Entscheidungsstichwort (Thema)

Außerordentliche Kündigung wegen Antritts einer Strafhaft - Reichweite der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Verbüßung einer längeren Strafhaft ist an sich geeignet, eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses zu rechtfertigen, wenn sich die Arbeitsverhinderung konkret nachteilig auf das Arbeitsverhältnis auswirkt und für den Arbeitgeber zumutbare Überbrückungsmöglichkeiten nicht bestehen (Bestätigung der Senatsrechtsprechung vom 15. November 1984 - 2 AZR 613/83 - AP Nr 87 zu § 626 BGB; vgl auch Urteil vom 22. September 1994 - 2 AZR 719/93 -, AiB 1995, 119.

2. Aufgrund seiner Fürsorgepflicht kann der Arbeitgeber gehalten sein, bei der Erlangung des Freigängerstatus mitzuwirken, um Störungen des Arbeitsverhältnisses zu vermeiden. Dies setzt allerdings voraus, daß der Arbeitnehmer den Arbeitgeber über die Umstände der Straftat, des Strafverfahrens und der Haft nicht täuscht bzw im unklaren läßt. Die Fürsorgepflicht gebietet eine solche Mitwirkung des Arbeitgebers in der Regel ferner dann nicht, wenn trotz Bewilligung des Freigangs weitere Störungen des Arbeitsverhältnisses zu befürchten sind.

 

Verfahrensgang

LAG Köln (Entscheidung vom 08.04.1994; Aktenzeichen 13 Sa 1210/93)

ArbG Siegburg (Entscheidung vom 22.09.1993; Aktenzeichen 3 Ca 957/93)

 

Tatbestand

Der 1936 geborene Kläger war bei der Beklagten seit September 1979 im Außendienst (Akquisition, Marketing) beschäftigt. Sein durchschnittliches monatliches Gehalt betrug zuletzt ca. 8.000,-- DM brutto. Wegen Vergewaltigung wurde er zu 2 1/2 Jahren Haft verurteilt. Die Strafe mußte er am 23. Februar 1993 antreten. In der Absicht, dies der Beklagten zu verheimlichen, beantragte er bei der Beklagten Urlaub für eine Kur und bemühte sich bei den Vollstreckungsbehörden um die baldige Erlangung des Freigängerstatus. Die Beklagte bewilligte den Urlaub, den Freigängerstatus erhielt der Kläger jedoch zunächst nicht. Am 23. März 1993 teilte der Kläger der Beklagten über seine Ehefrau mit, er sei in Untersuchungshaft genommen worden und benötige eine Arbeitsbescheinigung für die Haftverschonung. Die Beklagte erteilte unter dem 24. März 1993 die erbetene Arbeitsbescheinigung, diese erachtete die Vollstreckungsbehörde für die Bewilligung des Freigangs jedoch als unzureichend. Der Strafverteidiger und spätere Prozeßbevollmächtigte des Klägers bat daraufhin die Beklagte um die Bestätigung, daß sie um die Strafhaft des Klägers wisse, ihn aber dennoch weiter beschäftigen werde. Dadurch erfuhr die Beklagte am 29. März 1993 erstmals von den wirklichen Umständen. Nach Anhörung des Betriebsrats kündigte sie dem Kläger mit Schreiben vom selben Tag fristlos.

Mit seiner am 14. April 1993 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat sich der Kläger gegen diese Kündigung gewandt. Gegen eine weitere fristgemäße Kündigung der Beklagten vom 12. Mai zum 31. Dezember 1993 hat der Kläger nichts unternommen.

Der Kläger hat vorgetragen, es habe eine telefonische Zusage der Vollstreckungsbehörde gegeben, er werde den Freigängerstatus erhalten, sobald die Beklagte die erbetene Bescheinigung erteile; dies sei unter dem 6. April 1993 auch schriftlich bestätigt worden. Seit dem 9. Juni 1993 sei er auch tatsächlich Freigänger. Aufgrund ihrer Fürsorgepflicht hätte ihn die Beklagte in seinem Bemühen um den Freigängerstatus durch Erteilung der erbetenen Bescheinigung unterstützen müssen, zumal er dann seine Arbeit alsbald vertragsgerecht hätte fortsetzen können. Die strafrechtlichen Vorgänge wären den Geschäftspartnern der Beklagten nicht bekannt geworden, auch habe es keinen Zusammenhang zwischen der Tat und seiner Außendiensttätigkeit gegeben. Schließlich hat der Kläger die seiner Verurteilung zugrunde liegende Tat bestritten.

