Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorläufiges ärztliches Beschäftigungsverbot

 

Leitsatz (amtlich)

Nimmt der Arbeitgeber oder die zuständige Stelle die gebotene fachkundige Überprüfung der Unbedenklichkeit des Arbeitsplatzes einer schwangeren Arbeitnehmerin nicht vor und bestehen aus ärztlicher Sicht ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür, daß vom Arbeitsplatz Gefahren für Leben oder Gesundheit von Mutter oder Kind ausgehen können, so darf der Arzt bis zu einer Klärung ausnahmsweise ein vorläufiges Beschäftigungsverbot aussprechen.

 

Normenkette

BGB §§ 273, 615; MuSchG § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1, § 11 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LAG Baden-Württemberg (Urteil vom 26.09.1997; Aktenzeichen 19 Sa 64/96)

ArbG Mannheim (Urteil vom 27.09.1996; Aktenzeichen 9 Ca 258/96)

 

Tenor

1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 26. September 1997 – 19 Sa 64/96 – wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über Vergütungsansprüche der Klägerin für die Zeit eines ärztlichen Beschäftigungsverbots.

Die Klägerin ist bei der beklagten Genossenschaft in deren Filiale H als Angestellte im Verkauf und an der Kasse beschäftigt. Ihr Bruttomonatsgehalt betrug zuletzt 2.500,00 DM.

In ihrer Filiale vertreibt die Beklagte landwirtschaftliche Erzeugnisse und Waren für den Haus- und Gartenbedarf. Dazu zählen neben Düngemitteln, Spänen, Tierfutter und anderem mehr auch Pflanzenschutzmittel. Bei letzteren handelt es sich teilweise um giftige, wenn auch nicht um hochgiftige Produkte. Sie wurden ursprünglich in Schränken aufbewahrt, die nicht rundum geschlossen waren und sich im Verkaufsraum in der Nähe der Kasse befanden. Außerdem wurden sie in Schränken und Regalen im Büro- und Aufenthaltsraum gelagert, der zugleich als Lager dient. Der Verkauf der Pflanzenschutzmittel, dem regelmäßig eine Beratung der Kunden voranging, gehörte zu den Aufgaben der Klägerin.

Ende Juni 1995 wurde bei der Klägerin eine Schwangerschaft festgestellt. Als Entbindungstermin wurde der 6. Februar 1996 errechnet. Davon unterrichtete die Klägerin den Filialleiter der Beklagten Mitte Juli 1995. Die entsprechende ärztliche Bescheinigung ist bei der Personalabteilung der Beklagten am 26. Juli 1995 eingegangen. Die Beklagte ihrerseits unterrichtete das Gewerbeaufsichtsamt über die Schwangerschaft der Klägerin mit Schreiben vom 7. August 1995. Auf dem dazu verwendeten Formular hatte sie die Frage, ob die werdende Mutter „Umgang mit sehr giftigen, giftigen, mindergiftigen … Gefahrstoffen” habe, durchgestrichen.

Bei ihrer Mitteilung an den Filialleiter äußerte die Klägerin die Befürchtung, daß von den Pflanzenschutzmitteln Ausdünstungen ausgingen, die eine Gefährdung für ihre und des ungeborenen Kindes Gesundheit darstellen könnten. Darüber führte sie in der Folgezeit mehrere Gespräche sowohl mit dem Filialleiter als auch mit dem Leiter der Vertriebsgruppe der Beklagten in He. Die Gespräche blieben ohne Folgen. Der Klägerin wurde stets versichert, für sie und ihr Kind gehe von den Pflanzenschutzmitteln keine Gefahr aus.

Bis Ende Juli 1995 arbeitete die Klägerin, ohne daß an ihrem Arbeitsplatz etwas geändert worden wäre. In der Zeit vom 31. Juli bis 25. August 1995 befand sie sich im Urlaub. Während ihrer Abwesenheit wurden die Pflanzenschutzmittel aus dem unmittelbaren Kassenbereich in einen etwa sechs Meter entfernten und verschließbaren Schrank umgeräumt. Überschüssige Ware wurde in das Hauptlager in He gebracht. Als die Klägerin am 28. August 1995 die Arbeit wieder aufnahm, wurde die neue Situation mit ihr besprochen und von ihr zunächst akzeptiert. In der Zeit vom 30. August bis 17. September 1995 war die Klägerin arbeitsunfähig erkrankt. Am 18. September 1995 übergab sie der Beklagten eine von diesem Tag stammende ärztliche Bescheinigung, in der es u.a. heißt:

„Bei (der) Patientin besteht Beschäftigungsverbot nach § 3 Mutterschutzgesetz bis zur Vorlage einer Bescheinigung des Gewerbeaufsichtsamtes über die Unbedenklichkeit des Arbeitsplatzes.

