Entscheidungsstichwort (Thema)

Begriff der Frühgeburt im Sinne von § 6 MuSchG

 

Leitsatz (redaktionell)

Wiegt das Kind bei der Geburt weniger als 2.500 Gramm, handelt es sich um eine Frühgeburt im Sinne von § 6 Abs 1 MuSchG. Auf die Dauer der Schwangerschaft kommt es nicht an.

 

Normenkette

RVO § 200 Abs. 1, 3; MuSchG § 14 Abs. 1, § 6 Abs. 1 Fassung: 1968-04-18

 

Verfahrensgang

LAG Düsseldorf (Urteil vom 27.03.1996; Aktenzeichen 2 Sa 1/96)

ArbG Duisburg (Entscheidung vom 03.11.1995; Aktenzeichen 1 Ca 2661/95)

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob die Klägerin nur für acht oder für zwölf Wochen nach der Entbindung ihres Kindes Anspruch auf einen Zuschuß zum Mutterschaftsgeld hat.

Die Klägerin ist bei der Beklagten als Steuerassistentin beschäftigt. Ihr Kind wurde am 4. Juni 1995 geboren. Es hatte ein Geburtsgewicht von 2.020 g; dies ergibt sich aus der "Ärztlichen Bescheinigung für die Gewährung von Mutterschaftsgeld bei Frühgeburten". Der Arzt der Klägerin hatte in der Schwangerschaftsbescheinigung vom 22. November 1994 als voraussichtlichen Geburtstermin den 8. Juni 1995 angegeben. Die Krankenkasse gewährte Mutterschaftsgeld für die Zeit bis zum 27. August 1995, also für zwölf Wochen nach der Entbindung. Die Beklagte zahlte den Zuschuß zum Mutterschaftsgeld nur für die Zeit bis zum 30. Juli 1995, also für acht Wochen nach der Entbindung.

Die Klägerin verlangt den Zuschuß zum Mutterschaftsgeld auch für die neunte bis zwölfte Woche nach der Entbindung in rechnerisch unstreitiger Höhe. Sie hat vorgetragen, es habe sich um eine Frühgeburt gehandelt, da ihr Kind weniger als 2.500 g gewogen habe. Im übrigen ergebe sich auch aus dem ärztlichen Entlassungsbericht vom 16. Juni 1995, daß bei ihrem Kind erhöhte Pflegebedürftigkeit bestanden habe.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie 1.856,38 DM

netto Mutterschaftsgeld zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, es habe sich nicht um eine Frühgeburt im medizinischen Sinne gehandelt, da das Kind nur vier Tage vor dem errechneten Geburtstermin geboren worden sei. Aus diesem Grunde sei es auch keine Frühgeburt im Sinne von § 6 Abs. 1 MuSchG gewesen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Die Berufung der Beklagten blieb erfolglos. Mit der Revision verfolgt sie ihren Klageabweisungsantrag weiter.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Die Vorinstanzen haben der Klägerin zu Recht den Zuschuß zum Mutterschaftsgeld für die Zeit von der neunten bis zwölften Woche nach der Entbindung zuerkannt. Es handelte sich um eine Frühgeburt im Sinne von § 6 Abs. 1 Satz 2 MuSchG.

I. Nach § 200 Abs. 1 RVO erhalten weibliche Mitglieder der Krankenkasse, "denen wegen der Schutzfristen nach § 3 Abs. 2 und § 6 Abs. 1 des Mutterschutzgesetzes kein Arbeitsentgelt gezahlt wird", Mutterschaftsgeld, wenn sie eine bestimmte Zeit vor der Entbindung Mitglieder waren oder in einem Arbeitsverhältnis standen. § 200 Abs. 3 RVO bestimmt, daß "das Mutterschaftsgeld ... für die letzten sechs Wochen vor der Entbindung, den Entbindungstag und für die ersten acht Wochen, bei Mehrlings- und Frühgeburten für die ersten zwölf Wochen nach der Entbindung gezahlt" wird.

Gem. § 14 Abs. 1 Satz 1 MuSchG erhalten "Frauen, die Anspruch auf Mutterschaftsgeld nach § 200 RVO ... haben, ... für die Zeit der Schutzfristen des § 3 Abs. 2 und § 6 Abs. 1 sowie für den Entbindungstag von ihrem Arbeitgeber einen Zuschuß in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen 25 Deutsche Mark und dem um die gesetzlichen Abzüge verminderten durchschnittlichen kalendertäglichen Arbeitsentgelt". Nach § 6 Abs. 1 Satz 2 MuSchG in der bis zum 31. Dezember 1996 gültigen Fassung (Gesetz zur Änderung des Mutterschutzrechts vom 20. Dezember 1996, BGBl. I, S. 2110) verlängert sich die Frist, in der Wöchnerinnen nicht beschäftigt werden dürfen, für Mütter nach Früh- und Mehrlingsgeburten auf zwölf Wochen.