Der Kläger hat beantragt

festzustellen, daß die fristlose Kündigung vom

29. März 1993 unwirksam ist.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie hat vorgetragen, wegen der Schwere des Delikts sei im Kündigungszeitpunkt nicht mit der Möglichkeit zu rechnen gewesen, der Kläger könne als Freigänger alsbald wieder arbeiten. Der Arbeitsplatz des Klägers habe neu besetzt werden müssen, was ab 1. Juli 1993 auch geschehen sei. Im übrigen hätten ein Bekanntwerden der Tat des Klägers und damit negative Auswirkungen auf das Arbeitsverhältnis einkalkuliert werden müssen. Da der Kläger die Tatumstände verschweige, könne auch ein Zusammenhang der Tat mit dessen Außendiensttätigkeit nicht ausgeschlossen werden. Einen freien Arbeitsplatz für den Kläger im Innendienst gebe es nicht. Da der Kläger sie über die Gründe seiner Inhaftierung getäuscht habe, sei auch das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses notwendige Vertrauensverhältnis zerstört. Der Betriebsrat sei vor Ausspruch der Kündigung ordnungsgemäß angehört worden und habe nicht widersprochen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht dieses Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen.

Mit der wegen grundsätzlicher Bedeutung (Reichweite der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers) zugelassenen Revision, deren Zurückweisung die Beklagte beantragt, verfolgt der Kläger seinen Klageantrag weiter. Er vertritt die Ansicht, zwar könne seine Inhaftierung abstrakt einen Grund für eine fristlose Kündigung darstellen, konkret habe es aber an einer betrieblichen Beeinträchtigung gefehlt, welche der Beklagten das Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar gemacht hätte. Aus ihrer Fürsorgepflicht hätte die Beklagte ihm die gewünschte Bescheinigung ausstellen müssen, welche alsbald die Erlangung des Freigängerstatus bewirkt hätte. Dieser Verpflichtung der Beklagten stehe nicht entgegen, daß er die Beklagte zunächst über die Strafhaft getäuscht habe; selbst wenn nämlich darin eine Vertragsverletzung gesehen werden könnte, handele es sich nicht um eine solche von "zweckvereitelnder" Art, vielmehr habe sein Verhalten gerade der Erhaltung der Arbeitsleistung gedient. Daß seine Verurteilung Geschäftspartnern der Beklagten hätte bekannt werden und zu der Beklagten nachteiligen Reaktionen hätte führen können, sei reine Spekulation. Es könne auch keine Rede davon sein, daß die Beklagte mit dem Ausstellen der erbetenen Bescheinigung auf ein bestehendes Kündigungsrecht verzichtet hätte. Im Hinblick auf den Inhalt der bereits am 24. März 1993 erteilten Bescheinigung habe sich die Beklagte mit der Kündigung in Widerspruch zu ihrem eigenen vorherigen Verhalten gesetzt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist nicht begründet.