Begründung:

Es besteht der Verdacht, daß die Patientin während ihrer Arbeitszeit den Ausdünstungen von Pflanzenschutzmitteln ausgesetzt ist. Eine Gefährdung der Gesundheit von Mutter und Kind sind nicht auszuschließen.”

Am 28. September 1995 setzte sich die Beklagte mit dem Gewerbeaufsichtsamt in Verbindung. Am 6. Oktober 1995 nahm die zuständige Sachbearbeiterin den Arbeitsplatz der Klägerin in Augenschein. Im Hinblick auf die Beschäftigung Schwangerer war dieser oder ein vergleichbarer Arbeitsplatz in einer anderen Filiale der Beklagten noch zu keiner Zeit von fachkundiger Seite überprüft worden. Die Sachbearbeiterin des Gewerbeaufsichtsamtes und die Beklagte kamen überein, daß die Klägerin in Zukunft keinerlei Umgang mit Pflanzenschutzmitteln mehr haben solle. Sie solle die sanitären Einrichtungen einer benachbarten Firma benutzen, damit sie auch an dem Lager nicht mehr vorbeigehen müsse, in welchem Pflanzenschutzmittel weiterhin aufbewahrt wurden. Die Sachbearbeiterin erklärte den Arbeitsplatz daraufhin für unbedenklich. Die Klägerin wurde darüber am 17. Oktober 1995 von ihrem Arzt informiert, nachdem dieser vom Gewerbeaufsichtsamt von der Unbedenklichkeit erfahren hatte. Der Arzt hob das Beschäftigungsverbot mit sofortiger Wirkung auf. Am 18. Oktober 1995 trat die Klägerin ihre Arbeit wieder an. Für die Dauer des Verbots zahlte die Beklagte kein Gehalt.

Zur Begründung ihrer Zahlungsklage hat die Klägerin vorgetragen, sie habe in den Wochen vor dem Beschäftigungsverbot von den Gerüchen und Ausdünstungen der diversen Stoffe am Arbeitsplatz ständig Kopfschmerzen bekommen. Anfang September 1995 habe sie sich – dies ist nach der zweitinstanzlichen Beweisaufnahme unstreitig – selbst an das Gewerbeaufsichtsamt gewandt und gebeten, man möge insbesondere im Hinblick auf die Pflanzenschutzmittel prüfen, ob ihr Arbeitsplatz gesundheitlich unbedenklich sei. Man habe ihr mitgeteilt, daß bei solchen Zweifeln vom Arzt ein Beschäftigungsverbot auszusprechen sei und man anschließend eine Überprüfung vornehmen werde.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie 2.500,00 DM brutto zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, das ärztliche Beschäftigungsverbot sei unverbindlich gewesen. Der Arzt habe sich nicht nur auf die Angaben der Klägerin verlassen dürfen. Er hätte sich um eine Aufklärung der behaupteten Gefahr bemühen müssen. Im übrigen habe ein gesundheitliches Risiko für Mutter und Kind objektiv zu keiner Zeit bestanden. Die Pflanzenschutzmittel seien stets ordnungsgemäß gelagert gewesen und seien zudem völlig geruchlos.

Die Vorinstanzen haben der Klage nach Beweisaufnahme stattgegeben. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Klageabweisung weiter.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht der Klage stattgegeben. Der Klägerin steht für die Zeit vom 18. September bis zum 17. Oktober 1995 trotz Nichtarbeit ein Anspruch auf Weiterzahlung ihres Gehalts (Mutterschutzlohn) zu.

I. Rechtliche Grundlage der Klageforderung ist § 11 Abs. 1 MuSchG. Danach ist Arbeitnehmerinnen, die wegen eines Beschäftigungsverbots nach § 3 Abs. 1 MuSchG oder nach § 4 MuSchG mit der Arbeit aussetzen, ihre Vergütung in Höhe des Durchschnittsverdienstes der letzten drei Monate vor Beginn der Schwangerschaft weiterzugewähren.

