Entscheidungsstichwort (Thema)

Bezahlte Freistellung von Mandatsträgern

 

Leitsatz (redaktionell)

Nach dem Manteltarifvertrag für den Einzelhandel Niedersachsen vom 27.2.1981 haben Mandatsträger der vertragsschließenden Gewerkschaften Anspruch auf bezahlte Freistellung für die Teilnahme an Sitzungen in Gewerkschaftsangelegenheiten für höchstens 6 Tage im Jahr. Dazu gehören auch Delegierte zu einer Ortsdelegiertenversammlung der Gewerkschaft HBV.

 

Orientierungssatz

1. Gewerkschaftliche Mandatsträger sind Personen, die durch Wahl eines gewerkschaftlichen Gremiums einen zeitlich begrenzten Auftrag erhalten und damit zur Wahrnehmung bestimmter gewerkschaftlicher Aufgaben befugt sind.

2. Freistellung von Mandatsträgern einer vertragsschließenden Gewerkschaft; Entfernung eines Schreibens aus der Personalakte.

 

Normenkette

TVG § 1; BGB §§ 611, 616

 

Verfahrensgang

LAG Niedersachsen (Entscheidung vom 13.11.1984; Aktenzeichen 13 Sa 87/84)

ArbG Hannover (Entscheidung vom 11.04.1984; Aktenzeichen 6 Ca 8/84)

 

Tatbestand

Der Kläger, der der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) als Mitglied angehört, steht seit dem 15. November 1967 als kaufmännischer Angestellter in den Diensten der Beklagten. Er gehört dem Betriebsrat als freigestelltes Mitglied an.

Im Oktober 1983 erhielt der Kläger von der Gewerkschaft HBV eine Einladung zur Ortsdelegiertenversammlung Hannover am 5. November 1983. Eine Freistellung des Klägers zur Teilnahme an dieser Veranstaltung lehnte die Beklagte mit Schreiben vom 1. November 1983 gegenüber dem Betriebsrat sowie mit Schreiben vom 3. November 1983 gegenüber dem Kläger ab. Gleichwohl blieb der Kläger am 5. November 1983 dem Betrieb fern und nahm an der Ortsdelegiertenversammlung teil. Daraufhin teilte die Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 9. November 1983 mit:

"Sehr geehrter Herr H ,

wir hatten Ihnen mit unserem Schreiben vom

3. 11. 1983 ausführlich begründet, warum wir

Sie zu der Delegierten-Konferenz nicht frei-

stellen konnten.

Mit Befremden haben wir festgestellt, daß

Sie unter grober Vernachlässigung ihrer ar-

beitsvertraglichen Pflichten am langen

Samstag nicht zum Dienst erschienen sind

und offensichtlich an der Delegierten-Kon-

ferenz teilgenommen haben.

Wir können Ihr Verhalten nicht billigen und

erteilen Ihnen hiermit eine Rüge.

Die versäumte Zeit werden wir bei der kom-

menden Gehaltsabrechnung in Abzug bringen.

Hochachtungsvoll

Personalchef"

Dieses Schreiben nahm die Beklagte zu den Personalakten des Klägers und kürzte sein Gehalt für November 1983 um 110,58 DM brutto. Darüber hinaus lehnte es die Beklagte im November 1983 ab, den Kläger als Mitglied des Fachgruppenvorstandes Einzelhandel in der Ortsverwaltung Hannover der Gewerkschaft HBV für Sitzungen des Fachgruppenvorstandes künftig freizustellen.

Mit der Klage hat der Kläger die Auszahlung des einbehaltenen Gehalts für den 5. November 1983, die Entfernung der Rüge vom 9. November 1983 aus der Personalakte sowie die künftige Freistellung zu Sitzungen des Fachgruppenvorstandes Einzelhandel der Ortsverwaltung Hannover der Gewerkschaft HBV begehrt. Hierzu hat er vorgetragen, nach § 11 Ziff. 7 des Manteltarifvertrags für den Niedersächsischen Einzelhandel vom 27. Februar 1981 seien die für die vertragschließenden Gewerkschaften tätigen Mandatsträger zur Teilnahme an Sitzungen in Gewerkschaftsangelegenheiten freizustellen. Als Ortsgruppendelegierter und Mitglied des Fachgruppenvorstandes Einzelhandel der Ortsverwaltung Hannover sei er Mandatsträger im tariflichen Sinne. Er sei am 20. September 1983 auf der betrieblichen Mitgliederversammlung zum Delegierten für die 9. ordentliche Ortsdelegiertenversammlung am 5. November 1983 gewählt worden. Damit habe er das Mandat seiner Kollegen erhalten, diese bei der Delegiertenversammlung zu vertreten. Die Ortsdelegiertenversammlung sei nach der Satzung der HBV das höchste Organ der Ortsverwaltung. Da der tarifliche Freistellungsanspruch von höchstens sechs Tagen im Jahr unstreitig noch nicht verbraucht gewesen sei, stehe ihm die einbehaltene Vergütung für den 5. November 1983 zu. Wegen seiner Teilnahme an der Ortsdelegiertenversammlung am 5. November 1983 habe er entsprechend den tariflichen Vorschriften der Arbeit fernbleiben dürfen; deshalb könne ihm die Beklagte insoweit kein Fehlverhalten vorwerfen und sei zur Entfernung des Schreibens vom 9. November 1983 aus der Personalakte verpflichtet.

