Entscheidungsstichwort (Thema)

Betriebsbedingte Kündigung. Massenentlassung. verspätete Anträge und Vertrauensschutz

 

Normenkette

KSchG § 1 Abs. 2-3, § 17 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LAG Niedersachsen (Urteil vom 17.08.2005; Aktenzeichen 2 Sa 483/05)

ArbG Braunschweig (Urteil vom 29.09.2004; Aktenzeichen 8 Ca 886/03)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 17. August 2005 – 2 Sa 483/05 – wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten nur noch über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung vom 18. Dezember 2003.

Die am 4. Dezember 1951 geborene, verheiratete Klägerin war seit dem 26. April 1988 bei der Beklagten als Produktionsmitarbeiterin in der Abteilung “B…” gegen eine Bruttomonatsvergütung von zuletzt 1.760,07 Euro beschäftigt.

Im Jahr 2002 entschloss sich die Beklagte, die Produktion von Helmen von B… nach M… zu verlagern. Dort wurde eine neue Firma, die S… GmbH (im Folgenden: S…), gegründet.

Im Oktober 2003 nahm die Beklagte Verhandlungen mit dem Betriebsrat über den Abschluss eines Interessenausgleichs und Sozialplans der in der Produktion beschäftigten Arbeitnehmer des Betriebs B… auf.

Mit Schreiben vom 6. November 2003 unterrichtete die Beklagte die Klägerin über die bevorstehende Verlagerung der Produktion von B… nach M… und die Übertragung der Arbeitsverhältnisse auf die neu gegründete S….

Mit Schreiben vom 28. November 2003 widersprach die Klägerin einem Betriebsübergang ihres Arbeitsverhältnisses auf die S….

Am 3. Dezember 2003 schloss die Beklagte mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich und Sozialplan.

Mit Schreiben vom 15. Dezember 2003 hörte die Beklagte den bei ihr gebildeten Betriebsrat zu einer Kündigung der Klägerin an. Der Betriebsrat erklärte am 17. Dezember 2003, er gebe keine weitere Stellungnahme zu den beabsichtigten Kündigungen ab.

Am 15. Dezember 2003 informierte die Beklagte die Bundesagentur für Arbeit über die geplante Massenentlassung von mehr als 100 Arbeitnehmern.

Mit Schreiben vom 18. Dezember 2003 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Klägerin – wie weiteren 118 Mitarbeitern – ordentlich zum 15. August 2004.

Mit Schreiben vom 1. Juli 2004, bei der Bundesagentur für Arbeit am 7. Juli 2004 eingegangen, erstattete die Beklagte eine Massenentlassungsanzeige.

Mit ihrer beim Arbeitsgericht erhobenen Klage hat sich die Klägerin gegen die Kündigung gewandt und zur Begründung ihrer Klage ausgeführt: In B… sei die Produktion nicht vollständig eingestellt worden. Die Sozialauswahl sei nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden. Da die Massenentlassungsanzeige nicht vor dem Ausspruch der Kündigung erfolgt sei, sei die Kündigung schon aus diesem Grund unwirksam.

Die Klägerin hat – soweit für die Revision noch von Interesse – zuletzt beantragt

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 18. Dezember 2003 nicht beendet worden ist.

Die Beklagte hat zur Begründung ihres Klageabweisungsantrags vorgetragen: Die Produktion sei am 16. August 2004 in B… völlig eingestellt und nach M… verlagert worden. Die Betriebsübernehmerin habe auf Grund von technischen Problemen in M… Teile ihrer Produktion aus der Schleiferei und Lackiererei nach B… verlagert und dort mit eigenem Personal in gemieteten Räumen gearbeitet. Sie habe die Massenentlassungsanzeige rechtzeitig vor der tatsächlichen Durchführung der Entlassung erstattet. Zumindest habe sie darauf vertrauen dürfen, dass sie die Massenentlassungsanzeige noch bis zum Ablauf der Kündigungsfrist wirksam habe erstatten können.

Das Arbeitsgericht hat die Klage der Klägerin abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist unbegründet.