Nach § 3 Abs. 1 MuSchG dürfen Schwangere nicht beschäftigt werden, soweit nach ärztlichem Zeugnis Leben oder Gesundheit von Mutter oder Kind bei Fortsetzung ihrer Tätigkeit gefährdet ist. Unabhängig von einem ärztlichen Zeugnis dürfen Schwangere gemäß § 4 Abs. 1 MuSchG nicht mit solchen Arbeiten beschäftigt werden, bei denen sie schädlichen Einwirkungen von gesundheitsgefährdenden Stoffen ausgesetzt sind.

II. Das Landesarbeitsgericht hat den Klageanspruch nicht nach § 11 Abs. 1 MuSchG, sondern nach § 615 BGB bejaht. Das vom behandelnden Arzt ausgesprochene Beschäftigungsverbot sei kein solches nach § 3 Abs. 1 MuSchG. Dazu sei erforderlich, daß der betreffende Arzt eine gesundheitliche Gefährdung der Schwangeren aus medizinischer Sicht tatsächlich feststelle. Es reiche nicht aus, daß er nur den Verdacht einer Gesundheitsgefährdung annehme, weil nicht feststehe, ob der Arbeitgeber die Einschränkungen des § 4 MuSchG beachte. Der die Klägerin behandelnde Arzt habe nach seinen eigenen Bekundungen das Beschäftigungsverbot nicht wegen einer zu befürchtenden konkreten Gesundheitsgefährdung ausgesprochen, sondern deshalb, weil der Arbeitsplatz der Klägerin nicht überprüft worden sei und diese deshalb Ängste geäußert habe. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, damit seien nicht medizinische Überlegungen ausschlaggebend gewesen, sondern der Gedanke, der Arbeitsplatz der Klägerin sei für ihre Beschäftigung als Schwangere ungeeignet, falls sie dort den Ausdünstungen giftiger Pflanzenschutzmittel ausgesetzt sei. Der Klageanspruch lasse sich deshalb nicht auf § 11 Abs. 1 MuSchG stützen. Stattdessen folge er aus § 615 BGB in Verbindung mit § 273 BGB. Die Klägerin habe ihre Arbeit bis zu einer Überprüfung ihres Arbeitsplatzes durch das Gewerbeaufsichtsamt verweigern dürfen, ohne ihre Vergütungsansprüche zu verlieren.

III. Dieser Rechtsauffassung des Berufungsgerichts folgt der Senat nicht. Die Entscheidung stellt sich jedoch im Ergebnis als richtig dar (§ 563 ZPO). Für die Klägerin galt ein mutterschutzrechtliches Beschäftigungsverbot. Ob sie ihre Arbeit unabhängig davon aufgrund eines Zurückbehaltungsrechts nach § 273 BGB verweigern durfte, braucht nicht entschieden zu werden.

1. Nach § 4 MuSchG besteht ein generelles Verbot, Schwangere mit den im Gesetz genannten Tätigkeiten zu beschäftigen. Auf den individuellen Gesundheitszustand der werdenden Mutter kommt es nicht an.

a) § 4 Abs. 1 MuSchG stellt eine Generalklausel dar, die in Absatz 2 durch eine Aufzählung einzelner verbotener Tätigkeiten beispielhaft ergänzt wird (Gröninger/Thomas, Mutterschutzgesetz, Stand April 1998, MuSchG § 4 Rz 5, 9, m.w.N.). Weitere Konkretisierungen und zudem eine Erweiterung verbotener Tätigkeiten enthalten die auf der Grundlage des § 4 Abs. 4 MuSchG erlassenen Rechtsverordnungen, darunter Bestimmungen der Gefahrstoff-Verordnung vom 26. Januar 1993. Die in § 4 MuSchG oder auf seiner Grundlage ergangenen Verbote gelten unmittelbar kraft Gesetzes und sind unverzichtbar (Buchner/Becker, Mutterschutzgesetz und Bundeserziehungsgeldgesetz, 6. Aufl. 1998, § 4 Rz 6). Voraussetzung ist, daß die aufgeführten Verbotstatbestände objektiv vorliegen. Dies zu überprüfen, ist in erster Linie mutterschutzrechtliche Pflicht des Arbeitgebers. Daneben kann gemäß § 4 Abs. 5 MuSchG in Einzelfällen auch die Aufsichtsbehörde eine verbindliche Feststellung treffen. Sie wird tätig von Amts wegen – etwa aufgrund einer Mitteilung nach § 5 Abs. 1 Satz 3 MuSchG – oder auf Ersuchen des Arbeitgebers, einer Belegschaftsvertretung oder der betroffenen Frau selbst.