Der Kläger hat demgemäß beantragt,

1. die Beklagte zu verurteilen, an den

Kläger 110,58 DM brutto nebst 4 %

Zinsen seit Klagezustellung zu zahlen,

2. die Rüge vom 9. November 1983 aus der

Personalakte zu entfernen,

3. die Beklagte zu verpflichten, dem Klä-

ger für die Teilnahme an den Sitzun-

gen des Fachgruppenvorstandes Einzel-

handel der Ortsverwaltung der Gewerk-

schaft Handel, Banken und Versicherun-

gen am 7. Mai 1984, 4. Juni 1984, 2.

Juli 1984, 1. Oktober 1984, 5. Novem-

ber 1984 und 3. Dezember 1984 nach der

Maßgabe des § 11 Ziff. 7 des Mantelta-

rifvertrags für den Niedersächsischen

Einzelhandel jeweils Freistellung zu

gewähren,

4. festzustellen, daß der Kläger für die

Dauer seiner Mitgliedschaft im Fach-

gruppenvorstand Einzelhandel bei der

Ortsverwaltung Hannover der Gewerk-

schaft Handel, Banken und Versicherun-

gen im Rahmen von § 11 Ziff. 7 des

Manteltarifvertrags für den Nieder-

sächsischen Einzelhandel für die

Dauer der jeweiligen Sitzungen des

Fachgruppenvorstandes durch die Be-

klagte freizustellen ist.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vorgetragen, der Kläger gehöre nicht zum anspruchsberechtigten Personenkreis des § 11 Ziff. 7 des Manteltarifvertrags für den Einzelhandel in Niedersachsen. Dieser umfasse ausschließlich gewerkschaftliche Amtsträger auf Landesebene. Das ergebe sich schon aus dem Wortlaut der Tarifnorm. Darin sei von "vertragschließenden Gewerkschaften" die Rede, die es nur auf Landesebene gebe. Bestätigt werde dies durch die Tarifgeschichte. Ein Freistellungsanspruch in Gewerkschaftsangelegenheiten sei früher nur für Tarifkommissionsmitglieder vorgesehen gewesen. Durch Tarifvertrag vom 26. Oktober 1973 sei dieser Personenkreis erweitert worden. Danach habe der Freistellungsanspruch "Tarifkommissionsmitgliedern sowie den in verantwortlich leitender Stellung für die vertragschließenden Gewerkschaften tätigen Arbeitnehmern (Mandatsträger)" zugestanden. Damit sei zugleich der Begriff "Mandatsträger" definiert worden. Daran habe sich durch die Neufassung der tariflichen Regelung im Jahre 1977 nichts geändert. Mit der Änderung der Vorschrift durch den Tarifvertrag vom 14. Januar 1977 habe allein die Höchstdauer des Freistellungsanspruchs für Tarifkommissionsmitglieder verlängert werden sollen. Eine Erweiterung des anspruchsberechtigten Personenkreises sei damit aber nicht beabsichtigt gewesen. Die redaktionelle Neufassung der Tarifnorm stelle nur eine sprachliche Neufassung dar. Eine verantwortlich leitende Stellung innerhalb der HBV habe der Kläger ersichtlich nicht eingenommen. Außerdem seien die Teilnehmer einer Ortsdelegiertenversammlung nicht "für eine vertragschließende Gewerkschaft" tätig, da hiervon nur dann gesprochen werden könne, wenn Aufgaben der Gewerkschaft mit Außenwirkung wahrgenommen würden. Bei Ortsdelegiertenversammlungen gehe es aber nur um ein Tätigwerden innerhalb der Gewerkschaft und insoweit um die Wahrnehmung von Mitgliederrechten. Die vom Kläger vertretene Auffassung sei im übrigen im Hinblick auf Art. 9, 12 und 14 GG verfassungsrechtlich bedenklich. Der Kläger habe die Beklagte ferner nicht rechtzeitig über die Veranstaltung vom 5. November 1983 unterrichtet, sondern ihr erst wenige Tage vor der Konferenz die Einladung zu der Versammlung zugeleitet. Die Worte "und erteilen Ihnen hiermit eine Rüge" im Schreiben vom 9. November 1983 wolle die Beklagte streichen und ein entsprechendes Anschreiben in die Personalakte einfügen sowie an den Kläger übersenden.

