Entscheidungsstichwort (Thema)

Gehaltsfortzahlung bei Alkoholabhängigkeit

 

Orientierungssatz

Der Arbeitgeber muß grundsätzlich das Verschulden des Arbeitnehmers an der Entstehung einer krankhaften Alkoholabhängigkeit als anspruchsausschließenden Umstand darlegen und beweisen. Dabei kann der Arbeitnehmer verpflichtet sein, an der Aufklärung mitzuwirken.

 

Normenkette

ZPO § 286; BAT § 37 Abs. 1; BGB § 616 Abs. 1; RVO § 182 Abs. 10; GewO § 133c S. 1; HGB § 63 Abs. 1 S. 1; LFZG § 1 Abs. 1 S. 1

 

Verfahrensgang

Hessisches LAG (Entscheidung vom 28.04.1986; Aktenzeichen 1 Sa 521/85)

ArbG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 18.12.1984; Aktenzeichen 12 Ca 342/82)

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte der Klägerin aus übergegangenem Recht (§ 182 Abs. 10 RVO) Entgeltfortzahlung schuldet.

Der bei der Klägerin gegen Krankheit versicherte A H (geboren 1935) war bei der Beklagten vom 1. April 1978 bis zum 31. März 1982 als Krankenpflegehelfer beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis ist der Bundes-Angestelltentarifvertrag (BAT) anzuwenden. Der Versicherte war ab 16. November 1981 länger als sechs Wochen arbeitsunfähig krank. Er befand sich damals mehrere Monate zu einer Entziehungskur in stationärer Behandlung. Die Beklagte gewährte ihm das Gehalt bis zum 30. November 1981 weiter. Für die Zeit vom 1. bis zum 27. Dezember 1981, dem Ablauf der Sechs-Wochen-Frist, verweigerte sie die Zahlung mit der Begründung, der Versicherte habe die Arbeitsunfähigkeit selbst verschuldet. Daraufhin gewährte die Klägerin dem Versicherten Krankengeld in Höhe von 1.485,-- DM. Wegen dieses Betrages nimmt die Klägerin die Beklagte in Anspruch.

Zwischen den Parteien ist unstreitig, daß die Arbeitsunfähigkeit des Versicherten auf Alkoholmißbrauch zurückzuführen war. Der Versicherte stand während der Jahre von 1971 bis 1977 insgesamt elfmal wegen Alkoholabhängigkeit und Medikamentenmißbrauchs in stationärer Behandlung. Auch in der Zeit vom 22. Oktober 1980 bis zum 21. April 1981 befand er sich wegen einer stationären Alkoholentziehungskur in einer Fachklinik.

Die Klägerin hat geltend gemacht, der Versicherte habe die ab 16. November 1981 bestehende Arbeitsunfähigkeit nicht verschuldet. Einen Erfahrungssatz, wonach bei Alkoholmißbrauch auf Selbstverschulden zu schließen sei, gebe es nicht. Der Versicherte sei chronisch alkoholkrank. Er sei durch persönliche Lebensumstände ans Trinken gekommen. Seine Alkoholkrankheit sei nie ausgeheilt gewesen, sondern habe latent fortbestanden. Seine Fähigkeit zur Einsicht in die Notwendigkeit, sich vom Alkohol zurückzuhalten, sei stark gemindert.

Die Klägerin hat daher beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie 1.485,-- DM

nebst 4 % Zinsen seit dem 1. Juli 1982 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vorgetragen: Die auf Alkoholmißbrauch beruhende erneute Arbeitsunfähigkeit des Versicherten sei deswegen selbstverschuldet, weil der Versicherte bereits verschiedene Entziehungskuren erfolgreich beendet habe und über mehrere Jahre hinweg nicht rückfällig geworden sei. Nach den Entziehungskuren hätten für ihn die besten Voraussetzungen bestanden, von jedem Alkoholgenuß Abstand zu nehmen und "trocken" zu bleiben. Sein erneuter Rückfall könne nur als Selbstverschulden im Sinne des § 37 Abs. 1 BAT gewertet werden.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht die Klage abgewiesen. Dagegen richtet sich die Revision, mit der die Klägerin ihr Klageziel weiterverfolgt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision hat keinen Erfolg. Dem Versicherten stand für die streitbefangene Zeit ein Anspruch auf Gehaltsfortzahlung gegen die Beklagte nicht zu. Ein solcher Anspruch konnte daher auch nicht auf die Klägerin gemäß der bis zum 30. Juni 1983 gültigen Bestimmung des § 182 Abs. 10 RVO (Art. II, § 3 Nr. 1, Buchst. a), § 25 des Gesetzes vom 4. November 1982, BGBl. I S. 1450) übergehen.