b) Im Streitfall steht nicht fest, ob in der fraglichen Zeit vom 18. September 1995 bis zur Überprüfung des Arbeitsplatzes der Klägerin am 6. Oktober 1995 ein Beschäftigungsverbot nach § 4 Abs. 1 MuSchG bestanden hat. Zwar handelt es sich bei den Pflanzenschutzmitteln, die die Klägerin zu verkaufen hatte, nach dem unstreitigen Parteivorbringen um „giftige” Stoffe im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 7 der Gefahrstoff-Verordnung. Damit sind sie „gesundheitsgefährdende” Stoffe nach § 4 Abs. 1 MuSchG. Nicht geklärt ist aber, ob die Klägerin „schädlichen Einwirkungen” der Pflanzenschutzmittel an ihrem Arbeitsplatz auch „ausgesetzt” war. Zu Beginn des von der Klage erfaßten Zeitraums hatte die Beklagte die Schränke, in denen die Mittel im Verkaufsraum aufbewahrt werden, aus dem unmittelbaren Arbeitsbereich der Klägerin an der Kasse bereits rund sechs Meter weit entfernt. Die Klägerin mußte auch keine Beratungsgespräche mit Kunden mehr durchführen, bei denen sie die Schränke zu öffnen und die verpackten Mittel ggf. herauszunehmen hatte. Die Klägerin mußte allerdings weiterhin auch für Pflanzenschutzmittel kassieren. An der Kasse war deshalb nach wie vor ein enger – wenn auch nach aller Erfahrung um diese Jahreszeit nicht allzu häufiger – Kontakt mit den Stoffen gegeben, zumindest jederzeit möglich. Die Aussagen der vom Landesarbeitsgericht vernommenen Zeugin K lassen den Schluß zu, daß ein solcher Kontakt jedenfalls für Schwangere nur unter der Voraussetzung unschädlich ist, daß die Verpackungen ordnungsgemäß und unversehrt sind. Ob dies der Fall war, haben die Beklagte und die Zeugin nicht im einzelnen geprüft. Beide haben sich stattdessen darauf verständigt, daß die Klägerin von nun an überhaupt nicht mehr – auch an der Kasse nicht – mit Pflanzenschutzmitteln zu tun haben sollte. Weitergehende Feststellungen haben die Vorinstanzen nicht getroffen. Ob ein Beschäftigungsverbot für die Klägerin nach § 4 Abs. 1 MuSchG bestand, ist darum ungewiß.

2. Für ein Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs. 1 MuSchG kommt es nicht darauf an, ob vom Arbeitsplatz als solchem Gefahren für die Schwangere ausgehen und für jede andere Schwangere auch bestünden. Maßgeblich ist hier allein der individuelle Gesundheitszustand der am konkreten, möglicherweise gänzlich ungefährlichen Arbeitsplatz beschäftigten Arbeitnehmerin. Es genügt, daß die Fortsetzung der Arbeit auf diesem Arbeitsplatz die Gesundheit von Mutter oder Kind gefährdet. Es ist unerheblich, auf welcher genauen Ursache die Gefährdung beruht (Senatsurteile vom 12. März 1997 – 5 AZR 766/95 – und 1. Oktober 1997 – 5 AZR 685/96 – AP Nr. 10, 11 zu § 3 MuSchG 1968, m.w.N.; Buchner/Becker, aaO, § 3 Rz 9, § 4 Rz 5). Das individuelle Beschäftigungsverbot des § 3 Abs. 1 MuSchG greift dabei erst ein, wenn der Arzt es im Einzelfall mündlich oder schriftlich ausgesprochen hat. Das objektive Vorliegen einer Gefährdung allein genügt nicht. Das ärztliche Zeugnis ist deshalb für das Beschäftigungsverbot konstitutiv (Schliemann/König, NZA 1998, 1030 [1032], m.w.N.).

a) Das Beschäftigungsverbot wirkt sich aus auf die Leistungspflicht der Arbeitnehmerin und auf die Gegenleistungspflicht des Arbeitgebers.