Das Arbeitsgericht hat nach dem Antrag des Klägers erkannt. In der Berufungsinstanz hat der Kläger die Klageanträge zu 3) und 4) zurückgenommen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.

Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter. Der Kläger beantragt Zurückweisung der Revision.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat ist nach Maßgabe des Gesetzes besetzt. In der Sozialgerichtsbarkeit sind Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der Besetzung der Gerichte mit Rücksicht auf die Berufung der ehrenamtlichen Richter erhoben worden (vgl. Presseinformation des BSG Nr. 59/85 vom 20. August 1985). Da § 43 Abs. 1 Satz 2 ArbGG mit § 45 Abs. 2 SGG hinsichtlich der Berufung der ehrenamtlichen Richter am Bundesarbeitsgericht und am Bundessozialgericht übereinstimmt, bestand für den Senat Veranlassung, seine ordnungsgemäße Besetzung von Amts wegen zu prüfen (BVerfGE 40, 356, 357, 360).

Verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 43 Abs. 1 Satz 2 ArbGG sind nicht begründet. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 18, 241, 254; 26, 186, 196; 27, 312, 320; 48, 300, 315; 54, 159) fordert Art. 92 GG, daß die rechtsprechende Gewalt durch staatliche Gerichte ausgeübt wird. Dazu gehört, daß die Bindung des Gerichts an den Staat auch in personeller Hinsicht hinreichend gewährleistet ist. Staatliche Gerichtsbarkeit muß nicht nur auf staatlichem Gesetz beruhen und der Erfüllung staatlicher Aufgaben dienen; das Organ, das sie ausübt, muß auch personell vom Staat entscheidend bestimmt sein.

Diesem Erfordernis genügt § 43 Abs. 1 Satz 2 ArbGG. Dort ist vorgeschrieben, daß die ehrenamtlichen Richter vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung berufen werden und "im angemessenen Verhältnis unter billiger Berücksichtigung der Minderheiten aus den Vorschlagslisten zu entnehmen" sind, die von den dafür vorgesehenen Verbänden eingereicht werden. Die Zusammensetzung des Gerichts wird danach vom zuständigen Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung entscheidend dadurch bestimmt, daß dieser die ehrenamtlichen Richter aufgrund eigener Entscheidung den Vorschlägen der Verbände entnimmt, diese aber nicht übernehmen muß. Wenn er bei der gebotenen umfassenden Überprüfung dazu gelangt, einzelne oder mehrere vorgeschlagene ehrenamtliche Richter nicht zu ernennen, ist es ihm unbenommen, gegebenenfalls weitere Vorschläge anzufordern (BVerfGE 26, 186, 197; 27, 312, 321).

Inwieweit der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung tatsächlich eine Auswahl aus den Listen vornimmt oder sich an die Vorschläge der Verbände hält, ist vom Senat nicht zu prüfen. Die Berufung zum ehrenamtlichen Richter ist nicht schon deshalb nichtig, weil Mängel in dem Verfahren der Berufung bestehen. Selbst wenn ehrenamtliche Richter nur aufgrund von Einzelvorschlägen oder von Listen berufen werden, die nicht mehr Namen enthalten als ehrenamtliche Richter zu berufen sind, kann daraus nicht geschlossen werden, daß der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung sich an den Vorschlag für gebunden hielt und sich - gesetzwidrig - seiner Befugnis begeben hätte, die Zusammensetzung des Bundesarbeitsgerichts entscheidend zu bestimmen. Damit folgt der Senat der Rechtsprechung des Fünften Senats des Bundesarbeitsgerichts (BAG Urteil vom 28. August 1985 - 5 AZR 616/84 -, zur Veröffentlichung vorgesehen).

Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat der in der Revisionsinstanz noch anhängigen Klage mit Recht stattgegeben. Die Beklagte ist verpflichtet, an den Kläger das für den 5. November 1983 einbehaltene Gehalt in Höhe von 110,58 DM netto nebst 4 % Zinsen seit 11. Januar 1984 zu zahlen und das Schreiben vom 9. November 1983 aus der Personalakte zu entfernen. Denn der Kläger hatte für den 5. November 1983 einen tariflichen Anspruch auf bezahlte Freistellung von der Arbeit zur Teilnahme an der Ortsdelegiertenversammlung in Hannover.

Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der Manteltarifvertrag für den Einzelhandel in Niedersachsen vom 27. Februar 1981 (MTV Einzelhandel Ns) kraft Allgemeinverbindlichkeit mit unmittelbarer und zwingender Wirkung Anwendung (§ 5 Abs. 4, § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG). Für die Klageforderung ist § 11 MTV Einzelhandel Ns heranzuziehen, in dem es heißt:

Freistellung von der Arbeit

---------------------------

Der Beschäftigte hat in den folgenden Fällen

Anspruch auf Freistellung von der Arbeit oh-

ne Anrechnung auf den Urlaub und unter Fort-

zahlung seines Arbeitsentgelts:

...

6. Tarifkommissionsmitglieder der vertrag-

schließenden Gewerkschaften sind für Ta-

rifverhandlungen von der Arbeit freizu-

stellen.

7. Die für die vertragschließenden Gewerk-

schaften tätigen Mandatsträger sind zur

Teilnahme an Sitzungen in Gewerkschafts-

angelegenheiten freizustellen. Die Frei-

stellung darf im Jahr nicht mehr als 6

Tage umfassen.

Der Kläger war als Delegierter in der Ortsdelegiertenversammlung Hannover der Gewerkschaft HBV am 5. November 1983 Mandatsträger im tariflichen Sinne. Der Begriff des Mandatsträgers wird vom Tarifvertrag nicht näher umschrieben. Er hat aber in der Rechtsterminologie einen fest umrissenen Inhalt, wobei er allerdings im Privat-, Staats- und Völkerrecht mit jeweils unterschiedlicher Bedeutung verwendet wird (vgl. Brockhaus Enzyklopädie, 17. Aufl., Bd. 12, S. 73; Brockhaus/Wahrig, Deutsches Wörterbuch, Bd. 4, 1982, S. 574). Wenn Tarifvertragsparteien in einer Tarifnorm einen Begriff verwenden, der in der Rechtsterminologie einen fest umrissenen Inhalt hat, ist mangels anderweitiger Anhaltspunkte im Tarifvertrag davon auszugehen, daß sie diesen Begriff auch in seiner rechtlichen Bedeutung unmittelbar oder entsprechend angewendet wissen wollen (BAG 42, 272, 277 = AP Nr. 61 zu § 616 BGB mit weiteren Nachweisen). Im vorliegenden Fall kommt der Begriff des Mandatsträgers allein im staatsrechtlichen (politischen) Sinne in Betracht. Denn die Gewerkschaften sind insoweit mit politischen Parteien in einer parlamentarischen Demokratie vergleichbar. Sie sind demokratisch organisiert, beteiligen sich an der politischen Willensbildung, schaffen durch den Abschluß von Tarifverträgen - ebenso wie der Gesetzgeber - Rechtsnormen und nehmen damit eine durch Art. 9 Abs. 3 GG garantierte sozialpolitische Aufgabe wahr (vgl. § 4 der Satzung der HBV). Ebenso wie die staatliche Willensbildung auf die wahlberechtigten Bürger zurückgeht und die Willensbildung innerhalb der politischen Parteien auf deren Mitglieder, ist die gewerkschaftliche Willensbildung auf die Mitglieder der einzelnen Gewerkschaften zurückzuführen, die durch Wahl ihre Repräsentanten bestimmen. Wegen der nach denselben Prinzipien organisierten staatlichen und gewerkschaftlichen Willensbildung kann mangels anderweitiger Anhaltspunkte im Tarifvertrag für einen gewerkschaftlichen Mandatsträger der Begriff des Mandats - ebenso wie für einen politischen Mandatsträger - nur in einem an das Staatsrecht angelehnten Sinne verstanden werden.

