/86)

ArbG Iserlohn (Entscheidung vom 10.10.1986; Aktenzeichen 3 Ca 1400/86)

 

Tatbestand

Die klagende Krankenkasse macht gegen die beklagte Arbeitgeberin aus übergegangenem Recht (§ 115 SGB X) einen Anspruch auf Lohnfortzahlung wegen Arbeitsunfähigkeit infolge eines Schwangerschaftsabbruchs geltend.

Die bei der Klägerin krankenversicherte Frau E (im folgenden: Versicherte) war bei der Beklagten als Arbeiterin beschäftigt. In der Zeit vom 18. bis zum 24. April 1986 war die Versicherte wegen eines Schwangerschaftsabbruchs arbeitsunfähig. Die Beklagte zahlte ihr für diesen Zeitraum keinen Lohn. Stattdessen zahlte die Klägerin der Versicherten Krankengeld.

Die schwangere Versicherte suchte am 11. April 1986 die Beratungsstelle für Schwangerschaftsprobleme und Familienplanung der Arbeiterwohlfahrt, Kreisverband Hagen, auf, um sich wegen des Vorliegens einer Konfliktschwangerschaft unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Notlagenindikation über die nach § 218 b Abs. 1 Nr. 1 StGB (in der damals gültigen Fassung des 15. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 18. Mai 1976 - BGBl. I S. 1213) vorgeschriebenen Inhalte beraten zu lassen. Die Beratung wurde durchgeführt. Hierüber erhielt die Versicherte eine vorgedruckte, mit ihren Angaben ausgefüllte schriftliche Bescheinigung.

Sodann suchte die Versicherte die Frauenärztin Dr. H in L auf. Die Ärztin untersuchte sie und stellte folgende "Ärztliche Bescheinigung" aus:

"Betr.: Frau E , geb. 55,

wohnhaft in L .

Ich habe die Patientin untersucht und eine intak-

te Grav. in ca der 8. Schwangerschaftswoche fest-

gestellt. Der 3 S.-Test war pos. die letzte M.

wurde mit dem 23.2.86 angegeben.

Diese Schwangerschaft ist unerwünscht. Frau E

hat bereits 2 Kinder im Alter von 11 J. und 9 J.

Sie ist berufstätig und der Ehemann ist krank.

Z. Zt. kann die Patientin kein weiteres Kind auf-

ziehen.

Die letzte Entscheidung eine Interruptio durchzu-

führen überlasse ich Ihnen."

Diese Bescheinigung übergab die Versicherte dem von ihr sodann aufgesuchten Frauenarzt Dr. K in D in einem verschlossenen Umschlag. Am 18. April 1986 unterschrieb die Versicherte eine ihr vorgelegte Einwilligungserklärung zum Abbruch der Schwangerschaft. Sie lautet auszugsweise:

"Ich wünsche nach Beratung über die ärztlich be-

deutsamen Gesichtspunkte gemäß § 218 b, Abs. 1,

2, den Abbruch der Schwangerschaft.

Über die nachfolgende aufgeführten Fakten bin ich

informiert:

1. Der Eingriff ist nicht ungefährlich; ...

...

Durch meine Unterschrift bringe ich zum Ausdruck,

daß ich den Text gelesen und verstanden habe und

daß ich mit der Vornahme des Eingriffs einver-

standen bin.

..."

Sodann wurde am selben Tag der Schwangerschaftsabbruch vorgenommen.

Die Klägerin hat geltend gemacht, der Schwangerschaftsabbruch sei nicht rechtswidrig gewesen. Die Versicherte habe sich auf die Bescheinigung der Frauenärztin Dr. H verlassen dürfen. Der Inhalt dieser Bescheinigung lasse den Schluß auf das Vorliegen einer Notlagenindikation zu.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie 291,30 DM