I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die außerordentliche Kündigung sei durch einen wichtigen Grund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB gerechtfertigt, nämlich durch die mehrjährige Freiheitsstrafe, die der Kläger habe antreten müssen. Die Beklagte habe unbestritten einen längeren Ausfall des Klägers nicht hinnehmen können, sondern den Arbeitsplatz neu besetzen müssen. Überbrückungsmaßnahmen für die Dauer der Freiheitsstrafe seien ihr nicht möglich gewesen. Aus der grundsätzlich auf das Arbeitsverhältnis beschränkten Fürsorgepflicht sei die Beklagte nicht gehalten gewesen, an der Erlangung des Freigängerstatus des Klägers mitzuwirken, denn diese Pflicht gehe nicht soweit, im privaten Leben des Arbeitnehmers eine fürsorgerische Rolle zu übernehmen, zumal es in der Bevölkerung zum Freigängerstatus keinen rechtspolitischen Konsens gebe. Auch hätte die Beklagte mit der Erteilung der erbetenen Bescheinigung auf ihr durch den Strafantritt begründetes Kündigungsrecht endgültig verzichten müssen, was ihr nicht zumutbar gewesen sei. Dieselbe Rechtsordnung könne nicht eine Rechtsposition gewähren und zugleich deren Preisgabe fordern. Desweiteren habe die Beklagte in Rechnung stellen dürfen, daß die Verurteilung des Klägers wegen eines Verbrechens bei ihren Geschäftspartnern bekannt werden könne, was bei diesen zu Zurückhaltung und Befangenheit führen müsse. Im übrigen könne der Kläger sich auf eine Verletzung der Fürsorgepflicht der Beklagten auch deshalb nicht berufen, weil er zuvor den Arbeitsvertrag durch Täuschung der Beklagten über seinen Strafantritt verletzt habe. Schließlich komme verstärkend hinzu, daß die dem Kläger zur Last gelegte Straftat als solche, selbst wenn sie nicht im dienstlichen Bereich vorgefallen sein sollte, kündigungsrechtlich nicht irrelevant sei, weil der Kläger in seinem ständigen unbeaufsichtigten Kundenkontakt Gelegenheit zu gleichartigen Delikten habe. Für den Wiederholungsfall habe die Beklagte befürchten müssen, mit dem Vorwurf pflichtwidriger Untätigkeit konfrontiert zu werden. Das erstmalige Bestreiten der Tat durch den Kläger in der der Urteilsverkündung vorausgehenden mündlichen Verhandlung sei verspätet und zudem mangels jeglicher Substantiierung unbeachtlich. Zumal die Täuschungshandlungen des Klägers belegten, daß dieser zur Vertuschung seiner Straftat zu heimlichen Verletzungen des Arbeitsvertrages bereit sei, könne die Interessenabwägung trotz der Dauer des Arbeitsverhältnisses, des Alters des Klägers und seiner unstreitigen beruflichen Tüchtigkeit nicht zu Lasten der Beklagten ausfallen. Eine ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung vor Ausspruch der Kündigung habe der Kläger in der Berufungsinstanz nicht mehr ausreichend bestritten.

II. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts hält im Ergebnis den Angriffen der Revision stand.

1. Ob das Landesarbeitsgericht die Zulassung der Revision auf die Frage der Reichweite der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers beschränken wollte, kann dahinstehen. Eine solche Beschränkung der Revisionszulassung auf eine einzelne Rechtsfrage wäre zwar unzulässig; die Beschränkung kann nämlich nur für einen tatsächlich und rechtlich selbständigen und abtrennbaren Teil des Streitgegenstands erfolgen, über den auch durch Teil- oder Zwischenurteil gesondert entschieden werden könnte (vgl. BAGE 47, 355 = AP Nr. 8 zu § 17 BetrAVG, m.w.N.). Die unzulässige Beschränkung würde aber nicht zur Unzulässigkeit der Revision, sondern nur dazu führen, daß die Revision uneingeschränkt statthaft ist (BAG aaO).

2. Nach § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Die Prüfung, ob ein bestimmter Sachverhalt die Voraussetzungen eines wichtigen Grundes erfüllt, ist vorrangig Sache des Tatsachengerichts. Es handelt sich um die Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs. Diese kann vom Revisionsgericht nur daraufhin überprüft werden, ob das angefochtene Urteil den Rechtsbegriff selbst verkannt hat, ob es bei der Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnorm des § 626 BGB Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt hat und ob es alle vernünftigerweise in Betracht kommenden Umstände, die für oder gegen eine außerordentliche Kündigung sprechen, beachtet hat (ständige Rechtsprechung des Senats, z.B. Urteil vom 6. August 1987 - 2 AZR 226/87 - und Urteil vom 2. April 1987 - 2 AZR 418/86 - AP Nr. 97 und 96 zu § 626 BGB; Urteil vom 14. September 1994 - 2 AZR 164/94 - zur Veröffentlichung vorgesehen).