Das Landesarbeitsgericht hat die Klage der Klägerin zu Recht abgewiesen. Die Kündigung vom 18. Dezember 2003 ist weder sozialwidrig noch wegen einer verspäteten Massenentlassungsanzeige unwirksam.

A. Das Landesarbeitsgericht hat zur Begründung seiner die Klage abweisenden Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt: Die Kündigung sei aus betriebsbedingten Gründen iSd. § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt. Auf Grund der Produktionseinstellung zum 15. August 2004 in B…, des Betriebsübergangs auf die S… und der Betriebsverlagerung nach M… sei der Arbeitsplatz der Klägerin in B… bei der Beklagten weggefallen. Die nunmehr wieder in B… erfolgende Lackierung führe die S… aus. Einem Betriebsübergang auf diese Firma habe die Klägerin aber gerade widersprochen. Da keine vergleichbaren Arbeitsplätze bei der Beklagten in B… mehr vorhanden gewesen seien, habe es keiner Sozialauswahl bedurft.

Die Kündigung sei auch nicht wegen Gesetzesverstoßes nach § 134 BGB nichtig. Insbesondere liege kein Verstoß gegen die §§ 17 ff. KSchG iVm. der Richtlinie des Rates 98/59/EG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen vom 20. Juli 1998 (im Folgenden: MERL) vor. Die Beklagte habe die erforderliche Massenentlassungsanzeige für die vorliegende Kündigung am 1. Juli 2004 erstattet. Dies sei nach den Regelungen der §§ 17 ff. KSchG noch ausreichend gewesen. Es genüge, wenn der Arbeitgeber die Anzeige der Massenentlassung vor der Entlassung, dh. vor dem Austritt des Arbeitnehmers aus dem Arbeitsverhältnis zum Ablauf der Kündigungsfrist rechtzeitig anzeige. Daran ändere auch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 27. Januar 2005 nichts. Es sei Sache des Gesetzgebers, ggf. seinen gesetzgeberischen Willen neu zu artikulieren. Dessen klarer Wille, wie er in den §§ 17, 18 KSchG zum Ausdruck komme, stehe einer europarechtskonformen Auslegung dieser Regelungen entgegen. Deshalb bedürfe es keiner Entscheidung zu der Frage, ob der Beklagten ggf. Vertrauensschutz zu gewähren sei.

B. Den Ausführungen des Landesarbeitsgerichts folgt der Senat im Ergebnis, jedoch nicht in allen Teilen der Begründung.

I. Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht erkannt, dass die Kündigung vom 18. Dezember 2003 das Arbeitsverhältnis der Klägerin rechtswirksam beendet hat.

Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht angenommen, dass für die ordentliche Kündigung vom 18. Dezember 2003 dringende betriebliche Erfordernisse vorlagen, die einer Weiterbeschäftigung der Klägerin im Betrieb B… entgegenstanden. Die Beklagte hat die Betriebsstätte B… geschlossen und den Betrieb auf die Firma S… übertragen, die ihn im Wesentlichen in M… weiterführt. Nachdem die Klägerin dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses auf die Firma S… nach § 613a Abs. 6 BGB widersprochen hat, bestand am Standort B… für sie keine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit mehr. Dies hat das Landesarbeitsgericht festgestellt, ohne dass die Revision hiergegen relevante Einwände vorgebracht hätte. Da am Standort B… bei der Beklagten keine weitere Produktion mehr stattfindet und der Betrieb geschlossen ist, erübrigt sich auch eine Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG.

II. Entgegen der Auffassung der Revision – und nur mit diesem Aspekt setzt sie sich in der Revisionsbegründungsschrift auseinander – ist die Kündigung nicht wegen Verstoßes gegen die Anzeigepflicht des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG rechtsunwirksam.

1. Allerdings war die Massenentlassung vor Ausspruch der Kündigung im Dezember 2003 bei der Agentur für Arbeit nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG vom Arbeitgeber anzuzeigen. Diese Kündigung war Teil einer anzeigepflichtigen Massenentlassung iSd. § 17 KSchG.