nebst 4 % p.a. Zinsen hierauf seit dem 30. Juli

1986 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat entgegnet, es fehle an einer hinreichenden ärztlichen Bescheinigung über die soziale Indikation (Notlagenindikation). Auch habe eine solche Notlage nicht vorgelegen; jedenfalls sei dies nicht hinreichend dargelegt worden. Überdies bestünden gegen die Verpflichtung der Beklagten zur Entgeltfortzahlung wegen Schwangerschaftsabbruchs verfassungsrechtliche Bedenken.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hatte sein Verfahren bis zur Erledigung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft Dortmund (10 Js 321/87) gegen die Versicherte Frau E , die Frauenärztin Dr. H und den Frauenarzt Dr. K ausgesetzt. Das Ermittlungsverfahren endete mit der Einstellung des Verfahrens gegen alle drei Beschuldigten mit folgender Begründung: Dem Beschuldigten Dr. K sei nicht zu widerlegen, die Bescheinigung der Frau Dr. H so verstanden zu haben, daß diese mit einem Schwangerschaftsabbruch aufgrund einer Notlagenindikation einverstanden sei, falls auch er den Schwangerschaftsabbruch befürworte. Jedenfalls könne nicht festgestellt werden, daß er gewußt habe, der von ihm vorgenommene Schwangerschaftsabbruch sei nicht gerechtfertigt oder entschuldigt. Gegenüber der Beschuldigten Dr. H lasse sich ein hinreichender Tatverdacht ebenfalls nicht feststellen. Sie habe sich dahin eingelassen, die von ihr ausgestellte Bescheinigung vom 15. April 1986 stelle keine Feststellung über das Vorliegen einer Indikation dar. Ebensowenig könne Frau Dr. H mangels Gehilfenvorsatzes der Beihilfe zur Haupttat durch den Arzt Dr. K beschuldigt werden. Gegenüber der Beschuldigten E lasse sich eine Strafbarkeit nach § 218 StGB nicht begründen, weil zu ihren Gunsten davon auszugehen sei, daß sie - wenn auch irrtümlich - die Voraussetzungen einer strafbefreienden Indikation angenommen habe.

Das Landesarbeitsgericht hat die Akten des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens zum Gegenstand der Berufungsverhandlung gemacht. Es hat der Klage stattgegeben. Mit ihrer Revision verfolgt die Beklagte ihr Ziel, die Klage abzuweisen, weiter.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet.

Das Landesarbeitsgericht hat der Klage zu Unrecht stattgegeben. Die Voraussetzungen eines nicht rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruchs unter dem Gesichtspunkt der Notlagenindikation sind mangels einer hinreichenden ärztlichen Feststellung nicht gegeben.

1. Rechtsgrundlage für das Klagebegehren ist § 1 Abs. 1 Satz 1 LFZG in Verbindung mit § 1 Abs. 2 LFZG. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 LFZG verliert ein Arbeiter seinen Anspruch auf Arbeitsentgelt für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen nicht, wenn er durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert wird, ohne daß ihn ein Verschulden trifft. Diese Bestimmung gilt entsprechend, wenn die Arbeitsunfähigkeit infolge Abbruchs einer Schwangerschaft durch einen Arzt eintritt (§ 1 Abs. 2 Satz 1 LFZG), wobei ein nicht rechtswidriger Schwangerschaftsabbruch durch einen Arzt als unverschuldete Verhinderung an der Arbeitsleistung "gilt" (§ 1 Abs. 2 Satz 2 LFZG). Die Regelungen über den Lohnfortzahlungsanspruch bei Schwangerschaftsabbruch sind durch das Gesetz über ergänzende Maßnahmen zum Fünften Strafrechtsreformgesetz (Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz-StREG) vom 28. August 1975 (BGBl. I S. 2289) in das Lohnfortzahlungsgesetz eingefügt worden und bis zur Ablösung dieses Teiles des Lohnfortzahlungsgesetzes durch das am 1. Juni 1994 in Kraft getretene Entgeltfortzahlungsgesetz in Kraft geblieben (Artikel 68 Abs. 1 PflegeVG - BGBl. I S. 1014, 1065 ff., 1070).