3. Das Landesarbeitsgericht ist insoweit zutreffend davon ausgegangen, daß die Unmöglichkeit der Arbeitsleistung für nicht unerhebliche Zeit infolge der Verbüßung einer Strafhaft an sich geeignet ist, eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses gemäß § 626 BGB zu begründen, wenn für den Arbeitgeber zumutbare Überbrückungsmöglichkeiten nicht bestehen und sich die Arbeitsverhinderung konkret nachteilig auf das Arbeitsverhältnis auswirkt, weil sie zu Störungen des Betriebsablaufs führt; dabei sind dem Arbeitgeber allerdings zur Überbrückung des Ausfalls des Arbeitnehmers geringere Anstrengungen und Belastungen zuzumuten als bei einer krankheitsbedingten Kündigung (vgl. Senatsurteil vom 15. November 1984 - 2 AZR 613/83 - AP Nr. 87 zu § 626 BGB; zur Untersuchungshaft vgl. Senatsurteil vom 22. September 1994 - 2 AZR 719/93 - AiB 1995, 119). Von der Möglichkeit des Freigangs gemäß § 11 StVollzG abgesehen ist es nicht zu beanstanden und wird auch von der Revision als zutreffend konzediert, wenn das Landesarbeitsgericht die aufgrund einer 2 1/2jährigen Freiheitsstrafe zu erwartende Abwesenheitszeit als nicht unerheblich ansieht. Daß für die Beklagte hier keine Möglichkeit bestand, eine längere Abwesenheit des Klägers zu überbrücken, sondern daß sie für diesen Fall zur Vermeidung von Betriebsablaufstörungen den Arbeitsplatz des Klägers sofort neu besetzen mußte, hat das Landesarbeitsgericht für den Senat gemäß § 561 Abs. 2 ZPO bindend festgestellt und Revisionsangriffe sind gegen diese Feststellungen nicht erhoben.

4. Nicht gefolgt werden kann dem Landesarbeitsgericht allerdings darin, aus der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers könne eine Verpflichtung zur Mitwirkung bei dem Bemühen des inhaftierten Arbeitnehmers um die alsbaldige Erlangung des Freigängerstatus schon deshalb nicht abgeleitet werden, weil die Freiheitsstrafe zur Privatsphäre des Arbeitnehmers zähle, über den Freigang in der Bevölkerung kein rechtspolitischer Konsens bestehe und der Arbeitgeber anderenfalls auf sein Kündigungsrecht verzichten, also eine ihm von der Rechtsordnung gewährte Rechtsposition preisgeben müsse.

Die Strafhaft betrifft eben nicht nur die Privatsphäre des Arbeitnehmers, sondern kommt gerade deshalb als Kündigungsgrund in Betracht, weil sie die geschuldete Arbeitsleistung unmöglich macht. Erst die konkreten negativen Auswirkungen auf das Arbeitsverhältnis machen die Haft zum potentiellen Kündigungsgrund. Wenn vom Arbeitgeber, wovon zutreffend auch das Landesarbeitsgericht ausgeht, zu verlangen ist, daß er durch mögliche und zumutbare Überbrückungsmaßnahmen eine Kündigung entbehrlich macht, also den Betriebsablauf störende Auswirkungen der Unmöglichkeit der Arbeitsleistung beseitigt, so ist erst recht zu fordern, daß er den Eintritt der Unmöglichkeit zu verhindern hilft. Hat die der Strafhaft des Arbeitnehmers zugrunde liegende Tat keinen solchen Bezug zum Arbeitsverhältnis, daß sie selbst als (i.d.R. verhaltensbedingter) Kündigungsgrund in Betracht kommt, so ist der Arbeitgeber in den Grenzen des Zumutbaren gehalten, an der Erlangung des Freigängerstatus mitzuwirken, um dem Arbeitnehmer die vertragliche Arbeitsleistung zu ermöglichen. Dies folgt aus der allgemeinen Fürsorgepflicht des Arbeitgebers, welche als Ausfluß des in § 242 BGB niedergelegten Gedankens von Treu und Glauben den Inhalt des Schuldverhältnisses bestimmt; der Arbeitgeber darf danach dem Arbeitnehmer nicht grundlos Nachteile zufügen oder ihn der Gefahr eines Schadens aussetzen (vgl. BAG Urteil vom 14. September 1994 - 5 AZR 632/93 - AiB 1995, 138, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen). Zum gleichen Ergebnis, nämlich der grundsätzlichen Bejahung einer Mitwirkungspflicht an der Erlangung des Freigängerstatus, führt der Rechtsgedanke des § 162 BGB. Zwar ist bei einer analogen Anwendung dieser Vorschrift Zurückhaltung geboten, einen Kern des übertragbaren Gedankenguts bildet aber der Fall der Verweigerung einer billigerweise zu erwartenden Mitwirkung (vgl. MünchKomm-Westermann, BGB, 3. Aufl., § 162 Rz 18, 19).