aa) Die Pflicht der Arbeitnehmerin zur Arbeitsleistung wird durch das Verbot nach § 3 Abs. 1 MuSchG suspendiert. Der Arbeitgeber hat das in einem ärztlichen Zeugnis ausgesprochene Verbot mit seinem jeweiligen Inhalt zwingend zu beachten, unabhängig von seiner Richtigkeit. Der Arbeitgeber darf die Arbeitnehmerin nicht mehr verbotswidrig einsetzen. Er kann nicht seine Beurteilung an die Stelle des Arztes setzen (Zmarzlik/Zipperer/Viethen, Mutterschutzgesetz, Mutterschaftsleistungen, Bundeserziehungsgeldgesetz, 7. Aufl., MuSchG § 3 Rz 10 f.). Falls er die Arbeitnehmerin gleichwohl zur Arbeitsleistung auffordert, steht dieser ein Leistungsverweigerungsrecht zu (Buchner/Becker, aaO, vor §§ 3 bis 8 Rz 26).

bb) Ein Beschäftigungsverbot bestimmt nach Maßgabe des § 11 MuSchG zugleich über die Vergütungspflicht des Arbeitgebers. Ein Anspruch auf Mutterschutzlohn nach § 11 Abs. 1 Satz 1 MuSchG besteht, wenn allein das mutterschutzrechtliche Beschäftigungsverbot dazu führt, daß die Schwangere mit der Arbeit aussetzt. Dazu muß ein Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs. 1 MuSchG wirksam ausgesprochen worden sein. Es reicht ein mündlicher Ausspruch. Einer schriftlichen Bescheinigung nach § 3 Abs. 1 MuSchG – wurde sie tatsächlich erteilt – kommt jedoch ein hoher Beweiswert zu. Die Schwangere genügt ihrer Darlegungslast nach § 11 Abs. 1 MuSchG zunächst durch deren Vorlage. Will der Arbeitgeber die Bescheinigung nicht gegen sich gelten lassen, hat er seinerseits Umstände darzutun und ggf. zu beweisen, die zu ernsthaften Zweifeln an den Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 MuSchG Anlaß geben (Senatsurteil vom 1. Oktober 1997, aaO).

b) Im Streitfall hat der die Klägerin behandelnde Arzt den Grund für das ausgesprochene Beschäftigungsverbot in seiner schriftlichen Bescheinigung vom 18. September 1995 offengelegt. Er hielt es für möglich, daß die Klägerin den Ausdünstungen von Pflanzenschutzmitteln ausgesetzt sei. Eine Gefährdung der Gesundheit von Mutter und Kind sei deshalb nicht auszuschließen. Bei seiner Vernehmung vor dem Landesarbeitsgericht hat der Arzt ausdrücklich bekundet, daß er das Beschäftigungsverbot nicht deshalb ausgesprochen habe, weil die Gesundheit der Klägerin oder ihres Kindes schon durch die von ihr geäußerten Ängste vor den möglichen Gefahren objektiv gefährdet gewesen sei. Auch habe er nicht angenommen, daß die zeitlich zurückliegenden Schwangerschaftsbeschwerden – etwa die von der Klägerin beklagten Kopfschmerzen – durch Gerüche und Ausdünstungen der Pflanzenschutzmittel verursacht worden seien. Er habe die Beschäftigung der Klägerin verboten, weil deren Ängste fortbestanden hätten und er sich nicht sicher gewesen sei, ob der Arbeitsplatz der Klägerin für die Beschäftigung Schwangerer geeignet gewesen sei.

Das Beschäftigungsverbot beruhte folglich nicht auf einer bestimmten individuellen Konstitution der Klägerin, aufgrund derer bei Fortdauer der Beschäftigung die Gesundheit von Mutter oder Kind gefährdet war. Maßgeblich war vielmehr die potentielle Gefährlichkeit des Arbeitsplatzes selbst, d.h. die nicht auszuschließende Möglichkeit, daß ein Beschäftigungsverbot nach § 4 Abs. 1 MuSchG bestehen könnte. Folgerichtig hat der Arzt das Verbot zeitlich bis zu einer Feststellung der Unbedenklichkeit durch die Aufsichtsbehörde begrenzt.

c) Das ärztliche Verbot vom 18. September 1995 stellt sich damit als ein vorläufiges Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs. 1 MuSchG bis zur Klärung der Voraussetzungen eines Beschäftigungsverbots nach § 4 Abs. 1 MuSchG dar. Ein solches vorläufiges ärztliches Verbot kann im Einzelfall wirksam sein. Dies ergibt die Auslegung des § 3 Abs. 1 MuSchG.