Danach ist Mandat "die Vollmacht zur Ausübung von Kompetenzen, die der Substanz nach dem Vollmachtgeber verbleiben" (Brockhaus Enzyklopädie, aaO), oder - konkreter - "einem Vertreter eines beschlußfassenden Organs (meist Parlament) durch Wahl erteilter Auftrag" (Brockhaus/Wahrig, aaO), wobei für ein Mandat in der parlamentarischen Demokratie die zeitliche Begrenzung des Auftrags kennzeichnend ist. Gewerkschaftliche Mandatsträger sind demgemäß Personen, die durch Wahl eines gewerkschaftlichen Gremiums einen zeitlich begrenzten Auftrag erhalten und damit zur Wahrnehmung bestimmter gewerkschaftlicher Aufgaben befugt sind. Nach welchen Grundsätzen und in welcher Zahl Mandatsträger gewählt werden und welche Aufgaben ihnen übertragen werden, bestimmen die Gewerkschaften im Rahmen ihrer Organisationsgewalt durch die Satzung selbst. Hätten die Tarifvertragsparteien den Begriff des Mandatsträgers im Sinne von § 11 Ziff. 7 MTV Einzelhandel Ns auf bestimmte Funktionen beschränken wollen, hätten sie dies im Tarifvertrag zum Ausdruck gebracht. Das ist nicht geschehen. Deshalb sind alle Gewerkschaftsmitglieder, die nach der Satzung einer Gewerkschaft durch Wahl zur Ausübung von Kompetenzen bevollmächtigt sind, Mandatsträger im tariflichen Sinne. Die Tarifvertragsparteien haben es damit in Kauf genommen, daß die Mandatsträger durch die jeweilige Satzung der vertragschließenden Gewerkschaft bestimmt werden und infolgedessen - je nach den Satzungsbestimmungen - die einzelnen Gewerkschaften - hier: DAG und HBV - eine unterschiedlich große Zahl von Mandatsträgern aufweisen können, denen ein Freistellungsanspruch nach § 11 Ziff. 7 MTV Einzelhandel Ns zugute kommen kann.

Zu den Mandatsträgern in diesem Sinne gehört der Kläger als Delegierter einer Ortsdelegiertenversammlung der Gewerkschaft HBV. Die Delegierten für eine Ortsdelegiertenversammlung werden nach der Satzung der Gewerkschaft HBV durch Wahl in den Betrieben ermittelt (§ 28 Ziff. 5 der Satzung HBV). Die Delegiertenversammlung ist das höchste Organ der Ortsverwaltung, die u. a. die Aufgabe hat, den Vorstand und eine aus drei bis fünf ehrenamtlichen Mitgliedern bestehende Revisionskommission zu wählen (§ 28 Ziff. 4 der Satzung HBV). Die Delegierten für die Delegiertenversammlung werden alle zwei Jahre neu gewählt (§ 28 Ziff. 3 der Satzung HBV). Der Kläger als Delegierter für eine Ortsdelegiertenversammlung nimmt damit eine ihm durch Wahl übertragene zeitlich begrenzte gewerkschaftliche Aufgabe wahr und ist deshalb Mandatsträger im Sinne von § 11 Ziff. 7 MTV Einzelhandel Ns.

Für eine Beschränkung des Freistellungsanspruchs nach § 11 Ziff. 7 MTV Einzelhandel Ns auf Mandatsträger auf Landesebene und Bundesebene enthält der Tarifvertrag keinen Anhaltspunkt. Insoweit sind Wortlaut und Gesamtzusammenhang der tariflichen Regelung eindeutig. Der Begriff des Mandats knüpft an die Übertragung von Kompetenzen an; dies ist auf allen Ebenen der gewerkschaftlichen Betätigung bis zur Ortsgruppe hin möglich und üblich. Da Wortlaut und Gesamtzusammenhang der tariflichen Regelung eine eindeutige Auslegung ermöglichen, kommt es auf die Tarifgeschichte nicht mehr an (BAG Urteil vom 12. September 1984 - 4 AZR 336/82 -, zur Veröffentlichung vorgesehen).