Bei der Beantwortung der Frage, was Treu und Glauben im Einzelfall gebieten, ist eine sorgfältige Abwägung der beiderseitigen Interessen erforderlich, wobei auch auf die in den Grundrechten zum Ausdruck gekommenen Wertentscheidungen der Verfassung Bedacht zu nehmen ist; den konkurrierenden Rechtspositionen der Parteien haben die Gerichte ausgewogen Rechnung zu tragen (vgl. BAG Urteil vom 14. September 1994 - 5 AZR 632/93 -, aaO, m.w.N.). Im Fall der Arbeitgeberkündigung steht der unternehmerischen Freiheit des Arbeitgebers einschließlich der Entscheidung darüber, welche Arbeitnehmer er wielange beschäftigt (Art. 2 Abs. 1, 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 GG; vgl. KR-Wolf, 3. Aufl., Grunds. Rz 42 b; Scholz in Maunz/Dürig, GG, Stand: September 1991, Art. 12 Rz 50), das auch die Beibehaltung des gewählten Arbeitsplatzes umfassende Freiheitsrecht des Arbeitnehmers aus Art. 12 Abs. 1 GG gegenüber (vgl. BVerfGE 84, 133; KR-Wolf, aaO). Letzteres überwiegt, wenn die der Haft zugrunde liegende Straftat keinen Bezug zum Arbeitsverhältnis hatte und wenn der Arbeitgeber Störungen der betrieblichen Belange dadurch ausschließen kann, daß er dem Arbeitnehmer zum Freigang verhilft. Ob der Arbeitgeber dem § 11 StVollzG zugrunde liegenden Resozialisierungsgedanken eher aufgeschlossen oder mehr zurückhaltend gegenüber steht, ist zwar für die gebotene Abwägung nicht völlig bedeutungslos, denn im Rahmen der umfassenden Interessenabwägung sind auch subjektive Elemente mit zu berücksichtigen (vgl. MünchKomm-Roth, BGB, 3. Aufl., § 242 Rz 36). Allerdings wird das Interesse des Arbeitnehmers am Erhalt seines Arbeitsplatzes hier regelmäßig überwiegen. Im übrigen hat sich die Beklagte auf eine ablehnende oder auch nur kritische Haltung gegenüber der gesetzlichen Möglichkeit des Freigangs nicht berufen.

Mit der Erteilung der erbetenen Bescheinigung verzichtet der Arbeitgeber auch nicht auf ein etwaiges Kündigungsrecht, das entstehen könnte, wenn doch noch Störungen des Arbeitsverhältnisses (z.B. aufgrund der Verweigerung des Freigangs oder von Reaktionen der Kunden oder Mitarbeiter) eintreten; jedenfalls kann der Arbeitgeber durch Anfügung eines entsprechenden Vorbehalts die Gefahr einer solchen Auslegung seiner Bescheinigung beseitigen. Auch die Beklagte hat sich in ihrer Bescheinigung vom 24. März 1993 entsprechend abgesichert.

