Entscheidungsstichwort (Thema)

Lohnfortzahlung bei Schwangerschaftsabbruch

 

Leitsatz (amtlich)

Der Arbeitgeber ist auch dann zur Lohnfortzahlung nach § 1 Abs 1, Abs 2 LFZG verpflichtet, wenn die Arbeiterin einen auf Grund der Indikationsregelung des § 218a Abs 1 und Abs 2 StGB straffreien Schwangerschaftsabbruch vornehmen läßt und im Zusammenhang damit krankheitsbedingt arbeitsunfähig ist. Ein nach § 218a Abs 1 und Abs 2 StGB straffreier Schwangerschaftsabbruch ist nicht rechtswidrig im Sinne von § 1 Abs 2 Satz 2 LFZG.

 

Normenkette

LFZG § 1 Abs. 1-2; StGB § 11 Abs. 1 Nr. 5, §§ 34, 218, 218a; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2, Art. 4 Abs. 1; RVO § 200 f.; SGB X § 115 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LAG Hamm (Urteil vom 13.05.1987; Aktenzeichen 1 Sa 443/87)

ArbG Iserlohn (Urteil vom 16.01.1987; Aktenzeichen 3 Ca 1083/86)

 

Tenor

  • Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 13. Mai 1987 – 1 Sa 443/87 – wird zurückgewiesen.
  • Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte der Klägerin aus übergegangenem Recht (§ 115 Abs. 1 SGB X) Lohnfortzahlung schuldet.

Bei der Klägerin ist die am 20. August 1963 geborene Frau F… E… gegen Krankheit versichert. Frau E… (im folgenden kurz: die Versicherte) war bei der Beklagten als Arbeiterin beschäftigt. Vom 3. bis zum 25. Oktober 1985 war die Versicherte arbeitsunfähig krank, nachdem sie an sich einen Schwangerschaftsabbruch hatte vornehmen lassen. Der Abbruch der Schwangerschaft geschah auf der Grundlage der allgemeinen Notlagenindikation durch einen Arzt vor Ablauf von zwölf Wochen seit der Empfängnis. Ihm waren die für eine Straflosigkeit erforderlichen Feststellungen und Maßnahmen – Indikationsfeststellung, Indikationsbescheinigung, Sozialberatung, ärztliche Beratung, Beachtung der Fristen – vorausgegangen.

Da die Beklagte der Versicherten die Lohnfortzahlung verweigerte, gewährte die Klägerin ihr für die Dauer der auf dem Schwangerschaftsabbruch beruhenden Arbeitsunfähigkeit Krankengeld in Höhe von 775,60 DM. Wegen dieses Betrages nimmt die Klägerin die Beklagte in Anspruch.

Die Klägerin hat vorgetragen, der Schwangerschaftsabbruch der Versicherten sei rechtmäßig gewesen. Die Beklagte hätte der Versicherten daher wegen ihrer unverschuldeten Arbeitsunfähigkeit den Lohn weiterzahlen müssen. Da sie wegen der Weigerung der Beklagten Krankengeld gewährt habe, sei der Lohnfortzahlungsanspruch der Versicherten in Höhe der Krankengeldzahlung auf sie, die Klägerin, übergegangen. Die Beklagte sei seit dem 3. Juni 1986 mit der Erfüllung dieses Anspruchs in Verzug.

Die Klägerin hat daher beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie 775,60 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 3. Juni 1986 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

das Verfahren auszusetzen und dem Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 GG folgende Frage zur Entscheidung vorzulegen:

Ist § 1 Abs. 2 des LohnFG in der Fassung des Gesetzes über ergänzende Maßnahmen zum Fünften Strafrechtsreformgesetz vom 28. August 1975 (BGBl. I S. 2289) mit Art. 2 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 sowie Art. 12 des Grundgesetzes vereinbar, soweit der Arbeitgeber durch diese Vorschrift verpflichtet ist, in den Fällen des § 218a Abs. 2 StGB, insbesondere aber auch in den Fällen des § 218a Abs. 2 Nr. 3 StGB, Lohnfortzahlung zu gewähren?

