Entscheidungsstichwort (Thema)

Gehaltsfortzahlung bei Alkoholabhängigkeit. Rückfall

 

Leitsatz (amtlich)

Hat der an Alkoholabhängigkeit (Alkoholismus) erkrankte Arbeitnehmer sich einer stationären Entziehungskur unterzogen, ist er dabei über die Gefahren des Alkohols für sich aufgeklärt worden und ist es ihm anschließend gelungen, für längere Zeit (mehrere Monate) abstinent zu bleiben, dann kann ein schuldhaftes Verhalten im Sinne des Entgeltfortzahlungsrechts vorliegen, wenn der Arbeitnehmer sich wiederum dem Alkohol zuwendet und dadurch erneut arbeitsunfähig krank wird (Fortsetzung von BAG Urteil vom 1.6.1983 5 AZR 536/80 = BAGE 43, 54 = AP Nr 52 zu § 1 LohnFG).

 

Normenkette

BAT § 37 Abs. 1, § 47 Abs. 2, § 50 Abs. 1; BGB § 616 Abs. 1 S. 1; GewO § 133a S. 1; HGB § 63 Abs. 1 S. 1; LFZG § 1 Abs. 1 S. 1; RVO § 182 Abs. 10; SGB X § 115 Abs. 1; ZPO § 286

 

Verfahrensgang

LAG Schleswig-Holstein (Entscheidung vom 20.08.1986; Aktenzeichen 6 (3) Sa 680/85)

ArbG Kiel (Entscheidung vom 30.10.1985; Aktenzeichen 4a Ca 161/85)

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte der Klägerin aus übergegangenem Recht (§ 182 Abs. 10 RVO in Verbindung mit § 115 Abs. 1 SGB X) Gehaltsfortzahlung (Urlaubsvergütung für Sonderurlaub gemäß § 50 Abs. 1, § 47 Abs. 2 BAT) schuldet.

Bei der Beklagten ist seit dem 12. Mai 1960 R K (im folgenden kurz: der Versicherte) als Arbeitnehmer beschäftigt. Anfangs war dieser als Elektriker, in den letzten Jahren als Einziehungsbeauftragter tätig. Auf das Arbeitsverhältnis ist der Bundes-Angestelltentarifvertrag (BAT) anzuwenden. Der Versicherte hielt sich in der Zeit vom 23. Juni bis zum 22. Dezember 1983 in einer Fachklinik in Bremen zur Durchführung einer Entwöhnungsbehandlung wegen Alkoholabhängigkeit auf. Da die Beklagte ihm die Gehaltsfortzahlung verweigerte, gewährte ihm die Klägerin ab 23. Juni 1983 für die Dauer von sechs Wochen ein Übergangsgeld in Höhe von 2.344,48 DM. Wegen dieses Betrages nimmt die Klägerin die Beklagte in Anspruch.

Der Versicherte war vom 21. September bis zum 15. November 1982 bereits einmal wegen einer seit etwa 1981 bestehenden Alkoholabhängigkeit arbeitsunfähig krank. In der Zeit vom 7. bis zum 27. Oktober 1982 unterzog er sich deswegen einer Entziehungs- und Entgiftungsbehandlung in der Landesklinik Kiel-E. Nachdem es ihm gelungen war, fünf Monate lang danach abstinent zu bleiben, wandte sich der Versicherte im März 1983 wieder dem Alkoholkonsum zu. Dieser Rückfall war Anlaß für die Durchführung der Entwöhnungsbehandlung in B.