5. Obgleich demnach die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers im Einzelfall eine Mitwirkung bei dem Bemühen des Arbeitnehmers um die Erlangung des Freigängerstatus gebieten kann, hat das Landesarbeitsgericht vorliegend eine solche Verpflichtung der Beklagten im Ergebnis zutreffend verneint. Sind nämlich Befürchtungen des Arbeitgebers, die Straftat des Arbeitnehmers und seine Verurteilung zur Strafhaft könnten bei anderen Mitarbeitern oder bei Geschäftspartnern bekannt werden und zu dem Arbeitgeber nachteiligen Reaktionen führen, nicht von der Hand zu weisen, so überwiegt in der Regel das Interesse des Arbeitgebers: Eine risikobehaftete Mitwirkung ist ihm grundsätzlich nicht zuzumuten und zwar nicht erst dann, wenn die Befürchtungen so naheliegend sind, daß sie der Straftat selbst das Gewicht eines Kündigungsgrundes geben. Letztlich kommt es insoweit auf den Grad der Wahrscheinlichkeit von künftigen Störungen des Arbeitsverhältnisses und deren Schwere an. Nur wenn eine objektive Prognose Störungen des Betriebsfriedens oder des Betriebsablaufs als ganz fernliegend bzw. geringfügig erweist, kann von dem Arbeitgeber nach Treu und Glauben erwartet werden, daß er dem Arbeitnehmer zum Freigängerstatus verhilft und damit die Unmöglichkeit der Arbeitsleistung als Kündigungsgrund ausräumt.

Wenn das Landesarbeitsgericht vorliegend aus der Art des Delikts sowie aus der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung und dem Umstand, daß zahlreiche Personen mit dem Vorgang dienstlich oder privat befaßt bzw. von ihm betroffen waren, den Schluß zieht, ein Bekanntwerden der Tat und der Verurteilung des Klägers bei den von ihm zu betreuenden Kunden der Beklagten sei nicht nur eine fernliegende theoretische Möglichkeit, so ist dies revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Dies gilt auch für die weitere Folgerung, die von dem Kläger zu betreuenden Kunden könnten mit Zurückhaltung und Befangenheit reagieren, wenn ihnen bekannt werde, daß sie mit einem wegen des Verbrechens der Vergewaltigung rechtskräftig Verurteilten verhandelten, der nach seiner Arbeitszeit in die Justizvollzugsanstalt zurückzukehren habe. Die Beklagte durfte ferner, wie das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt hat, bei Ablehnung der Mitwirkung an der Erlangung des Freigängerstatus auch in Rechnung stellen, daß sie den Kläger bei seiner Arbeit im Außendienst nicht beaufsichtigen könnte und mit dem Vorwurf eigener Pflichtverletzung konfrontiert würde, falls sich der Kläger gegenüber einer Kundin oder einer deren Mitarbeiterinnen erneut ein Sittlichkeitsdelikt zu schulden kommen ließe.