2. Indessen wurden die strafrechtlichen Bestimmungen über den Schwangerschaftsabbruch während der Geltungszeit des § 1 Abs. 2 LFZG mehrfach geändert. Bei Inkrafttreten des § 1 Abs. 2 LFZG war nach der damaligen Fassung des § 218 a StGB der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch nicht nach § 218 StGB strafbar, wenn seit der Empfängnis nicht mehr als 12 Wochen verstrichen waren ("Fristenlösung"). Diese Bestimmung hat das Bundesverfassungsgericht durch Urteil vom 25. Februar 1975 (BVerfGE 39, 1 ff.) insoweit für mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig erklärt, als sie "den Schwangerschaftsabbruch auch dann von der Strafbarkeit ausnimmt, wenn keine Gründe vorliegen, die - im Sinne der Entscheidungsgründe - vor der Wertordnung des Grundgesetzes Bestand haben". In seiner vorläufigen Anordnung gemäß § 35 BVerfGG zeigte das Bundesverfassungsgericht zugleich die Möglichkeiten und Grenzen auf, unter denen Gerichte von einer Bestrafung nach § 218 StGB im Fall der Notlagenindikation absehen konnten. Durch das 15. Strafrechtsänderungsgesetz vom 18. Mai 1976 (BGBl. I S. 1213) wurden sodann die strafrechtlichen Bestimmungen über den Schwangerschaftsabbruch geändert. Diese Fassung des Gesetzes ist auf den Streitfall anzuwenden; der Schwangerschaftsabbruch ist im vorliegenden Fall im April 1986 erfolgt.

In der hier relevanten Fassung lauten die einschlägigen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs auszugsweise:

"...

§ 218 Abbruch der Schwangerschaft

(1) Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit

Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geld-

strafe bestraft.

...

(3) Begeht die Schwangere die Tat, so ist die

Strafe Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder

Geldstrafe. Die Schwangere ist nicht nach Satz 1

strafbar, wenn der Schwangerschaftsabbruch nach

Beratung (§ 218 b Abs. 1 Nr. 1, 2) von einem Arzt

vorgenommen worden ist und seit der Empfängnis

nicht mehr als zweiundzwanzig Wochen verstrichen

sind. Das Gericht kann von einer Bestrafung der

Schwangeren nach Satz 1 absehen, wenn sie sich

zur Zeit des Eingriffs in besonderer Bedrängnis

befunden hat.

...

§ 218 a. Indikation zum Schwangerschaftsabbruch

(1) Der Abbruch der Schwangerschaft durch einen

Arzt ist nicht nach § 218 strafbar, wenn

1. die Schwangere eingewilligt und

2. der Abbruch der Schwangerschaft unter Berück-

sichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen

Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärzt-

licher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Ge-

fahr für das Leben oder die Gefahr einer

schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperli-

chen und seelischen Gesundheitszustandes der

Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht

auf eine andere für sie zumutbare Weise abge-

wendet werden kann.

(2) Die Voraussetzungen des Absatzes 1 Nr. 2 gel-

ten auch als erfüllt, wenn nach ärztlicher Er-

kenntnis

...

3. der Abbruch der Schwangerschaft sonst ange-

zeigt ist, um von der Schwangeren die Gefahr

einer Notlage abzuwenden, die

a) so schwer wiegt, daß von der Schwangeren die

Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt

werden kann, und

b) nicht auf eine andere für die Schwangere zu-

mutbare Weise abgewendet werden kann.

(3) In den Fällen des Absatzes 2 Nr. 1 dürfen

seit der Empfängnis nicht mehr als zweiundzwanzig

Wochen, in den Fällen des Absatzes 2 Nr. 2 und 3

nicht mehr als zwölf Wochen verstrichen sein.

...

§ 219 Abbruch der Schwangerschaft ohne ärztliche

Feststellung

(1) Wer eine Schwangerschaft abbricht, ohne daß

ihm die schriftliche Feststellung eines Arztes,

der nicht selbst den Schwangerschaftsabbruch vor-

nimmt, darüber vorgelegen hat, ob die Vorausset-

zungen des § 218 a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, 3 gege-

ben sind, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem

Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat

nicht in § 218 mit Strafe bedroht ist. Die

Schwangere ist nicht nach Satz 1 strafbar.

..."