Die Klägerin hat vorgetragen, den Versicherten treffe kein Verschulden an seiner Erkrankung. Als Mitglied eines Spielmannszuges und eines Sportvereins sowie später auch der freiwilligen Feuerwehr habe der Versicherte in steigendem Maße Alkohol genossen. Später seien Eheprobleme und Konflikte mit einem Sohn hinzugekommen. Auch im Beruf habe er Schwierigkeiten gehabt. Zunächst sei er bei der Beklagten als Elektriker tätig gewesen, später sei er als Eintreibungsbeauftragter eingesetzt worden mit der Aufgabe, überfällige Stromrechnungen bei den Abnehmern einzuziehen. Diese Tätigkeit habe für ihn viele Konflikte mit sich gebracht. Alle diese Umstände hätten den Versicherten dazu veranlaßt, zum Alkohol zu greifen. Auch nach der ersten Entziehungskur hätten seine früheren Probleme weiterbestanden. Für den Rückfall im Jahre 1983 sei von Bedeutung gewesen, daß der Versicherte geglaubt habe, er könne den mit der Entziehungskur verbundenen Erwartungen nicht gerecht werden; daneben habe er befürchtet, wegen seiner Alkoholabhängigkeit den Arbeitsplatz zu verlieren.

Demgemäß hat die Klägerin beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an sie 2.344,38 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 1. Februar 1985 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat geltend gemacht, der Versicherte habe den Klinikaufenthalt in Bremen durch Alkoholmißbrauch selbst verschuldet. Es entspreche durchschnittlichem Verhalten, wenn sich ein junger Mann einer Gemeinschaft, etwa einem Sportverein oder der freiwilligen Feuerwehr, anschließe und sich in einer solchen Gemeinschaft behaupten müsse. Die angeblichen sonstigen Probleme des Versicherten seien nicht hinreichend dargelegt. Vor allem habe der Versicherte nach seiner ersten Entziehungskur genau gewußt, daß er keinen Alkohol mehr zu sich nehmen dürfe. Wenn er sich trotzdem wieder dem Trinken zugewandt habe, liege darin ein grobes Verschulden, so daß sie, die Beklagte, berechtigt sei, die Gehaltsfortzahlung zu verweigern.

Die Klägerin hat dem Versicherten den Streit verkündet und ihn aufgefordert, dem Verfahren auf ihrer Seite beizutreten. Der Versicherte hat die Streitverkündung jedoch unbeachtet gelassen. Er hat es gegenüber der Klägerin weiter abgelehnt, die behandelnden Ärzte von ihrer Schweigepflicht zu entbinden. Er hat dies damit begründet, seine Vergangenheit solle nicht immer wieder neu aufgerollt werden, vielmehr wolle er diese vergessen und seine Ruhe haben.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landesarbeitsgericht die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung verurteilt. Dagegen richtet sich die Revision, mit der die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils erstrebt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Dem Versicherten stand für die Zeit vom 23. Juni bis zum 3. August 1983 kein Anspruch auf Vergütungszahlung gegen die Beklagte zu. Ein solcher Anspruch konnte daher auch nicht gemäß § 182 Abs. 10 RVO (gültig bis zum 30. Juni 1983) und § 115 Abs. 1 SGB X auf die Klägerin übergehen.

I.1. Zutreffend hat das Landesarbeitsgericht angenommen, der Anspruch des Angestellten auf Zahlung der Urlaubsvergütung (§ 47 Abs. 2 BAT) bei Sonderurlaub zur Durchführung einer Entziehungskur (§ 50 Abs. 1 BAT) sei an der Grundsatzbestimmung des § 37 Abs. 1 BAT zu messen, wonach der Angestellte im Falle einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit Krankenbezüge verlangen kann, es sei denn, er habe sich die Krankheit vorsätzlich oder grob fahrlässig zugezogen. Ein Angestellter, der sich im Sonderurlaub einer Entwöhnungskur wegen Alkoholabhängigkeit unterzieht, kann nicht verlangen, während dieser Zeit bessergestellt zu werden als ein Angestellter, der wegen der gleichen Ursache ohne Kurbehandlung arbeitsunfähig krank ist.