Im Anschluss an die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 27. Januar 2005 (– C-188/03 – (Junk] – EuGHE I 2005, 885) geht das Bundesarbeitsgericht nunmehr davon aus, dass “unter Entlassung” iSv. § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG der Ausspruch der Kündigung des Arbeitsverhältnisses zu verstehen ist (BAG 23. März 2006 – 2 AZR 343/05 – BAGE 117, 281 unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung; 24. August 2006 – 8 AZR 317/05 – AP KSchG § 1 Betriebsbedingte Kündigung Nr. 152 = EzA BGB 2002 § 613a Nr. 60; 21. September 2006 – 2 AZR 801/05 –; 1. Februar 2007 – 2 AZR 15/06 –; 13. Juli 2006 – 6 AZR 198/06 – AP KSchG 1969 § 17 Nr. 22 = EzA KSchG § 17 Nr. 17; 22. März 2007 – 6 AZR 499/05 –).

2. Der Wirksamkeit der Kündigung steht jedoch nicht entgegen, dass die Beklagte die Massenentlassung der Agentur für Arbeit erst nach Ausspruch der Kündigung im Juli 2004 angezeigt hatte. Selbst wenn eine verspätete Massenentlassungsanzeige grundsätzlich zur Unwirksamkeit einer vorher ausgesprochenen Kündigung führen würde, verbietet es im Entscheidungsfall der Grundsatz des Vertrauensschutzes, die Kündigung vom 18. Dezember 2003 deswegen als unwirksam zu qualifizieren. Der Senat hat die Grundsätze zur Gewährung von Vertrauensschutz im Urteil vom 23. März 2006 (– 2 AZR 343/05 – aaO), auf die im Einzelnen verwiesen wird, ausführlich dargestellt. Danach sind zusammenfassend folgende Aspekte maßgeblich:

a) Bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Junk vom 27. Januar 2005 (aaO) war nach ganz herrschender Auffassung in Rechtsprechung und im Schrifttum sowie der einschlägigen Verwaltungspraxis der Agenturen für Arbeit “unter Entlassung” iSd. § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG der tatsächliche Beendigungszeitpunkt zu verstehen. Der Senat hat diese Auffassung in seiner Entscheidung vom 18. September 2003 (– 2 AZR 79/02 – BAGE 107, 318) noch einmal umfassend bestätigt. Bei Ausspruch der Kündigung am 18. Dezember 2003 war eine Rechtsprechungsänderung des Bundesarbeitsgerichts im Zuge der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und einer richtlinienkonformen Auslegung der nationalen gesetzlichen Regelung nicht zu erwarten. Dies gilt umso mehr, als sich der Senat in der genannten Entscheidung vom 18. September 2003 auch inhaltlich eingehend mit der MERL auseinandergesetzt und eine richtlinienkonforme Auslegung der §§ 17 ff. KSchG – das Verständnis von “Entlassung” als “Kündigung” im Sinne der nachfolgend ergangenen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 27. Januar 2005 (– C-188/03 – EuGHE I 2005, 885) unterstellend – als nicht möglich angesehen hatte.

b) Diesen Umständen kommt bei der Prüfung, ob einem betroffenen Arbeitgeber Vertrauensschutz zu gewähren ist, ein erhebliches Gewicht zu (so auch zuletzt BAG 22. März 2007 – 6 AZR 499/05 –). Der Arbeitgeber, dem eine gesetzliche Handlungspflicht auferlegt wird, muss sich grundsätzlich auf eine höchstrichterliche Rechtsprechung und Verwaltungspraxis zu den von ihm geforderten Verhaltensweisen verlassen und sein Verhalten daran ausrichten können.

c) Soweit die Auffassung vertreten wird, der Beklagten sei kein Vertrauensschutz zu gewähren, weil bereits zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung – insbesondere auf Grund des Vorlagebeschlusses des Arbeitsgerichts Berlin vom 30. April 2003 (– 36 Ca 19726/02 – ZIP 2003, 1265) – nicht ausgeschlossen gewesen sei, dass der Europäische Gerichtshof den Begriff der “Entlassung” anders interpretieren könnte, wird nicht hinreichend berücksichtigt, dass der Senat noch in der Entscheidung vom 18. September 2003 (– 2 AZR 79/02 –) sich mit dem europarechtlichen Vorgaben auseinandergesetzt und eine richtlinienkonforme Auslegung, wie sie nun vom Europäischen Gerichtshof zur MERL vertreten wird, verneint hatte.