Im übrigen spricht die Tarifgeschichte entgegen der Auffassung der Beklagten für die hier vorgenommene Auslegung. Ursprünglich hatten die Tarifvertragsparteien dem Begriff des Mandatsträgers einen besonderen tariflichen Sinn gegeben, indem sie den Worten "den in verantwortlich leitender Stellung für die vertragschließenden Gewerkschaften tätigen Arbeitnehmern" den Klammerzusatz "Mandatsträger" hinzufügten. Durch den Klammerzusatz brachten sie zum Ausdruck, daß Mandatsträger im tariflichen Sinne nur die in verantwortlich leitender Stellung bei den vertragschließenden Gewerkschaften tätigen Arbeitnehmer sein sollten. Das ist rechtlich zulässig und bindet die Gerichte bei der Auslegung des Tarifvertrags. Wenn die Tarifvertragsparteien dann in den ab 1977 abgeschlossenen Tarifverträgen auf eine besondere Begriffsbestimmung des Mandatsträgers durch Klammerzusatz verzichteten und den Begriff "Mandatsträger" nicht näher erläuterten, bedeutet dies entgegen der Auffassung der Beklagten nicht ohne weiteres, daß damit der Begriff des Mandatsträgers seine bisherige einschränkende Bedeutung beibehalten hat. Dieser Schluß wäre nur zulässig, wenn in der Rechtsterminologie der Begriff des Mandatsträgers einen der bisherigen tariflichen Regelung entsprechenden Inhalt erhalten hätte, so daß auf eine besondere tarifliche Definition verzichtet werden konnte, oder wenn bei den beteiligten Berufskreisen der Begriff des Mandatsträgers übereinstimmend im Sinne der bisherigen tariflichen Regelung verstanden worden wäre. Im letzteren Falle könnte man davon ausgehen, daß die Tarifvertragsparteien durch die Verwendung des Begriffs Mandatsträger auf die Anschauung der beteiligten Berufskreise Bezug nehmen wollten (vgl. BAG Urteil vom 12. September 1984 - 4 AZR 336/82 -, zur Veröffentlichung vorgesehen). Diese Voraussetzungen sind vorliegend jedoch nicht gegeben.

Dann aber müssen sich Tarifvertragsparteien daran festhalten lassen, daß ein von ihnen verwendeter Begriff mit fest umrissenem Inhalt im Sinne der Rechtsterminologie auch so verstanden wird. Das muß auch dann gelten, wenn die Tarifvertragsparteien in einer früheren tariflichen Regelung dem Begriff durch eine Erläuterung einen besonderen tariflichen Inhalt gaben, später aber auf eine solche Erläuterung verzichteten und damit der nicht mehr näher erläuterte Begriff eine andere Bedeutung im Sinne der Rechtsterminologie erhielt. Diese materielle Änderung der Tarifnorm kann den Tarifvertragsparteien vorliegend auch nicht unbemerkt geblieben sein, weil sie bewußt eine andere Wortwahl vorgenommen haben. Durch eine Änderung der Wortwahl in einer Tarifnorm bringen Tarifvertragsparteien im allgemeinen ihren Willen zum Ausdruck, auch eine materielle Änderung des Norminhalts herbeizuführen, wenn sich aus dem Tarifvertrag selbst nichts anderes ergibt. Wollten die Tarifvertragsparteien vorliegend - wie die Beklagte behauptet - mit der Änderung der Wortwahl keine Änderung des Begriffs des Mandatsträgers herbeiführen oder haben sie insoweit über eine Änderung überhaupt nicht verhandelt, so ist dies unbeachtlich, weil der fehlende Änderungswille der Tarifvertragsparteien im Tarifvertrag keinen Niederschlag gefunden hat. Vielmehr ist hier aus der Änderung der Wortwahl auf die Änderung des Begriffsinhalts zu schließen.

Auch daraus, daß der MTV Einzelhandel Ns vom Landesverband der DAG und der Landesbezirksleitung der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) abgeschlossen worden ist, folgt entgegen der Auffassung der Beklagten nicht, daß damit unter der "vertragschließenden Gewerkschaft" im Sinne von § 11 Ziff. 7 MTV Einzelhandel Ns nur die Gewerkschaft auf Landes- und Bundesebene gemeint ist. Vertragschließende Gewerkschaften des MTV Einzelhandel Ns sind die DAG und die Gewerkschaft HBV. Die Landesverbände bzw. Landesbezirksleitungen der Gewerkschaften sind keine selbständigen Gewerkschaften, sondern nur Gliederungen der DAG bzw. der Gewerkschaft HBV ohne eigene Rechtspersönlichkeit (vgl. § 34 der Satzung der DAG). Vertragschließende Gewerkschaften sind ausschließlich die DAG und die Gewerkschaft HBV. Deren Mandatsträger auf allen Ebenen haben nach § 11 Ziff. 7 MTV Einzelhandel Ns den Freistellungsanspruch. Insoweit kommt den Worten "bei den vertragschließenden Gewerkschaften" nur die Bedeutung zu, daß damit Mandatsträger anderer (nicht vertragschließender) Gewerkschaften den Freistellungsanspruch nach § 11 Ziff. 7 MTV Einzelhandel Ns nicht haben sollen. Es geht damit lediglich um die Abgrenzung zu Drittorganisationen. Auch der Hinweis der Beklagten auf das Senatsurteil vom 5. April 1978 - 4 AZR 640/76 - (AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Banken) geht fehl, da nach dem damals vom Senat zu beurteilenden Tarifvertrag der Freistellungsanspruch sich ausdrücklich auf Inhaber gewerkschaftlicher Ämter in "verantwortlich leitender Stellung" beschränkte.