3. Das Lohnfortzahlungsgesetz enthält keine nähere Bestimmung darüber, was unter einem "nicht rechtswidrigen" Schwangerschaftsabbruch (§ 1 Abs. 2 Satz 2 LFZG) zu verstehen ist. Die Gesetzesmaterialien ergeben hierzu keine nähere Auskunft (so auch BAG Urteil vom 5. April 1989 - 5 AZR 495/87 - BAGE 61, 249, 252 = AP Nr. 84 zu § 1 LohnFG = EzA § 1 LohnFG Nr. 105 mit Anmerkung von Pallasch). Ein nicht rechtswidriger Abbruch einer Schwangerschaft im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 2 LFZG ist jedoch nur anzunehmen, wenn es sich um einen im Sinne des § 218 a StGB nicht strafbaren Schwangerschaftsabbruch handelt (vgl. BAG Urteil vom 5. April 1989, aaO, m.w.N.). Dabei bleibt unentschieden, ob insoweit auch ein nach strafrechtsdogmatischer Auffassung rechtmäßiges Handeln vorliegt, d. h., ob die Indikationen des § 218 a StGB als Rechtfertigungsgründe oder nur als Schuldausschließungsgründe (Unrechtsausschließungsgründe, Strafausschließungsgründe) zu werten sind (BAG Urteil vom 5. April 1989, aaO, zu II 3 der Gründe). Die gegen diese Entscheidung eingelegte Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG Beschluß vom 18. Oktober 1989 - 1 BvR 1013/89 - AP Nr. 84 a zu § 1 LohnFG mit Anmerkung Wank = NJW 1990, 241 = SAE 1990, 129 mit Anmerkung v. Maydell).

Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts ist in der Literatur auf unterschiedliche Aufnahme gestoßen (vgl. zusammenfassend und kritisch statt vieler: Birk, GK-EFZR, § 1 LFZG Rz 289 ff. mit zahlreichen Nachweisen). Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Nichtannahmebeschluß vom 18. Oktober 1989 (aaO) ausgeführt, die aus der Entstehungsgeschichte des Fünften Strafrechtsreformgesetzes begründete Rechtsauffassung des Bundesarbeitsgerichts sei in der arbeits- und sozialrechtlichen Literatur verbreitet, methodisch vertretbar und in sich widerspruchsfrei (BVerfG vom 18. Oktober 1989, aaO, unter I 2 a der Gründe).

4. Der Senat hält daran fest, daß nach damaliger Rechtslage ein "nicht rechtswidriger" Schwangerschaftsabbruch im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 2 LFZG nur anzunehmen war, wenn der Schwangerschaftsabbruch objektiv nicht strafbar war, nicht aber schon dann, wenn aus Gründen der §§ 16 ff. StGB von einer Bestrafung im Einzelfall abgesehen wird. In dieser Auffassung sieht sich der Senat auch durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993 bestärkt, in der das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis gekommen ist, daß die strafrechtlichen Regelungen über den Schwangerschaftsabbruch, wie sie in der Gesetzesnovelle vom 27. Juli 1992 verabschiedet worden sind, zumindest teilweise verfassungswidrig sind (BVerfGE 88, 203 bis 366 = NJW 1993, 1751 bis 1779).

a) Durch das am 27. Juli 1992 verkündete Schwangeren- und Familienhilfegesetz (BGBl. I S. 1398 ff.) war an die Stelle der Notlagenindikation als Strafausschließungs- oder Rechtfertigungsgrund für den Schwangerschaftsabbruch die sog. Beratungsregelung getreten. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 28. Mai 1993, aaO, ausgeführt, der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht für das ungeborene menschliche Leben widerspreche es nicht, wenn die arbeitsrechtlichen Grundsätze über die Lohnfortzahlung dahin ausgelegt und angewendet würden, daß eine Verpflichtung zur Lohnfortzahlung auch dann bestehe, wenn die Arbeitsunfähigkeit die Folge eines auf der Grundlage der Beratungsregelung erfolgten Schwangerschaftsabbruchs sei; es sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, auch in diesen Fällen entsprechend § 1 Abs. 1 LFZG die Arbeitsunfähigkeit anzunehmen (NJW 1993, 1770, rechte Spalte, Mitte). Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts beziehen sich zwar nicht auf die hier anzuwendenden strafrechtlichen Regelungen in der 1986 gültigen Fassung, sondern auf die an ihre Stelle getretene Beratungsregelung. Für die einfach-rechtliche Frage, wann ein auf die Notlagenindikation im Sinne des § 218 a StGB a.F. gestützter Schwangerschaftsabbruch "nicht rechtswidrig" im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 2 LFZG ist, läßt sich aus ihnen jedoch herleiten, daß es zumindest für die Lohnfortzahlung wesentlich auf das Vorliegen einer entsprechenden ärztlichen Bescheinigung ankommt, die nur erteilt werden darf, wenn eine Notlagenindikation ärztlich festgestellt worden ist.