II.1. Es gibt keine gesetzliche Definition des Begriffes der Frühgeburt, und zwar weder im MuSchG noch in der RVO.

Nach medizinischem Sprachgebrauch ist Frühgeburt eine Geburt vor dem Ende der 37. bzw. 38. Schwangerschaftswoche und "Früh- geborenes" ein Kind, das mit einem Gewicht von 2.500 g und weniger lebend geboren wird (Pschyrembel, 255. Aufl. 1986; Roche-Lexikon Medizin, u.J., Stichworte: Frühgeborenes, Frühgeburt). Der allgemeine Sprachgebrauch ist ähnlich: Danach ist Frühgeburt sowohl die Geburt eines noch nicht voll ausgetragenen lebensfähigen Kindes, als auch die Geburt eines lebensfähigen Kindes vor Ablauf der neun Monate (Brockhaus/Wahrig, 1981; Duden, 2. Aufl. 1993, Stichwort: Frühgeburt).

2. Nach in der sozialrechtlichen Literatur einhelliger Auffassung und in der arbeitsrechtlichen Literatur ganz herrschenden Meinung ist Frühgeburt eine Entbindung, bei der das Kind, bei Mehrlingsgeburten das schwerste der Kinder, ein Geburtsgewicht unter 2.500 g hat oder bei der das Kind trotz höheren Geburtsgewichtes wegen noch nicht voll ausgebildeter Reifezeichen oder wegen verfrühter Beendigung der Schwangerschaft einer wesentlich erweiterten Pflege bedarf (vgl. aus der sozialrechtlichen Literatur: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung Pflegeversicherung, 3. Aufl. Stand Juni 1996, § 200 RVO Rz 31; Geyer/Knorr/Krasney, Entgeltfortzahlung Krankengeld Mutterschaftsgeld, § 200 RVO Rz 64; Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht/Höfler, Stand 1. Oktober 1996, § 200 RVO Rz 43; Handbuch der Sozialversicherung/Nappert, Stand August 1996, 2. Teil-Leistungen der Krankenversicherung Kap. 5 - 15, 16; Peters, Handbuch der Krankenversicherung, Bd. 2, Stand 31. Januar 1988, § 195, S. 509; Sozialgesetzbuch Sozialversicherung Gesamtkommentar/Heinze, Bearbeitung 1987, § 200 RVO, S. 230; sowie ausführlich Töns/Woelk/Dalheimer, Mutterschaftshilfe und Mutterschutz, Stand März 1995, § 195 RVO, K 37 bis K 43; aus der arbeitsrechtlichen Literatur: Gröninger/Thomas, MuSchG, Stand Januar 1997, § 6 Rz 11; Zmarzlik/Zipperer/Viethen, MuSchG, 7. Aufl. 1994, § 6 Rz 8; MünchArbR/Heenen, § 219 Rz 37; HzA/Klempt, Stand Februar 1997, Gruppe 6, Rz 46; Meisel/Sowka, MuSchG und ErzU, 4. Aufl. 1995, § 6 Rz 4; wohl auch Bulla/Buchner, MuSchG, 5. Aufl. 1981, § 6 Rz 12; a.A. nur Heilmann, MuSchG, 2. Aufl. 1991, § 6 Rz 15 ff.).

Auch das Bundessozialgericht hat entschieden, daß bei einem Gewicht des Kindes von weniger als 2.500 g eine Frühgeburt im Sinne von § 200 RVO vorliegt (Urteil vom 15. Mai 1974 - 3 RK 16/73 - BSGE 37, 216, 217).

3. Der Begriff der Frühgeburt im Sinne von § 6 Abs. 1 Satz 2 MuSchG ist in demselben Sinne zu verstehen.

Die herrschende Meinung zum Begriff der Frühgeburt geht zurück auf einen Bescheid des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung vom 5. Mai 1962 (- III b 2/1490/62 - BArbBl. Arbeitsschutz 1962, 109 = DOK 1962, 337), der seinerseits auf einen Bescheid des damaligen Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz vom 4. Mai 1943 Bezug nimmt. Dieser lautete auszugsweise:

