Entscheidungsstichwort (Thema)

Zulässigkeit der Berufung. Bindung an Streitwert

 

Leitsatz (redaktionell)

Legt die beim Arbeitsgericht in vollem Umfang unterlegene Partei uneingeschränkt Berufung ein, so stimmt der Wert der Beschwer mit dem im Urteil des Arbeitsgerichts festgesetzten Streitwert überein. Eine gesonderte Ermittlung des Beschwerdewertes kommt in einem solchen Fall nicht in Betracht.

 

Normenkette

ArbGG § 61 Abs. 1, § 64 Abs. 2

 

Verfahrensgang

LAG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 18.03.1987; Aktenzeichen 3 Sa 7/87)

ArbG Stuttgart (Entscheidung vom 29.09.1986; Aktenzeichen 7 Ca 163/86)

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, eine dem Kläger mit Datum vom 22. Oktober 1985 erteilte Abmahnung aus seiner Personalakte zu entfernen. Der Kläger ist aufgrund eines Anstellungsvertrages vom 20. Mai 1980 beim Arbeitsamt S als Angestellter beschäftigt. Nach dem Tatbestand des angefochtenen Urteils ist der Kläger seit dem 1. Oktober 1979 bei der beklagten Bundesanstalt angestellt und als Hilfssachbearbeiter in der Zahlstellenprüfung mit Vergütung nach VergGr. VII der Vergütungsordnung zum MTA tätig. Diese Ausführungen stehen allerdings im Widerspruch zu dem Protokoll des Landesarbeitsgerichts über die Verhandlung vom 18. März 1987. Danach hat der Kläger erklärt, er sei seit dem 6. Dezember 1978 als Dolmetscher für die türkische Sprache mit VergGr. V c angestellt.

Im Rahmen einer "Verweigerungsaktion der Stuttgarter Friedenstage Herbst 1984" unterzeichnete der Kläger am 19. September 1984 ein hektographiertes Schriftstück, in dem es u. a. heißt, der öffentliche Dienst werde zunehmend in die Kriegsvorbereitungen einbezogen; der Kläger wehre sich dagegen, daß in seinem Namen Millionen von Menschen mit dem Tode bedroht würden und verweigere sich allen Arten von Kriegsvorbereitungen, die seinen Arbeits- und Lebensbereich beträfen. Abschließend heißt es, er erkläre bereits jetzt, daß er sich allen Befehlen widersetze, die das Leben und die Freiheit anderer Menschen bedrohen und der Vorbereitung und Führung eines Krieges dienten.

Der Kläger wurde Anfang 1985 hierzu gehört und ihm die Beantwortung zweier Fragen über die vorgenannte Erklärung aufgegeben. Der Kläger hat sich hierzu am 21. Januar 1985 geäußert. Mit Schreiben vom 22. Oktober 1985 ließ ihm die Beklagte durch den Direktor des Arbeitsamtes mitteilen, durch die nicht widerrufene Erklärung seien ernsthafte Zweifel an der Rechtstreue und der Loyalität gegenüber der Bundesanstalt für Arbeit entstanden; für den Fall, daß sich diese Zweifel in der Zukunft verdichteten, seien arbeitsrechtliche Konsequenzen unausweichlich.

Der Kläger hat die Ansicht vertreten, die Androhung arbeitsrechtlicher Konsequenzen sei ungerechtfertigt und hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, die dem

Kläger mit Datum vom 22. Oktober 1985

erteilte Abmahnung aus seiner Personalakte

zu entfernen.

Die beklagte Bundesanstalt hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, der Kläger habe mit der von ihm abgegebenen Erklärung auch unter Berücksichtigung seiner späteren Erläuterung gegen § 8 des Manteltarifvertrages verstoßen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben und den Streitwert nach § 3 ZPO, § 12 Abs. 7 ArbGG auf 2.000,-- DM festgesetzt. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen. Es hat angenommen, der von ihm festzustellende Wert des Beschwerdegegenstandes übersteige nicht 800,-- DM. Mit der Revision erstrebt die Beklagte die Abweisung der Klage.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat zu Unrecht die Berufung als unzulässig angesehen, weil der Beschwerdewert unter 800,-- DM liege.