aa) Nach ihrem Wortlaut verlangt die Vorschrift allerdings, daß Leben oder Gesundheit von werdender Mutter oder Kind bei Fortdauer der Beschäftigung gefährdet „ist”. Das setzt grundsätzlich voraus, daß eine Schwangerschaft besteht und eine damit im Zusammenhang stehende Gesundheitsgefährdung objektiv gegeben ist. Das war hier bezüglich der Gesundheitsgefährdung nicht gewiß. Zwar liegt eine Gefährdung objektiv schon dann vor, wenn eine gewisse Wahrscheinlichkeit für gesundheitliche Nachteile besteht, ohne daß sicher sein müßte, daß Schäden tatsächlich eintreten (Geyer/Knorr/Krasney, Entgeltfortzahlung, Krankengeld, Mutterschaftsgeld, Stand April 1998, MuSchG § 11 Rz 49; Meisel/Sowka, Mutterschutz und Erziehungsurlaub, 4. Aufl., MuSchG § 3 Rz 8). Hier war ein Schadenseintritt aber nicht einmal hinreichend wahrscheinlich, er war nur nicht auszuschließen.

bb) Sinn und Zweck der mutterschutzrechtlichen Beschäftigungsverbote verlangen indessen eine Anwendung des § 3 Abs. 1 MuSchG auch auf Fälle wie den vorliegenden. Danach darf der Arzt einen Gefährdungstatbestand unter engen Voraussetzungen auch dann annehmen, wenn eine entsprechende Gefährdung von Mutter und Kind jedenfalls möglich ist.

(1) Dies scheidet nicht deshalb aus, weil gerade dann möglicherweise ein Beschäftigungsverbot nach § 4 Abs. 1 MuSchG besteht. Die Voraussetzungen des § 4 MuSchG und der Tatbestand von § 3 Abs. 1 MuSchG können zugleich erfüllt sein. Liegt ein Fall des Beschäftigungsverbots nach § 4 MuSchG vor, besteht immer auch eine Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit von Mutter oder Kind im Sinne des § 3 Abs. 1 MuSchG. Sind die Voraussetzungen des § 4 MuSchG gegeben, geht diese speziellere Vorschrift zwar vor. Solange sich ihr ein bestimmter Fall aber nicht mit Gewißheit zuordnen läßt, kann er gleichwohl unter § 3 Abs. 1 MuSchG zu subsumieren sein (zutreffend Töns, Mutterschaftshilfe und Mutterschutz, Stand 1997, MuSchG §§ 3 bis 8 Anm. 5, § 3 Anm. 1 a, 1 b, 3 b).

Nach anderer Auffassung sind die Vorschriften klar gegeneinander abgegrenzt. Dem Arzt sei es darum verwehrt, ein Verbot nach § 3 Abs. 1 MuSchG auszusprechen, wenn gleichzeitig Hinweise auf einen Fall des § 4 Abs. 1 MuSchG vorlägen. Er habe vielmehr zu prüfen, ob dessen Voraussetzungen tatsächlich gegeben seien oder nicht (Schliemann/König, aaO, S. 1031). Diese Ansicht überzeugt nicht. Es ist nicht Aufgabe des Arztes, das Vorliegen der Voraussetzungen für ein Beschäftigungsverbot nach § 4 MuSchG zu prüfen. Ergeben sich für ihn aus der – zutreffenden – Schilderung der Arbeitnehmerin objektive Gesundheitsgefährdungen, darf er ein Verbot nach § 3 Abs. 1 MuSchG auch dann aussprechen, wenn möglicherweise zugleich ein Fall des § 4 MuSchG vorliegt (so auch Töns, aaO, MuSchG § 3 Anm. 3 b).

(2) Was die Schwangerschaft als Tatbestandsmerkmal des § 3 Abs. 1 MuSchG betrifft, so ist es für ein ärztliches Beschäftigungsverbot anerkanntermaßen nicht erforderlich, daß diese mit Sicherheit besteht. Zum Schutz der Arbeitnehmerin genügt ein Grad an Wahrscheinlichkeit, der vernünftige Zweifel ausschließt (Gröninger/ Thomas, aaO, MuSchG § 3 Rz 23; Zmarzlik/Zipperer/ Viethen, aaO, MuSchG § 3 Rz 2; Geyer/Knorr/Krasney, aaO, § 11 Rz 48). Gegebenenfalls hat der Arzt ein vorläufiges Attest auszustellen und ein vorläufiges Beschäftigungsverbot auszusprechen (Buchner/Becker, aaO, § 3 Rz 6; Meisel/Sowka, aaO, MuSchG § 3 Rz 6).