b) Dies zeigt auch der Hinweis des Bundesverfassungsgerichts im selben Beschluß auf die bisherige Praxis des Schwangerschaftsabbruchs bei Notlagenindikationen: "Allerdings kann als sicher gelten, daß der Tatbestand der allgemeinen Notlagenindikation in der Vergangenheit vielfach zur Rechtfertigung von Schwangerschaftsabbrüchen und damit zur Begründung von Ansprüchen auf Krankenversicherungsleistungen herangezogen worden ist, ohne daß der hier vorauszusetzende soziale Konflikt unter dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit das Gewicht der anderen Indikationen erreichte. Auch die Begründung des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes sieht in der ausufernden praktischen Handhabung einen Grund für die Neuregelung (vgl. BT-Drucks. 12/2605 ≪neu≫ S. 3). Mit der Schutzpflicht für das ungeborene Leben ist es nicht vereinbar, daß die Krankenversicherungsträger auch bei einer derart ausufernden Auslegung und Anwendung des Tatbestandes der allgemeinen Notlage die Rechtmäßigkeit des ärztlichen Eingriffs ohne weiteres unterstellen und diesen als Leistung gewähren. Sie haben sich zu vergewissern, daß die Annahme einer allgemeinen Notlage nach ärztlicher Erkenntnis nicht unvertretbar war - insoweit können sie sich an den vom BGH entwickelten Grundsätzen (u. a. BGHZ 95, 199, 204 ff. = NJW 1985, 2752) orientieren - und die Vorschriften über die Beratung (§ 218 b StGB a.F.) und das Indikationsfeststellungsverfahren (§ 219 StGB a.F.) nicht mißachtet wurden" (BVerfG Urteil vom 28. Mai 1993, NJW 1993, 1751, 1771, linke Spalte, ab cc). Damit wird die Erforderlichkeit zumindest einer entsprechenden ärztlichen Feststellung und deren Nachweis duch eine entsprechende ärztliche Bescheinigung deutlich hervorgehoben.

5. Ein - wie hier - auf eine Notlagenindikation gestützter Abbruch einer Schwangerschaft war nach allem nur dann "nicht rechtswidrig" im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 2 LFZG, wenn eine entsprechende ärztliche Bescheinigung über das Gegebensein einer solchen Notlagenindikation entsprechend den strafrechtlichen Bestimmungen vorlag. Das aber ist hier entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts nicht der Fall.

a) Insoweit kommt nur die Bescheinigung der Frauenärztin Dr. H in Betracht. Darin wird schon dem Wortlaut nach nicht etwa das Gegebensein einer "Notlagenindikation" festgestellt, sondern es wird lediglich "bescheinigt", daß die Schwangerschaft unerwünscht sei, daß die Versicherte bereits zwei Kinder im Alter von 11 und 9 Jahren habe, berufstätig und ihr Ehemann krank sei und die Versicherte zur Zeit kein weiteres Kind aufziehen könne. Diese Feststellungen lassen sich nicht als Beschreibung einer Notlage im Sinne des § 218 a Abs. 2 Nr. 3 StGB (a.F.) verstehen. Vielmehr handelt es sich nur um die Darstellung einer vorübergehenden ("z. Zt.") allgemeinen Bedrängnis. Derartige vorübergehende Bedrängnisse, vor allem auch wirtschaftliche Engpässe, Verschlechterung des erreichten Lebensstandards, Arbeitsplatz- oder Wohnungswechsel sind in aller Regel nicht von dem Gewicht, daß sie eine Notlagenindikation rechtfertigen könnten, sondern müssen hingenommen werden. Entsprechendes gilt für die Sorge, dem Kind könne nur ein Leben unter schwierigen Verhältnissen geboten werden (vgl. insoweit auch BT-Drucks. VI/3434 S. 26). Auch der weitere Satz in der ärztlichen Bescheinigung der Frauenärztin Dr. H besagt nicht, daß diese Ärztin eine Notlagenindikation festgestellt habe. Sie "überläßt" die letzte Entscheidung, eine Interruption durchzuführen, ihrem ärztlichen Kollegen. Damit will die attestierende Ärztin gerade keine Verantwortung für einen Schwangerschaftsabbruch mittragen und insoweit auch keine hierauf gerichtete Indikation feststellen. In diesem Sinne hat sie sich auch vor der Staatsanwaltschaft eingelassen.