I. Zutreffend hat das Landesarbeitsgericht angenommen, daß es sich vorliegend um eine vermögensrechtliche Streitigkeit handelt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts liegt eine solche vermögensrechtliche Streitigkeit vor, wenn der Arbeitnehmer begehrt, eine Abmahnung aus seinen Personalakten zu entfernen. Bei einer vermögensrechtlichen Streitigkeit ist nach § 64 Abs. 2 ArbGG die Berufung nur statthaft, wenn sie in dem Urteil des Arbeitsgerichts zugelassen worden ist oder der Wert des Beschwerdegegenstandes 800,-- DM übersteigt. Da das Arbeitsgericht im vorliegenden Fall die Berufung nicht zugelassen hat, war die Berufung nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 800,-- DM überschritt. Entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts war dies der Fall.

1. Nach § 61 Abs. 1 ArbGG setzt das Arbeitsgericht im Urteil den Wert des Streitgegenstandes fest. Diese Festsetzung des Streitwerts ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts vom Landesarbeitsgericht zugrunde zu legen, wenn es ermittelt, ob der Wert des Beschwerdegegenstandes 800,-- DM übersteigt und deshalb die Berufung statthaft ist. Diese Bindung an den vom Arbeitsgericht festgesetzten Streitwert entfällt nur dann, wenn die Streitwertfestsetzung offensichtlich unrichtig ist (BAG Urteil vom 2. März 1983, BAGE 44, 13 = AP Nr. 6 zu § 64 ArbGG 1979; BAG Urteil vom 11. Juni 1986 - 5 AZR 512/83 - AP Nr. 3 zu § 61 ArbGG 1979). Entgegen den Bedenken des Klägers in der Revisionserwiderung ist an dieser Ansicht festzuhalten, zumal da sowohl der Zweite Senat wie der Siebte Senat sich der vom erkennenden Senat in seiner Entscheidung vom 2. März 1983 näher begründeten Auffassung angeschlossen haben (BAG Urteil vom 24. August 1983 - 7 AZR 558/81 -, nicht veröffentlicht; BAG Beschluß vom 13. Februar 1984 - 7 AZB 22/83 -, nicht veröffentlicht; BAG Beschluß vom 22. Mai 1984 - 2 AZB 25/82 - AP Nr. 7 zu § 12 ArbGG 1979).

Die tragenden Erwägungen des Senats dafür, daß die Streitwertfestsetzung im Urteil des Arbeitsgerichts trotz der durch das Gesetz zur Bereinigung und Beschleunigung des arbeitsgerichtlichen Verfahrens vom 21. Mai 1979 (BGBl I S. 545) getroffenen Änderungen zur Berufungsfähigkeit der Urteile weiterhin für die Zulässigkeit der Berufung Bedeutung hat, lauten wie folgt:

"Die Umstellung des arbeitsgerichtlichen Rechtsmittelsystems

zwingt nicht dazu, von der bisherigen

Rechtsansicht über die Berechnung, Unanfechtbarkeit

und Bindungswirkung des erstinstanzlichen Urteilsstreitwerts

völlig abzurücken und der Wertfestsetzung

nur noch kostenrechtliche Folgen beizumessen.

Nach § 61 Abs. 1 ArbGG 1979 ist der Streitwert

weiterhin im Urteil festzusetzen. Bildet die Streitwertfestsetzung

aber einen Urteilsbestandteil, so

ist die Festsetzung gemäß § 318 ZPO bindend. Deshalb

ist eine Änderung des Streitwertes von Amts wegen

oder im Wege der Abhilfe, wie sie § 25 Abs. 1

Satz 3 GKG zuläßt, nicht möglich. Ebensowenig kann

der Streitwert aufgrund einer Beschwerde nach § 25

Abs. 2 GKG abgeändert werden. Der Streitwert kann

als Nebenentscheidung des Urteils nur in Verbindung

mit einer Anfechtung der Entscheidung in der Hauptsache

überprüft werden (§§ 511, 537 ZPO).