Grob fahrlässig im Sinne des § 37 Abs. 1 BAT handelt – wie in den Fällen der vom Gesetz angeordneten Entgeltfortzahlung des § 616 Abs. 1 Satz 1 BGB, § 63 Abs. 1 Satz 1 HGB, § 133 c Satz 1 GewO oder des § 1 Abs. 1 Satz 1 LohnFG – der Arbeitnehmer, der in erheblichem Maße gegen die von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhaltensweise verstößt (vgl. nur BAGE 43, 54, 58 = AP Nr. 52 zu § 1 LohnFG, zu I 3 a der Gründe; Böhm/Spiertz/Sponer/Steinherr, BAT, § 37 Rz 30). Insoweit stimmt der Verschuldensgrad des § 37 Abs. 1 BAT trotz des abweichenden Wortlauts mit dem der gesetzlichen Regelungen überein (ebenso Arndt/Baumgärtel/Fieberg, Recht der Arbeiter und Angestellten im öffentlichen Dienst, § 37 Rz 27, in: Fürst, Gesamtkommentar öffentliches Dienstrecht, Bd. IV).

2. Das Landesarbeitsgericht ist zu dem Ergebnis gelangt, es sei unklar geblieben, ob der Versicherte den Grund, der zu seiner Einweisung in die Rehabilitationsklinik in B geführt hat, vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt habe. Dies gehe zu Lasten der Beklagten, die das Verschulden beweisen müsse. Hieran ändere sich auch für die Fälle nichts, in denen – wie im Streitfall – der Arbeitnehmer, der an einer Entziehungskur teilgenommen habe, es aus verständlichen Gründen ablehne, sich der Begutachtung durch einen Sachverständigen zu unterziehen und den behandelnden Arzt von der Schweigepflicht zu entbinden. Dieses Ergebnis wird von der Revision zu Recht angegriffen.

II.1. Alkoholabhängigkeit ist eine Krankheit im medizinischen und damit auch im entgeltfortzahlungsrechtlichen Sinne. Sie ist rechtlich wie jede andere Krankheit zu behandeln. Gegen den vom Gesetz begründeten Anspruch des an Alkoholabhängigkeit arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmers auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts kann der Arbeitgeber sich mit der Verteidigung wehren, der Arbeitnehmer habe sich die Krankheit schuldhaft zugezogen. Schuldhaft handelt der Arbeitnehmer, der gröblich gegen die von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhaltensweise verstößt (s. oben zu I 1). Bei einem solchen „Verschulden gegen sich selbst” wäre es unbillig, den Arbeitgeber mit der Zahlungspflicht zu belasten, weil der Arbeitnehmer zumutbare Sorgfalt gegen sich selbst nicht beachtet und dadurch die Arbeitsunfähigkeit verursacht hat. Das Verschulden des Arbeitnehmers als anspruchshindernden Umstand muß jedoch der Arbeitgeber beweisen. Für den Fall einer krankhaften Alkoholabhängigkeit des Arbeitnehmers gilt nichts anderes. Allerdings ist der Arbeitnehmer zur Mithilfe bei der Aufklärung aller Umstände verpflichtet, die zu seiner Alkoholabhängigkeit geführt haben. Dabei muß er auch den ihn behandelnden Arzt oder einen vom Gericht bestellten Gutachter von der Schweigepflicht entbinden. Das alles hat der Senat mit eingehender Begründung in seiner Entscheidung vom 1. Juni 1983 ausgeführt (BAGE 43, 54 = AP Nr. 52 zu § 1 LohnFG, m.w.N.). Hieran wird festgehalten.

2. Der Senat hat bereits in der genannten Entscheidung unter Hinweis auf zwei Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. Januar 1980 (DÖV 1980, 380, 381, 382) als möglich angesehen, das Verschulden eines Arbeitnehmers, der sich bereits einer intensiven stationären Entwöhnungsbehandlung unterzogen habe, könne anders zu beurteilen sein als das Verschulden eines Arbeitnehmers vor Eintritt der Alkoholabhängigkeit (vgl. aaO, S. 60, 61 = AP Nr. 52 aaO, zu I 3 c der Gründe). Das bedeutet jedoch nicht, daß sich in derartigen Fällen die Darlegungs- und Beweislast umkehrte. Auch bei einem durch Rückfall in den Alkoholmißbrauch arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmer trägt der Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast für ein Verschulden des Arbeitnehmers an der Krankheit. In diesem Falle geht es aber nicht mehr allein darum, ob der Arbeitnehmer die Entstehung seiner Alkoholabhängigkeit verschuldet hat oder nicht, sondern nunmehr vor allem darum, ob er sich ein Verschulden an der wiederholten Erkrankung entgegenhalten lassen muß.