b) In dieser Wertung sieht sich der Senat durch das Ergebnis des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens gegen Frau Dr. H bestätigt: Eine Einstellung wegen fehlenden Täterwillens nach § 170 Abs. 2 StPO wäre nicht nachvollziehbar, wenn der Staatsanwalt der Auffassung gewesen wäre, die Bescheinigung der Ärztin Dr. H müsse als Feststellung einer Notlagenindikation verstanden werden. Denn dann hätte Frau Dr. H den Täterwillen nicht mit Erfolg abstreiten können.

6. Für die Frage, ob der auf Notlagenindikation gestützte Schwangerschaftsabbruch im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 2 LFZG "nicht rechtswidrig" war, kommt es nicht darauf an, inwieweit die Schwangere irrtümlich angenommen hat oder annehmen durfte, mit ihrem Schwangerschaftsabbruch nicht gegen das Gesetz zu verstoßen. Das Gesetz fingiert, daß der "nicht rechtswidrige" Schwangerschaftsabbruch als unverschuldet im Sinne des § 1 Abs.1 Satz 1 LFZG gilt. Es ersetzt damit ein subjektives Tatbestandsmerkmal ("ohne daß ihn ein Verschulden trifft") durch eine Fiktion, die ihrerseits nur an objektive Tatsachen anknüpft. Dies schließt aus, an die Stelle derart objektiver Umstände, nämlich der Nicht-Rechtswidrigkeit des Schwangerschaftsabbruchs, lediglich subjektives Nicht-Verschulden treten zu lassen, wenn die Voraussetzungen für eine objektive Nicht-Rechtswidrigkeit nicht erfüllt sind. Dem steht nicht entgegen, daß in solchen Fällen - wie hier - einer strafrechtlichen Verfolgung Grenzen gesetzt sind.

7. Bei dieser Sach- und Rechtslage kommt es auf die weiteren Erwägungen der Revision nicht mehr an. Insbesondere kann offenbleiben, ob ein objektiv nicht unter Strafe gestellter Schwangerschaftsabbruch gleichwohl im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 2 LFZG rechtswidrig sein kann, und inwieweit verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine Verpflichtung zu Lohnfortzahlung in solchen Fällen bestehen.

Griebeling Reinecke Schliemann

Ackert Krogmann

 

Fundstellen

Haufe-Index 440261

BAGE 79, 12-21 (LT1)

BAGE, 12

BB 1995, 2583

BB 1995, 2583-2584 (LT1)

DB 1995, 929-930 (LT1)

DStR 1996, 881 (K)

NJW 1995, 3073

NJW 1995, 3073-3075 (LT1)

BuW 1995, 328 (K)

DRsp, VI(608) 220a (LT1)

FamRZ 1995, 800-802 (LT1)

ARST 1995, 175-177 (LT1)

DOK 1996, 530 (S1)

EEK, I/1156 (ST1)

JR 1995, 440 (L)

NZA 1995, 459

NZA 1995, 459-461 (LT1)

SAE 1996, 308-311 (LT1)

USK, 9440 (LT)

WzS 1996, 62 (S)

ZAP, EN-Nr 328/95 (L)

AP § 3 EntgeltFG (LT1), Nr 1

AR-Blattei, ES 1000.3.1 Nr 171 (LT1)

ArbuR 1995, 275-277 (LT1)

EzA § 1 LohnFG, Nr 126 (LT1)

MDR 1995, 828-829 (LT1)

MedR 1995, 239 (S)

PersF 1995, 526 (S1)

SVFAng Nr 94, 23 (1996) (L)

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