Bei der Ortsdelegiertenversammlung vom 5. November 1983, an der der Kläger teilnahm, handelt es sich auch um eine Sitzung in Gewerkschaftsangelegenheiten. Hierbei sind die Delegierten als Mandatsträger für die Gewerkschaft HBV als vertragschließende Gewerkschaft tätig geworden. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen (Urteil vom 19. Dezember 1984 - 5 Sa 83/84 -), auf die sich die Beklagte beruft, betätigen sich die Delegierten einer Ortsdelegiertenversammlung nicht nur innerhalb der Gewerkschaft, sondern auch für die Gewerkschaft. Für eine Gewerkschaft wird nicht nur derjenige tätig, der mit Außenwirkung Aufgaben der Gewerkschaft wahrnimmt. Vielmehr wird auch derjenige, der als Delegierter an der gewerkschaftlichen Willensbildung beteiligt ist und insoweit übertragene Mitgliedschaftsrechte wahrnimmt, damit für die Gewerkschaft tätig. Hierfür spricht insbesondere, daß der Freistellungsanspruch für Sitzungen in Gewerkschaftsangelegenheiten gewährt wird. Sitzungen gewerkschaftlicher Mandatsträger dienen in aller Regel der gewerkschaftlichen Willensbildung. Wenn das Landesarbeitsgericht Niedersachsen den Freistellungsanspruch auf Mandatsträger beschränken will, die mit Außenwirkung Aufgaben der Gewerkschaft wahrnehmen, also als Repräsentanten der Gewerkschaft auftreten, ginge damit der Freistellungsanspruch nach § 11 Ziff. 7 MTV Einzelhandel Ns weitgehend ins Leere. Dann kämen als Sitzungen in Gewerkschaftsangelegenheiten, in denen die Mandatsträger mit Außenwirkung Aufgaben der Gewerkschaft wahrnehmen, vor allem Tarifverhandlungen in Betracht. Insoweit besteht aber für Tarifkommissionsmitglieder bereits ein spezieller Freistellungsanspruch nach § 11 Ziff. 6 MTV Einzelhandel Ns. Weitere Sitzungen gewerkschaftlicher Mandatsträger in Gewerkschaftsangelegenheiten mit Außenwirkung finden nur aus seltenen, ungewöhnlichen Anlässen statt. Die Tarifvertragsparteien sind aber offensichtlich davon ausgegangen, daß für die Mandatsträger im Jahr mindestens sechs Arbeitstage für die Teilnahme an Sitzungen in Gewerkschaftsangelegenheiten anfallen, wenn sie den Freistellungsanspruch auf sechs Tage beschränken. Da § 11 Ziff. 7 MTV Einzelhandel Ns den Freistellungsanspruch aber gerade zur Teilnahme an Sitzungen in Gewerkschaftsangelegenheiten gewährt und hierfür insbesondere die Sitzungen in Betracht kommen, die der gewerkschaftlichen Willensbildung dienen, kann nicht davon ausgegangen werden, daß die Tarifvertragsparteien durch die Worte "für die vertragschließenden Gewerkschaften tätigen Mandatsträger" den Anspruch auf ein Tätigwerden mit Außenwirkung beschränken wollten. Der Wortlaut zwingt nicht zu einer solchen Einschränkung. Sinn und Gesamtzusammenhang der tariflichen Regelung sprechen entscheidend dagegen.

Wenn die Beklagte andeutet, eine Auslegung des § 11 Ziff. 7 MTV Einzelhandel Ns in dem hier vorgenommenen Sinne verstoße gegen Art. 9, 12 und 14 GG, da es dabei um Vorgänge gehe, die von ihrer Zielsetzung her den Interessen der Arbeitgeber klar zuwiderliefen und denjenigen der Kontrahenten der Arbeitgeber dienten, will sie wohl geltend machen, daß nach den Prinzipien des Koalitionsrechts insbesondere die finanzielle Unabhängigkeit des jeweiligen sozialen Gegenspielers gewährleistet sein muß (vgl. BAG 24, 459 = AP Nr. 2 zu § 40 BetrVG 1972) und hiergegen verstoßen werde, wenn durch die Entgeltfortzahlung Gewerkschaftsarbeit vom Arbeitgeber finanziert würde. Dieser Auffassung folgt der Senat nicht. Würde den gewerkschaftlichen Mandatsträgern kein bezahlter Freistellungsanspruch nach § 11 Ziff. 7 MTV Einzelhandel Ns eingeräumt, könnten sie von ihrer Gewerkschaft für versäumte Arbeitszeit keinen Verdienstausfall verlangen. Sie üben in der Gewerkschaft ein Ehrenamt aus. Da somit die Gewerkschaften ihren Mandatsträgern für die Wahrnehmung gewerkschaftlicher Aufgaben keine Vergütung oder Verdienstausfall zu zahlen haben, wird durch entsprechende Vergütung von Arbeitgeberseite gewerkschaftliche Arbeit nicht finanziert. Richtig ist, daß durch die bezahlte Freistellung gewerkschaftliche Arbeit erleichtert wird. Das berührt aber noch nicht die finanzielle Unabhängigkeit der Gewerkschaften. Im übrigen ist zu bedenken, daß sich der Freistellungsanspruch der Mandatsträger auf sechs Tage im Jahr beschränkt und die damit verbundene finanzielle Belastung der Arbeitgeber im Verhältnis zur gesamten Arbeitszeit geringfügig ist.