Auch nach neuem Recht dient die Festsetzung des

Streitwertes durch das Arbeitsgericht daher der

Rechtsmittelklarheit hinsichtlich der Berufung. Da

der Beschwerdewert nie höher liegen kann als der

Streitwert zum Schluß der letzten mündlichen Verhandlung

vor dem Arbeitsgericht, begrenzt der festgesetzte

Streitwert die Höhe der Beschwer. Aus

Streitwert, Urteil und Anträgen kann die Höhe der

Beschwer ermittelt werden. In allen Rechtsstreitigkeiten,

in denen eine Partei in vollem Umfang

unterliegt, ergibt sich ihre Beschwer unmittelbar

aus dem Streitwert. § 69 Abs. 2 ArbGG 1979 behält

seine Bedeutung insoweit, als dort festgeschrieben

ist, daß dann, wenn der Wert des Streitgegenstandes

sich nach der Verkündung des Urteils des Arbeitsgerichts

nicht geändert hat, das Landesarbeitsgericht

die erstinstanzliche Streitwertfestsetzung nicht

ändern darf. Damit schützt diese Vorschrift das

Vertrauen der Parteien darauf, daß eine nach dem

vom Arbeitsgericht festgesetzten Streitwert zunächst

zulässige Berufung durch eine spätere Abänderung

des Streitwertes nicht unzulässig wird. Damit

erfüllt die unverändert gebliebene Vorschrift des

§ 61 Abs. 1 ArbGG 1979 weiterhin eine den Interessen

der Parteien dienende Aufgabe: Ist der Streitwert

verbindlich, so ist mit der Verkündung der

Entscheidung absolut oder jedenfalls weitgehend

(bei teilweisem Unterliegen oder nur eingeschränkt

beabsichtigter Berufung) erkennbar, ob die Berufung

statthaft ist. Bei fehlender Bindung an die Streitwertfestsetzung

bliebe die Rechtskraft des erstinstanzlichen

Urteils stets ungewiß, bis das Berufungsgericht

über den Beschwerdewert erkannt hat.

Denn von der hier abgelehnten Auffassung her könnte

die unterlegene Partei auch bei einem unter 800,-- DM

festgesetzten Streitwert versuchen, die Statthaftigkeit

der Berufung zu erreichen, indem sie geltend

macht, der Streit- und Beschwerdewert liege höher.

Für beide Parteien würden sich danach Unwägbarkeiten

ergeben, die sich mit dem im arbeitsgerichtlichen

Verfahren in besonderem Maße gebotenen Grundsatz

der Rechtsmittelklarheit (vgl. dazu auch BVerfG,

Beschluß vom 27. April 1976 - 2 BvR 342/72 - AP

Nr. 15 zu § 92 ArbGG 1953) nicht vereinbaren lassen."

2. Aus den vorstehenden Erwägungen darüber, weshalb der Streitwert für die Ermittlung des Beschwerdewertes auch im Rahmen des § 64 Abs. 2 ArbGG 1979 maßgebend ist, folgt bereits, daß für die Feststellung des Beschwerdewertes nur dann von dem im Urteil des Arbeitsgerichts festgesetzten Streitwert abgegangen werden kann, wenn die Parteien im ersten Rechtszug nur teilweise obgesiegt haben oder bei vollem Obsiegen einer Partei diese nur beschränkt Berufung einlegt. Ist dagegen eine Partei in vollem Umfange unterlegen und hat sie auch uneingeschränkt Berufung eingelegt, so stimmt der Wert des Beschwerdegegenstandes mit dem vom Arbeitsgericht festgesetzten Wert des Streitgegenstandes überein, sofern dieser nicht offensichtlich unrichtig war. Das hat der Senat nicht nur schon in seiner Entscheidung vom 2. März 1983 zum Ausdruck gebracht, sondern hierauf auch ausdrücklich in seinem Urteil vom 11. Juni 1986 abgehoben. Die vom Landesarbeitsgericht vertretene Auffassung, es sei unabhängig von der Streitwertfestsetzung jeweils zu ermitteln, in welchem Umfange der Rechtsmittelführer - sei es der Kläger, sei es der Beklagte - durch die angefochtene Entscheidung beschwert ist, führt zu einer Rechtsmittelunsicherheit, die nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts durch die herausgestellte Bedeutung der Streitwertfestsetzung für die Prüfung, ob die Berufung statthaft ist, gerade vermieden werden sollte. Es wird deshalb auch im Schrifttum die vom Bundesarbeitsgericht vertretene Auffassung geteilt, daß der Beschwerdewert mit dem Streitwert übereinstimmt, wenn der Rechtsmittelkläger in erster Instanz in vollem Umfange unterlegen war und er sein Begehren vollinhaltlich weiterverfolgt (vgl. Stein/Jonas/Grunsky, ZPO, 20. Aufl., § 511 a Rz 7; ferner Grunsky, ArbGG, 5. Aufl., § 61 Rz 3).