d) Da das Arbeitsverhältnis der Klägerin mit Schreiben vom 15. Dezember 2003 und mithin weit vor der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 27. Januar 2005 gekündigt worden ist, konnte die Beklagte auf die Rechtslage vertrauen, wie sie sich damals nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und der geltenden Verwaltungspraxis darstellte.

3. Dem Senat ist eine Entscheidung über den Vertrauensschutz auch nicht “entzogen”. Insbesondere bedarf es insoweit keiner Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 234 EG (aA Schieck AuR 2006, 41, 43 f.).

a) Im Entscheidungsfall geht es nicht um die Gewährung von Vertrauensschutz hinsichtlich der Auslegung europäischen Rechts, sondern um Vertrauensschutz bei der Anwendung und Auslegung nationalen Rechts durch die nationale höchstrichterliche Rechtsprechung (BAG 23. März 2006 – 2 AZR 343/05 – BAGE 117, 281; 13. Juli 2006 – 6 AZR 198/06 – AP KSchG 1969 § 17 Nr. 22 = EzA KSchG § 17 Nr. 17; 22. März 2007 – 6 AZR 499/05 –). Der Senat hat lediglich seine eigene Rechtsprechung und die Auslegung der nationalen Regelungen des § 17 Abs. 1 Satz 2 KSchG an das Gemeinschaftsrecht angepasst. Er hat kein Gemeinschaftsrecht ausgelegt, sondern das nationale Kündigungsschutzrecht “richtlinienkonform” angewendet, indem er den Begriff “Entlassung” in § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG zukünftig im Sinne der vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Auslegung der MERL verstanden wissen will. Damit handelt es sich um eine Frage der nationalen Rechtsanwendung (BAG 23. März 2006 – 2 AZR 343/05 – aaO; vgl. Canaris FS für Bydlinski S. 47, 64; Piekenbrock ZZP 2006, 3, 30).

b) Das nationale Recht ist – wenn es möglich ist – richtlinienkonform auszulegen. Ob eine solche richtlinienkonforme Auslegung möglich ist, entscheiden die nationalen Gerichte nach nationalem Recht (EuGH 5. Oktober 2004 – C-397/01 bis C-403/01 – [Pfeiffer ua.] EuGHE I 2004, 8835). Die richtlinienkonforme Auslegung wird durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere den Grundsatz der Rechtssicherheit begrenzt (EuGH 4. Juli 2006 – C-212/04 – [Adeneler] AP Richtlinie 99/70 EG Nr. 1 = EzA Richtlinie 99/70 EG-Vertrag 1999 Nr. 1).

Hierbei ist der aus Art. 20 Abs. 3 GG iVm. dem jeweiligen Individualgrundrecht (insbesondere Art. 12 Abs. 1 GG) folgende Vertrauensschutz zu berücksichtigen (BAG 22. März 2007 – 6 AZR 499/05 –; Kokott RdA 2006 Sonderbeilage zu Heft 6 Seite 30, 37). Dementsprechend konnte das Bundesarbeitsgericht, das durch seine Rechtsprechung, insbesondere durch die letzte Entscheidung vom 18. September 2003 (– 2 AZR 79/02 – BAGE 107, 318) einen Vertrauenstatbestand für die Handlungsabläufe und Verhaltenspflichten bei den Massenentlassungsanträgen geschaffen hatte, in dem die bisherige Rechtsprechung aufgebenden Urteil vom 23. März 2006 (– 2 AZR 343/05 – BAGE 117, 281) den beklagten Arbeitgebern einen Vertrauensschutz zubilligen und ihnen nicht nachträglich sanktionsbewährte Handlungspflichten auferlegen.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO.

 

Unterschriften

Rost, Schmitz-Scholemann, Eylert, Grimberg, Niebler

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1853646

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