Der Kläger hat seine Teilnahme an der Delegiertenversammlung am 5. November 1983 der Beklagten rechtzeitig angezeigt. Es kann hierbei davon ausgegangen werden, daß derjenige, der nach § 11 Ziff. 7 MTV Einzelhandel Ns einen Anspruch auf bezahlte Freistellung zur Teilnahme an Sitzungen in Gewerkschaftsangelegenheiten geltend machen will, dies dem Arbeitgeber aufgrund seiner arbeitsvertraglichen Treuepflicht rechtzeitig anzuzeigen hat. Einer ausdrücklichen Freistellung durch den Arbeitgeber bedarf es aber nicht, da dem Arbeitgeber insoweit kein Ermessensspielraum eingeräumt ist. Der Termin der Sitzungen in Gewerkschaftsangelegenheiten steht fest. Dann besteht unter den Voraussetzungen von § 11 Ziff. 7 MTV Einzelhandel Ns ein entsprechender Freistellungsanspruch. Eine Anzeige beim Arbeitgeber angemessene Zeit vor Beginn der Veranstaltung genügt danach zur Geltendmachung des Freistellungsanspruchs. Hierbei ist es jedenfalls nicht verspätet, wenn der Arbeitgeber von der Sitzung in Gewerkschaftsangelegenheiten - wie vorliegend - mindestens sechs Tage vorher unterrichtet wird.

Der Kläger kann auch eine Beseitigung des Schreibens der Beklagten vom 9. November 1983 aus seiner Personalakte verlangen. Dies folgt aus der Fürsorgepflicht der Beklagten. Danach ist die Beklagte verpflichtet, alle Handlungen zu unterlassen, die die Rechtsstellung eines Arbeitnehmers in ungerechtfertigter Weise nachteilig beeinflussen können (vgl. BAG Urteil vom 22. Februar 1978 - 5 AZR 801/76 -, AP Nr. 84 zu § 611 BGB Fürsorgepflicht). Die in dem Schreiben der Beklagten zum Ausdruck gekommene Wertung (grobe Vernachlässigung arbeitsvertraglicher Pflichten) ist unrichtig, gleichgültig, ob die Beklagte bereit ist, die formell erteilte Rüge zu streichen oder nicht. Dadurch wird die Rechtsstellung des Klägers nachteilig beeinflußt, weil nicht auszuschließen ist, daß die Beklagte bei künftigen Vorgängen auf das Schreiben vom 9. November 1983 zum Nachteil des Klägers zurückgreift, z. B. aus Anlaß einer Kündigung oder Versetzung. Allein deshalb besteht ein Anspruch des Klägers auf Beseitigung des Schreibens aus der Personalakte. Damit kommt es nicht mehr darauf an, ob der Kläger auch wegen fehlender Beteiligung des Betriebsrats eine Beseitigung des Schreibens verlangen könnte.

Die Beklagte hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihrer erfolglosen Revision zu tragen.

Dr. Neumann Dr. Feller Dr. Etzel

Jansen Dr. Apfel

 

Fundstellen

Haufe-Index 438985

BAGE 49, 334-346 (LT)

BAGE, 334

RdA 1986, 66

AP § 616 BGB (LT1), Nr 67

AR-Blattei, Arbeitsausfall IV Entsch 25 (LT1)

AR-Blattei, Berufsverbände Entsch 26 (LT1)

AR-Blattei, ES 140.4 Nr 25 (LT1)

AR-Blattei, ES 420 Nr 26 (LT1)

EzA § 616 BGB, Nr 30 (LT1)

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