Richtig ist zwar, daß nach der hier vertretenen Ansicht im arbeitsgerichtlichen Verfahren, anders als im Verfahren vor den ordentlichen Gerichten, das Berufungsgericht in der Ermittlung des Beschwerdewerts weitgehend gebunden ist. Das folgt aber daraus, daß im arbeitsgerichtlichen Verfahren der Streitwert im erstinstanzlichen Urteil festzusetzen ist und dies aus Gründen der Rechtsmittelklarheit für die Ermittlung des Beschwerdewertes bedeutsam ist und bedeutsam sein soll, wenn der Beschwerdewert zu ermitteln ist. Wollte man der Auffassung des Landesarbeitsgerichts folgen, so würde für die Parteien in keiner Weise mehr erkennbar sein, ob eine Entscheidung mit der Berufung anfechtbar ist oder nicht. Das vom Landesarbeitsgericht herangezogene Beispiel über die Auskunftspflicht und auch seine Erwägungen zur Entfernung der Abmahnung aus den Personalakten zeigen, daß auf den Einzelfall bezogene, nicht absehbare Überlegungen zur Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der Berufung führen können. Man kann sich unschwer weitere Beispiele vorstellen, in denen insbesondere bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise das Rechtsmittel gewährt oder genommen wird. So könnte etwa in einem Kündigungsrechtsstreit argumentiert werden, die Feststellung über das Bestehen des Arbeitsverhältnisses sei für den Arbeitnehmer viel bedeutsamer als für den Arbeitgeber; deshalb könnte der Streitwert dann für die Berufung des Arbeitgebers leicht auf einen Betrag unter 800,-- DM festgesetzt werden; dabei könnte man dann auch wiederum noch unterscheiden zwischen der Betriebsgröße, weil möglicherweise einem Arbeitgeber mit wenigen Beschäftigten die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses etwa bei einer betriebsbedingten Kündigung doch wiederum schwerer fallen könnte. Selbst bei Zahlungsklagen müßte dann befürchtet werden, daß bei einem notleidenden Arbeitgeber auf die Durchsetzbarkeit des Anspruchs mit abgestellt und danach der Beschwerdewert bemessen wird.

All dies zeigt, daß die Ansicht des Landesarbeitsgerichts sich mit den gesetzlichen Vorschriften, die zu einer weitgehenden Rechtsmittelklarheit führen wollen, nicht vereinbaren läßt.

II. Das angefochtene Urteil hat demnach zu Unrecht angenommen, daß der vom Arbeitsgericht auf 2.000,-- DM festgesetzte Streitwert bei dem vollständigen Unterliegen der Beklagten und der von ihr in vollem Umfange eingelegten und verfolgten Berufung nicht für die Festsetzung des Beschwerdewerts maßgebend ist. Anhaltspunkte dafür, daß die Streitwertfestsetzung auf 2.000,-- DM offensichtlich unrichtig gewesen sei, sind nicht ersichtlich. Deshalb mußte das angefochtene Urteil, das die Berufung als unzulässig angesehen hat, aufgehoben werden.

III. Entgegen der Ansicht der Beklagten kann der Senat nicht in der Sache durchentscheiden. Der Rechtsstreit ist vielmehr zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Die Auslegung der Erklärungen des Klägers und ihre Wertung sind zunächst Aufgabe des Tatsachenrichters, da auf die gesamten Umstände tatsächlicher Art mit abzustellen ist (§§ 133, 157 BGB). Auch soweit der Kläger sich in der Revisionsverhandlung darauf beruft, die Beklagte habe den Anspruch auf Abmahnung deswegen verloren, weil sie die anzuwendende Ausschlußfrist des § 67 MTA nicht gewahrt habe, ermöglicht das dem Senat nicht, abschließend zu erkennen. Im Hinblick auf Art. 103 GG ist der Beklagten vielmehr in der Tatsacheninstanz Gelegenheit zu geben, zur Frage der Ausschlußfrist noch Umstände vorzutragen, die für die rechtliche Beurteilung dieses Einwandes erheblich sein können.

Dr. Thomas Dr. Gehring Dr. Olderog

Nitsche Dr. Stadler

 

Fundstellen

BAGE 57, 186-192 (LT1)

BAGE, 186

JR 1988, 396

JR 1988, 396 (S1)

NZA 1988, 705-706 (LT1)

RdA 1988, 189

AP § 64 ArbGG 1979 (LT1), Nr 11

AR-Blattei, Arbeitsgerichtsbarkeit XB 1979 Entsch 37 (LT1)

AR-Blattei, ES 160.10.2 (1979) Nr 37 (LT1)

EzA § 64 ArbGG 1979, Nr 22 (LT1)

MDR 1988, 608-608 (LT1)

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