Mit Recht weist die Beklagte darauf hin, daß für die Frage der Reichweite ihrer Fürsorgepflicht auf ihren Kenntnisstand im Zeitpunkt der Kündigung abzustellen ist. Die Beklagte hatte damals von den Umständen der Tat keinerlei Kenntnis, der Kläger hat dazu erstmals in der Revisionsinstanz mit seinem Schriftsatz vom 3. März 1995 näher vorgetragen. Auch von der Inaussichtstellung der Gewährung des Freigangs war der Beklagten damals nichts bekannt. Zwar sind für die hinsichtlich der Kündigung gebotene Interessen- und Risikoabwägung grundsätzlich die objektiven Umstände zum Kündigungszeitpunkt maßgeblich, gleichgültig, ob sie dem Arbeitgeber bekannt waren oder nicht (vgl. Senatsurteil vom 14. September 1994 - 2 AZR 164/94 -, zur Veröffentlichung vorgesehen). Vorliegend geht es aber zunächst um die Reichweite der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers. Insoweit kann sich der Arbeitnehmer aber dann nicht auf eine fehlerhafte Risikoabwägung mit der Folge einer Verletzung der Fürsorgepflicht berufen, wenn er selbst, obgleich ihm dies möglich war, dem Arbeitgeber den für die Risikoabwägung notwendigen Kenntnisstand nicht verschafft, sondern ihn im Gegenteil über den Grund seiner Arbeitsverhinderung zunächst getäuscht und ihn dann auch im unmittelbaren Vorfeld der Kündigung nicht über die Umstände der Tat und des Strafverfahrens aufgeklärt hat. Ein Arbeitnehmer, der aus Treu und Glauben die Fürsorge des Arbeitgebers in Form von dessen Mitwirkung bei der Erlangung des Freigängerstatus in Anspruch nehmen und sich im Kündigungsschutzprozeß auf die Verletzung der Fürsorgepflicht berufen will, darf nicht zuvor selbst den Grundsätzen von Treu und Glauben zuwider gehandelt haben; vielmehr ist er aufgrund seiner mit der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers korrespondierenden Treuepflicht gehalten, rechtzeitig "die Karten offen auf den Tisch zu legen" und dem Arbeitgeber so eine den tatsächlichen Umständen gerecht werdende Interessen- und Risikoabwägung zu ermöglichen. Dies hat der Kläger vorliegend nicht beachtet. Sein Einwand, für den Umfang der Fürsorgepflicht der Beklagten und damit für die Wirksamkeit der Kündigung könnten daraus keine ihm nachteiligen Schlußfolgerungen gezogen werden, weil es sich nicht um eine Vertragsverletzung "zweckvereitelnder" Art gehandelt habe, ist nicht stichhaltig. Es geht vorliegend nicht darum, ob der Kläger mit der Täuschung bzw. unzureichenden Information der Beklagten seine Arbeitsleistung vereiteln oder im Gegenteil ermöglichen wollte, sondern ob er der Beklagten eine sachgerechte Entscheidung über ihre Mitwirkung bei der Erlangung des Freigängerstatus ermöglicht oder unmöglich gemacht hat. Letzteres ist dem Kläger hier vorzuhalten, weshalb er sich nach Treu und Glauben nicht darauf berufen kann, bei Kenntnis aller Umstände des Falles sei die Verweigerung der erbetenen Bescheinigung durch die Beklagte als pflichtwidrig anzusehen und die Kündigung deshalb unwirksam.

6. Entgegen der Ansicht der Revision hat sich die Beklagte mit der Kündigung nicht in Widerspruch zu ihrem eigenen vorherigen Verhalten gesetzt. Zum einen hat sich der Kläger die Bescheinigung der Beklagten vom 24. März 1993 mit der unzutreffenden Information, er sei in Untersuchungshaft, erschlichen; damals durfte die Beklagte von der jedem strafrechtlich nicht rechtskräftig Verurteilten zustehenden Unschuldsvermutung ausgehen. Zum anderen hat sich die Beklagte in dieser Bescheinigung die Kündigung ausdrücklich vorbehalten. Dieser Vorbehalt konnte nur dahingehend verstanden werden, daß die Beklagte sich die Entscheidung über ihr weiteres Vorgehen nach ihrem jeweiligen Kenntnisstand hinsichtlich der dem Kläger zum Vorwurf gemachten Straftat und der Auswirkungen auf das Arbeitsverhältnis offenhalten wollte. Wenn sie dann mit der Kündigung von diesem Vorbehalt Gebrauch gemacht hat, so ist dies rechtlich nicht zu beanstanden.

7. Die Kündigung ist vorliegend auch nicht deshalb unwirksam, weil die Bewilligung des Freigangs für den Kläger trotz der fehlenden Mitwirkung der Beklagten noch innerhalb eines Zeitraums zu erwarten stand, den die Beklagte in etwa für eine anderweitige Neubesetzung des Arbeitsplatzes einkalkulieren mußte. Der Kläger selbst hat vorgetragen, daß die Vollstreckungsbehörde die Bewilligung des Freigangs nur für den Fall der Erteilung einer entsprechenden Bescheinigung durch die Beklagte in Aussicht gestellt habe. Dies steht im Einklang mit § 11 Abs. 1 Nr. 1 StVollzG, der die Bewilligung des Freigangs ausschließlich für die Ermöglichung einer regelmäßigen Beschäftigung außerhalb der Anstalt vorsieht. Es ist nicht ersichtlich, daß der Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt der Kündigung mit der alsbaldigen Bewilligung des Freigangs unabhängig von einer Mitwirkung der Beklagten rechnen durfte, schon gar nicht, daß die Beklagte hiervon Kenntnis hatte. Da die Beklagte aber nach den bindenden Feststellungen des Landesarbeitsgerichts den Arbeitsplatz des Klägers alsbald wieder besetzen mußte und eine Versetzungsmöglichkeit auf einen freien Arbeitsplatz im Innendienst, bei dem der Ausfall des Klägers zu überbrücken gewesen wäre, nicht bestand, durfte die Beklagte das Arbeitsverhältnis kündigen.