Der Arbeitnehmer, der eine Entziehungskur durchgemacht hat, kennt die Gefahren des Alkohols für sich sehr genau. Er ist bei der Behandlung eingehend darauf hingewiesen und weiter dringend ermahnt worden, in Zukunft jeden Alkoholgenuß zu vermeiden. Wird der Arbeitnehmer nach erfolgreicher Beendigung einer Entwöhnungskur und weiter nach einer längeren Zeit der Abstinenz dennoch wieder rückfällig, so spricht die Lebenserfahrung dafür, daß er die ihm erteilten dringenden Ratschläge mißachtet und sich wieder dem Alkohol zugewandt hat. Dieses Verhalten wird im allgemeinen den Vorwurf eines „Verschuldens gegen sich selbst” begründen: der Arbeitnehmer verstößt gröblich gegen die von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhaltensweise und handelt damit schuldhaft im Sinne des Entgeltfortzahlungsrechts.

Es ist dann Sache des Arbeitnehmers, die Beweisführung des Arbeitgebers zu widerlegen und zunächst im einzelnen darzulegen, aus welchen Gründen sein Verhalten als nicht schuldhaft anzusehen sei.

III.

Unter Beachtung dieser Grundsätze ergibt sich für den Streitfall, daß der Versicherte sich vorwerfen lassen muß, schuldhaft gehandelt zu haben. Er hatte bereits eine Entgiftungs- und Entwöhnungsbehandlung durchlaufen. Er kannte die Gefahren des Alkohols für sich und seine Gesundheit. Es war ihm gelungen, fünf Monate lang vom Alkoholgenuß abzustehen. Wenn er nunmehr bei Einsichtsfähigkeit und bewiesener längerer Abstinenz wieder rückfällig wurde, spricht dies für ein schuldhaftes Verhalten seinerseits. In dieser Richtung hat sich auch der vom Arbeitsgericht zugezogene Sachverständige geäußert, wenngleich er nur allgemeine Erwägungen anstellen konnte, da der Versicherte sich geweigert hatte, an der näheren Klärung der Verschuldensfrage mitzuwirken.

Damit ist nicht die Beklagte beweisfällig geblieben, vielmehr hätte die Klägerin nunmehr Tatsachen vortragen müssen, die ein Verschulden des Versicherten ausräumten. Das ist nicht geschehen. Ihr Vorbringen, die familiären und beruflichen Probleme des Versicherten hätten sich auch nach seiner Entziehungskur nicht geändert, reicht dafür nicht aus. Das geht zu ihren Lasten.

 

Unterschriften

Dr. Thomas, Dr. Gehring, Griebeling, Scherer, Dr. Kalb

 

Fundstellen

BAGE 56, 321-326 (LT1)

BB 1988, 407-408 (LT)

DB 1988, 402-403 (LT)

NJW 1988, 1546

NJW 1988, 1546-1547 (LT1)

BetrR 1988, Nr 3, 15-17 (LT1)

DOK 1988, 540 (K)

JR 1988, 352

NZA 1988, 197-198 (LT)

RdA 1988, 126

SKrV 1988, Nr 4, 11 (K)

USK, 8797 (LT1)

WzS 1988, 251 (K)

AP, (LT1)

AR-Blattei, ES 1000.3.1 Nr 138 (LT1)

AR-Blattei, Krankheit IIIA Entsch 138 (LT1)

Die Leistungen 1989, 75-78 (KT)

ErsK 1989, 460-462 (KT)

EzA, § 1 LohnFG Nr 88 (LT1)

EzBAT, Verschulden Nr 13 (LT1)

MDR 1988, 345-345 (LT1)

SVFAng Nr 49, 25 (1988) (K)

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