I. Das Landesarbeitsgericht ist zu dem Ergebnis gelangt, der Versicherte habe sich die seit dem 16. November 1981 bestehende, erneute krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit grob fahrlässig im Sinne des § 37 Abs. 1 BAT zugezogen. Wenn auch die erste Alkoholabhängigkeit des Versicherten als unverschuldete Krankheit anzusehen sei, so könne dies für die vorliegende Krankheit nicht mehr anerkannt werden. Der Versicherte habe sich allein in den Jahren von 1971 bis 1977 elf stationären Behandlungen wegen Alkoholabhängigkeit und Medikamentenmißbrauchs unterzogen. Es müsse davon ausgegangen werden, daß der Versicherte die Einsichten, die er bei den Entziehungskuren gewonnen habe, und die Belehrungen, die ihm dort erteilt worden seien, mißachtet habe und dadurch wieder abhängig geworden sei. Das Verschulden des Versicherten liege darin, daß er sich nicht nach den strengen Verhaltensregeln, die absolute Alkoholenthaltsamkeit fordern, gerichtet habe. Der Versicherte habe nach den verschiedenen Entziehungskuren gewußt, daß er sich des Alkoholgenusses vollständig enthalten müsse, um nicht wieder rückfällig zu werden. Über dieses strenge Verbot habe er sich im Bewußtsein hinweggesetzt, welche Folgen das haben werde. Wer sich so verhalte, handele grob fahrlässig. Daß der Versicherte voll einsichtsfähig gewesen sei, ergebe sich aus dem psychotherapeutischen Abschlußbericht vom 18. Mai 1981. Dem Vortrag der Klägerin, die Alkoholkrankheit des Versicherten sei nie ausgeheilt gewesen, könne nicht gefolgt werden. Bei seiner Einstellung in die Dienste der Beklagten sei der Versicherte "trocken" gewesen. Das habe er vor seiner Einstellung selbst erklärt. Auch aus dem Abschlußbericht vom 18. Mai 1981 ergebe sich, daß er "mehrere Jahre trocken" gewesen sei. Es könne daher nicht davon ausgegangen werden, daß er über viele Jahre und von Anfang an latent alkoholabhängig gewesen sei. Die Klägerin habe keine Umstände dargelegt, die dafür sprächen, daß den Versicherten kein Verschulden an seiner Alkoholerkrankung treffe. Das gehe zu ihren Lasten. Es müsse unter den gegebenen Umständen als unbillig angesehen werden, die Folgen der Alkoholerkrankung des Versicherten auf den Arbeitgeber abzuwälzen. Diesem Ergebnis ist beizupflichten.

II. 1. Nach § 37 Abs. 1 des im Streitfall anzuwendenden BAT werden dem Angestellten im Falle einer durch Krankheit verursachten Arbeitsunfähigkeit Krankenbezüge gezahlt, es sei denn, daß er sich die Krankheit vorsätzlich oder grob fahrlässig zugezogen hat. Grob fahrlässig in diesem Sinne handelt - wie auch in den Fällen des § 616 Abs. 1 Satz 1 BGB, § 63 Abs. 1 Satz 1 HGB, § 133 c Satz 1 GewO oder § 1 Abs. 1 Satz 1 LohnFG - der Arbeitnehmer, der in erheblichem Maße gegen die von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartenden Verhaltensregeln verstößt (vgl. statt vieler BAGE 43, 54, 58 = AP Nr. 52 zu § 1 LohnFG, zu I 3 a der Gründe; Böhm/Spiertz/Sponer/Steinherr, BAT, § 37 Rz 30). Zwar gibt es keinen Erfahrungssatz, wonach der Arbeitnehmer eine krankhafte Alkoholabhängigkeit regelmäßig selbst verschuldet hat; das Verschulden eines Arbeitnehmers, der sich bereits einer stationären Entziehungsbehandlung unterzogen hat, kann jedoch anders zu beurteilen sein. Das hat der Senat in der eben erwähnten Entscheidung im Anschluß an zwei Urteile des Bundesverwaltungsgerichts ausgeführt (vgl. BAGE 43, 54, 60, 61 = AP aaO, zu I 3 c der Gründe). Grundsätzlich muß der Arbeitgeber das Verschulden des Arbeitnehmers an der Entstehung einer krankhaften Alkoholabhängigkeit als anspruchsausschließenden Umstand darlegen und beweisen. Dabei kann der Arbeitnehmer verpflichtet sein, an der Aufklärung mitzuwirken. Alle diese, vom Senat im einzelnen erörterten Gesichtspunkte hat das Landesarbeitsgericht im angefochtenen Urteil beachtet und auf den von ihm festgestellten Sachverhalt ohne Rechtsfehler angewandt.