8. Die Einhaltung der Kündigungsfrist von sechs Monaten zum Ende des Quartals war der Beklagten dabei nicht zuzumuten. Zwar wäre sie für die Dauer der Unmöglichkeit der Arbeitsleistung nicht mit Gehaltsansprüchen des Klägers belastet gewesen, denn die Arbeitsverhinderung bestand weder nur für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit noch war sie im Sinne von § 616 BGB unverschuldet (vgl. BAG Urteil vom 15. November 1984 - 2 AZR 613/83 - AP Nr. 87 zu § 626 BGB). Andererseits war für die Beklagte aber auch nicht ausreichend abzusehen, wie sich die Haftbedingungen für den Kläger unter dem Aspekt der Möglichkeit seiner Arbeitsleistung entwickeln würden. Wegen der beabsichtigten raschen Neubesetzung des Arbeitsplatzes, welche zum 1. Juli 1993 dann auch tatsächlich erfolgen konnte, hätte für die Beklagte bei Einhaltung der Kündigungsfrist die Gefahr bestanden, für längere Zeit - hier tatsächlich für drei Monate - nicht nur dem Nachfolger des Klägers, sondern aus dem Gesichtspunkt des Annahmeverzuges (§ 615 BGB) zusätzlich auch dem Kläger zur Gehaltszahlung verpflichtet zu sein. Dieser Gefahr brauchte sich die Beklagte nicht auszusetzen. Die insoweit nach § 626 Abs. 1 BGB gebotene Interessenabwägung hat das Landesarbeitsgericht zutreffend vorgenommen, sie wird von der Revision auch nicht angegriffen.

9. Auf die Frage, ob die Kündigung unter Berücksichtigung der Außendiensttätigkeit des Klägers schon aufgrund der begangenen Straftat gerechtfertigt wäre, bzw. ob bereits die Täuschung über den Grund der Arbeitsverhinderung die Beklagte zur Kündigung berechtigen würde, kommt es somit nicht mehr an. Die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats hat der Kläger in der Berufungsinstanz nicht mehr in Zweifel gezogen. Aufgrund des festgestellten Sachverhalts durfte das Landesarbeitsgericht von der ordnungsgemäßen Anhörung ausgehen. Revisionsrechtlich durchgreifende Rügen hat der Kläger dagegen nicht erhoben. Soweit er in der mündlichen Verhandlung vom 9. März 1995 die unzureichende Betriebsratsanhörung mit neuem Sachvortrag neuerlich gerügt hat, ist dies gemäß § 561 ZPO unbeachtlich.

Etzel Bitter Fischermaier

Strümper Piper

 

Fundstellen

Haufe-Index 437983

BB 1995, 622

DB 1995, 1716-1718 (LT1-2)

DStR 1996, 33 (K)

NJW 1995, 3007

NJW 1995, 3007 (L)

BuW 1995, 515-516 (K)

EBE/BAG 1995, 101-104 (LT1-2)

WiB 1995, 911 (LT)

ARST 1995, 197-199 (LT1-2)

JR 1996, 88

NZA 1995, 777

NZA 1995, 777-780 (LT1-2)

VersorgW 1995, 144 (K)

ZAP, EN-Nr 331/95 (S)

AP § 626 BGB (LT1-2), Nr 123

DVP 1995, 441 (ST)

EzA § 626 nF BGB, Nr 154 (LT1-2)

NJ 1995, 560 (L)

PersF 1995, 432 (T)

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