"Unter Frühgeburt im Sinne des Mutterschutzgeset-

zes (§ 3 Abs. 1 Satz 2 MuSchG 1942) ist eine Ent-

bindung zu verstehen, bei der das Kind, bei Mehr-

lingsgeburten das schwerste der Kinder, ein Ge-

burtsgewicht unter 2.500 g hat. Diesen Entbindun-

gen sind solche gleichzusetzen, bei denen das

Kind trotz höheren Geburtsgewichtes wegen noch

nicht voll ausgebildeter Reifezeichen (an Rumpf,

Haut, Fettpolster, Nägel, Haaren und äußeren Ge-

schlechtsorganen) oder wegen verfrühter Beendi-

gung der Schwangerschaft einer wesentlich erwei-

terten Pflege bedarf. Die Feststellung des Ge-

burtsgewichts und eines wesentlichen Mangels an

den Reifezeichen obliegt der Hebamme oder dem

Arzt; für die Feststellung wesentlich erweiterter

Pflegebedürftigkeit nur wegen verfrühter Beendi-

gung der Schwangerschaft und für sonstige Zwei-

felsfälle ist ein ärztliches Zeugnis erforderlich

und maßgebend."

Diese von der Regierung gegebene Definition des Begriffes "Frühgeburt" ist für die Gerichte zwar nicht verbindlich. Der Senat legt sie aber gleichwohl der Auslegung des § 6 Abs. 1 Satz 2 MuSchG zugrunde, weil es sich um eine sinnvolle, dem Gesetzeszweck entsprechende Konkretisierung des Begriffs "Frühgeburt" handelt, die in der Praxis weitestgehend anerkannt wird.

Nach § 200 RVO, § 14 MuSchG soll die Mutter innerhalb der Schutzfristen Mittel in der Höhe erhalten, wie sie zuvor netto verdient hat. Eine unterschiedliche Auslegung des Begriffes der Frühgeburt in der RVO einerseits und im MuSchG andererseits scheidet daher von vornherein aus.

Nach übereinstimmender Auffassung soll die verlängerte Schutzfrist in erster Linie der erhöhten Pflegebedürftigkeit des Kindes Rechnung tragen (so auch Bulla/Buchner, aaO, sowie Heilmann, aaO, Rz 15; ausführlich Töns, aaO, K 43). In aller Regel sind aber Kinder mit einem Geburtsgewicht von unter 2.500 g besonders pflegebedürftig. Das entspricht ganz allgemeiner Auffassung. So hat die Weltgesundheitsorganisation Frühgeburt ganz ähnlich definiert, nämlich als eine Geburt, bei der das Geburtsgewicht des lebenden Kindes 2.500 g oder weniger beträgt (mitgeteilt im Meyer-Lexikon und in der Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Aufl. 1989, Stichwort Frühgeburt).

Bei diesem Gesetzeszweck kann der Begriff der Frühgeburt im Sinne von § 6 Abs. 1 Satz 2 MuSchG - entgegen der Auffassung der Revision - nicht im Sinne einer Geburt vor Ende der 37. bzw. 38. Schwangerschaftswoche verstanden werden. Eine derartige Definition hätte zudem den Nachteil, weniger praktikabel zu sein, da die genaue Dauer der Schwangerschaft und damit der voraussichtliche Geburtstermin in der Regel nur näherungsweise bestimmt werden kann (vgl. BAG Urteil vom 12. Dezember 1985 - 2 AZR 82/85 - AP Nr. 15 zu § 9 MuSchG 1968, zu II 2 der Gründe).

Schliemann Bröhl Reinecke

Glaubitz Buschmann

 

Fundstellen

Haufe-Index 440019

BAGE 00, 00

BAGE, 248

BB 1997, 1538-1539 (Leitsatz 1 und Gründe)

DB 1997, 1337-1338 (Leitsatz 1 und Gründe)

NJW 1997, 2472

NJW 1997, 2472-2473 (Leitsatz 1 und Gründe)

BuW 1997, 600 (Kurzwiedergabe)

BuW 1997, 758-759 (Leitsatz und Gründe)

EBE/BAG 1997, 115-116 (Leitsatz 1 und Gründe)

EBE/BAG Beilage 1997, Ls 100/97 (Leitsatz 1)

FamRZ 1997, 1006 (Leitsatz)

ARST 1997, 198-199 (Leitsatz 1 und Gründe)

JR 1998, 132

NZA 1997, 764

NZA 1997, 764-765 (Leitsatz 1 und Gründe)

SAE 1998, 188

WzS 1997, 319 (Leitsatz)

ZTR 1997, 376 (Leitsatz 1)

AP § 6 MuSchG 1968 (Leitsatz 1 und Gründe), Nr 4

ArbuR 1997, 289 (red. Leitsatz 1)

AuA 1999, 41

ErsK 1997, 300 (Kurzwiedergabe)

EzA-SD 1997, Nr 12, 16 (Leitsatz 1)

MDR 1997, 748

MDR 1997, 748-749 (Leitsatz 1 und Gründe)

Streit 1998, 42

Streit 1998, 83

PflR 1998, 200

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