Das Landesarbeitsgericht ist ausgegangen von der unstreitigen Tatsache, daß der Versicherte allein in den Jahren von 1971 bis 1977 elfmal stationär wegen Alkoholabhängigkeit und Medikamentenmißbrauchs behandelt worden ist. Es hat dem psychotherapeutischen Abschlußbericht der Fachklinik vom 18. Mai 1981 entnommen, daß der Versicherte während seines Klinikaufenthaltes vom 22. Oktober 1980 bis zum 21. April 1981 volle Einsicht in seine Alkoholkrankheit gewonnen hat, daß er während seiner Kur voll abstinent gewesen ist und daß er früher sogar mehrere Jahre lang dem Alkohol zu entsagen vermocht hat. Dies wird bestätigt durch die Angaben des Versicherten, wie sie sich im ärztlichen Entlassungsbericht der Fachklinik vom 21. April 1981 finden. Danach hat der Versicherte in der Zeit von 1971 bis 1974, von 1976 bis 1977 und anschließend bis zu seinem Rückfall im Sommer 1980 ganz ohne Alkohol gelebt. Dem Versicherten ist nach Beendigung der Entwöhnungsbehandlung strenge Alkoholabstinenz angeraten worden. Wenn das Landesarbeitsgericht unter diesen Umständen den erneuten Rückfall des Versicherten als grob fahrlässiges Verhalten bewertet hat, ist dies aufgrund der von ihm getroffenen tatsächlichen Feststellungen revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

2. Zu Unrecht wirft die Revision dem Landesarbeitsgericht vor, es habe die Regeln der Beweislastverteilung verkannt. Das Landesarbeitsgericht ist, wie es selbst hervorhebt, von der Auffassung des Bundesarbeitsgerichts ausgegangen, daß der Arbeitgeber das Verschulden des Arbeitnehmers an der Entstehung seiner krankhaften Alkoholabhängigkeit darzulegen und zu beweisen habe. Es hat aufgrund seiner Feststellungen und aufgrund der Lebenserfahrung angenommen, der Versicherte habe den Rückfall in die Alkoholabhängigkeit trotz Einsichtsfähigkeit und trotz Fähigkeit zur Abstinenz verschuldet. Weiter hat das Landesarbeitsgericht darauf hingewiesen, für die an der Entstehung der letzten Krankheit erheblichen Umstände habe die zur Mitwirkung bei der Aufklärung verpflichtete Klägerin im Ergebnis lediglich geltend gemacht, der Versicherte sei durch persönliche Umstände ans Trinken gekommen, er sei psychisch stark gehemmt und habe versucht, diese Hemmschwelle durch Alkoholgenuß zu überwinden. Das hat das Landesarbeitsgericht zutreffend als nicht ausreichenden Vortrag angesehen. Diese Umstände mochten die erste Alkoholerkrankung des Versicherten als unverschuldet erscheinen lassen. Bei der letzten Rückfallerkrankung konnte der Versicherte sich darauf aber nicht mehr berufen, weil er die verheerenden Folgen des Alkoholgenusses für sich kannte und weil er nachdrücklich zur Abstinenz angehalten worden war. Die Klägerin hat danach - gegenüber der gelungenen Beweisführung der Beklagten - keine Umstände dargelegt, die es geboten hätten, den Rückfall des Versicherten als unverschuldet zu bewerten.

3. Die Revision rügt auch zu Unrecht, das Landesarbeitsgericht habe den Beweisantritt der Klägerin im Schriftsatz vom 12. September 1985 übergangen. Dort hat die Klägerin vorgetragen, von einer Ausheilung der Alkoholkrankheit des Versicherten habe bei seiner Entlassung aus der Fachklinik im April 1981 nicht gesprochen werden können. Die Krankheit sei vielmehr weiterhin latent vorhanden gewesen und habe die Einsichtsfähigkeit des Versicherten in die Notwendigkeit seiner Abstinenz stark gemindert. Für diese Behauptung hat die Klägerin sich auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens berufen. Das Landesarbeitsgericht ist diesem Beweisantrag nicht nachgegangen. Damit hat es jedoch die Vorschrift des § 286 ZPO nicht verletzt, denn der Beweisantrag war nicht schlüssig.

Dem Versicherten war aufgrund seiner wiederholten Entziehungskuren bekannt, daß er aufgrund seiner Alkoholgefährdung jeden Alkoholgenuß zu unterlassen hatte. Er war dazu auch durchaus in der Lage, wie seine eigenen Äußerungen und die Vermerke in den Abschlußberichten der Klinik vom 21. April und 18. Mai 1981 zeigen. Wurde er wenige Monate nach Verlassen der Klinik erneut rückfällig, muß er allen Belehrungen und Ermahnungen und jeder Einsicht zum Trotz wieder Alkohol zu sich genommen haben. Dann aber hat er ein Verhalten gezeigt, das in ganz erheblichem Maße von dem abwich, was von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwarten ist. Daß andere Umstände für den Rückfall ursächlich gewesen seien, hätte die Klägerin vortragen müssen. Das ist nicht geschehen. Ihr Beweisantrag war daher nicht schlüssig.

Dr. Thomas Dr. Gehring Griebeling

Scherer Dr. Kalb

 

Fundstellen

Haufe-Index 439990

DOK 1988, 540 (K)

USK, 87101 (ST1)

WzS 1988, 251-252 (K)

EzBAT § 38 BAT Verschulden, Nr 14 (ST1)

SVFAng Nr 49, 25 (1988) (K)

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