(3) Vergleichbares muß bei einem Sachverhalt wie im Streitfall auch für das Tatbestandsmerkmal der Gesundheitsgefährdung gelten. Hier bestanden für eine Gefährdung der Klägerin oder ihres Kindes bei Fortdauer der Beschäftigung aus ärztlicher Sicht ernstzunehmende Anhaltspunkte. Von seiten der Beklagten stand dabei eine fachkundige Klärung der Gefährlichkeit der Pflanzenschutzmittel nicht mehr zu erwarten. Sie hatte trotz von der Klägerin mehrfach geäußerter Befürchtungen um ihre Gesundheit deren – verständliche – Ängste nicht hinreichend ernstgenommen und den Arbeitsplatz nicht überprüfen lassen. Die Aufsichtsbehörde war trotz Schilderung des Arbeitsplatzes durch die Klägerin auch nicht von sich aus tätig geworden. Dazu war sie nach den Bekundungen der Zeugin K deshalb bewogen worden, weil die Klägerin Unannehmlichkeiten befürchtete, wenn bekannt würde, daß sie eine Untersuchung angeregt habe. Für die vorangegangene Untätigkeit war außerdem der Umstand von Bedeutung, daß die Beklagte die Frage, ob die Klägerin Umgang mit giftigen Stoffen habe, bei ihrer Meldung nach § 5 Abs. 1 Satz 3 MuSchG verneint hatte.

Der die Klägerin behandelnde Arzt konnte deshalb nicht davon ausgehen, daß der Arbeitsplatz der Klägerin in einer vertretbaren Frist ohnehin überprüft würde. Ist aber aus ärztlicher Sicht die Gefährdung von werdender Mutter oder Kind am Arbeitsplatz durchaus möglich und ist eine baldige fachkundige Überprüfung der Unbedenklichkeit nicht zu erwarten, so darf der Arzt handeln und bis zu einer solchen Klärung ein vorläufiges Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs. 1 MuSchG aussprechen. Andernfalls würden Sinn und Zweck der mutterschutzrechtlichen Beschäftigungsverbote verfehlt. Diese wollen die werdende Mutter vor jedem Gesundheitsrisiko bewahren, das mit einer Fortsetzung ihrer vertraglich geschuldeten Tätigkeit verbunden ist (vgl. Meisel/Sowka, aaO, MuSchG § 3 Rz 6; Töns, aaO, MuSchG §§ 3 bis 8 Anm. 2 c). Ein vorläufiges ärztliches Beschäftigungsverbot, das sich darauf stützt, daß wegen Fehlens der gebotenen Überprüfung des Arbeitsplatzes eine Gesundheitsgefährdung nicht auszuschließen sei, ist deshalb wirksam. Es hebt nicht nur die Leistungspflicht der werdenden Mutter auf, sondern läßt nach § 11 Abs. 1 MuSchG auch die Pflicht des Arbeitgebers zur Gegenleistung bestehen.

3. Der Klägerin steht die Klageforderung in vollem Umfange zu. Ihr Arzt hat das Beschäftigungsverbot erst am 17. Oktober 1995 aufgehoben. Zwar waren die Arbeitsbedingungen schon am 6. Oktober 1995 für unbedenklich erklärt worden. Es wurden darüber jedoch weder der Arzt noch die Klägerin selbst vor dem 17. Oktober 1995 unterrichtet.

 

Unterschriften

Reinecke, Kreft, Reinecke, Winterfeld, Mandrossa

 

Veröffentlichung

Veröffentlicht am 11.11.1998 durch Clobes, Amtsinspektor als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle

 

Fundstellen

Haufe-Index 436140

BAGE, 125

DB 1999, 1270

NWB 1999, 2351

FamRZ 1999, 1348

ARST 1999, 203

FA 1999, 234

NZA 1999, 763

RdA 1999, 359

RdA 2000, 305

SAE 2000, 27

ZTR 1999, 379

AP, 0

MDR 1999, 1004

PersR 1999, 329

GV/RP 2000, 78

RdW 1999, 567

FuBW 1999, 828

FuHe 2000, 119

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