Sie hat die Auffassung vertreten, zur Lohnfortzahlung nicht verpflichtet zu sein. Auch wenn die bei der Versicherten vorgenommene Abtreibung straflos sei, könne von fehlender Rechtswidrigkeit bei einem Schwangerschaftsabbruch auf Grund allgemeiner Notlagenindikation nicht gesprochen werden. Denn diese Indikation stelle im strafrechtlichen Sinne keinen Rechtfertigungsgrund, sondern allenfalls einen Entschuldigungsgrund dar. Auch die Klägerin hätte deshalb an die Versicherte kein Krankengeld zahlen dürfen. Es könne aber auch kein Arbeitgeber gezwungen werden, durch Lohnfortzahlung Abtreibungen Vorschub zu leisten. Jedenfalls sei dies dann ausgeschlossen, wenn, wie vorliegend, die Geschäftsführer der Beklagten aus sittlichen Erwägungen jede Tötung vorgeburtlichen menschlichen Lebens ablehnten.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landesarbeitsgericht der Klage stattgegeben. Dagegen richtet sich die Revision, mit der die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils erstrebt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Versicherte habe den Schwangerschaftsabbruch unter den Voraussetzungen der allgemeinen Notlagenindikation des § 218a Abs. 2 Nr. 3 StGB an sich vornehmen lassen. Diese Tat sei nicht strafbar und deshalb nach § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB im Sinne des Strafgesetzbuches nicht rechtswidrig. § 1 Abs. 2 LFZG sei ebenso wie § 200 f. RVO durch das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz vom 28. April 1975 eingefügt worden, um die Bestrebungen der Strafrechtsreform zu den §§ 218 ff. StGB zu ergänzen. Ein von § 218a Abs. 2 Nr. 3 StGB erfaßter Schwangerschaftsabbruch sei daher auch nicht rechtswidrig im Sinne des § 1 Abs. 2 LFZG. Bei dieser Sachlage sei eine unterschiedliche Bewertung der drei Indikationsstellungen des § 218a Abs. 2 StGB hinsichtlich ihrer Rechtfertigung nicht angängig. Der Auffassung, ein Schwangerschaftsabbruch unter der Voraussetzung der Notlagenindikation sei rechtswidrig, könne nicht gefolgt werden. Die Entstehungsgeschichte des Gesetzes und der darin zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Wille stünden dem entgegen. Im Streitfall erfülle die Versicherte daher die gesetzlichen Voraussetzungen des Lohnfortzahlungsanspruchs nach § 1 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 2 LFZG. Der Anspruch der Versicherten gegen die Beklagte auf Lohnfortzahlung in Höhe des von der Klägerin geleisteten Krankengeldes sei gemäß § 115 Abs. 1 SGB X auf die Klägerin übergegangen. Sie erhebe ihn gegenüber der Beklagten zu Recht.

Dem Landesarbeitsgericht ist im Ergebnis wie auch in weiten Teilen seiner Begründung beizupflichten.

II.1. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 LFZG behält der Arbeiter (die Arbeiterin) den Anspruch auf Arbeitsentgelt bis zur jeweiligen Dauer von sechs Wochen, wenn er (sie) seine (ihre) Arbeitsleistung infolge unverschuldeter Krankheit nicht erbringen kann. Nach § 1 Abs. 2 Satz 1 LFZG gilt die eben genannte Grundregel für die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall entsprechend, wenn die Arbeitsunfähigkeit infolge Abbruchs der Schwangerschaft durch einen Arzt eintritt. Ein nicht rechtswidriger Abbruch der Schwangerschaft durch einen Arzt gilt als unverschuldete Verhinderung an der Arbeitsleistung (Satz 2, aaO). Die Ausdehnung des Lohnfortzahlungsanspruchs bei Abbruch der Schwangerschaft ist in das Lohnfortzahlungsgesetz durch das Gesetz über ergänzende Maßnahmen zum Fünften Strafrechtsreformgesetz (Strafrechtsreform – Ergänzungsgesetz -- StREG) vom 28. August 1975 (BGBl. I S. 2289) eingefügt worden (vgl. weiter § 616 Abs. 2 Satz 3 BGB, § 63 Abs. 1 Satz 2 HGB, § 133c Satz 4 GewO).

2. Unter welchen Voraussetzungen ein – nicht rechtswidriger – Abbruch der Schwangerschaft durch einen Arzt vorliegt, regelt das Gesetz nicht ausdrücklich. Aus seiner Entstehungsgeschichte ergibt sich jedoch, daß darunter zu verstehen ist ein im Sinne des § 218a StGB nicht strafbarer, also erlaubter Schwangerschaftsabbruch (im Ergebnis ebenso Schmatz/Fischwasser/Geyer/Knorr, Vergütung der Arbeitnehmer bei Krankheit und Mutterschaft, 6. Aufl., Stand Oktober 1988, § 1 Rz 160; ferner Kaiser/Dunkel, Die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle, 2. Aufl., § 1 Rz 145 sowie Marienhagen, Lohnfortzahlungsgesetz, Stand August 1987, § 1 Rz 44; vgl. weiter BGHZ 86, 240, 245 sowie BSGE 57, 184, 189; anders G. Müller, DB 1986, S. 2667 ff., der auf die strafrechtliche Bedeutung des Begriffs der Rechtswidrigkeit abstellt).

§ 218a StGB in der Fassung des Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts vom 18. Juni 1974 (BGBl. I S. 1297) sah vor, den Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen seit der Empfängnis unter bestimmten Voraussetzungen straffrei bleiben zu lassen (sogenannte Fristenregelung). Diese Reformbestrebungen durch flankierende sozialpolitische Maßnahmen zu unterstützen, war das Ziel des Gesetzes über ergänzende Maßnahmen zum Fünften Strafrechtsreformgesetz vom 28. August 1975 (BGBl.I S. 2289). Der Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und der FDP vom 21. März 1973 (BT-Drucks. 7/376) enthielt noch keinen Vorschlag zur Ergänzung des Lohnfortzahlungsgesetzes. Ein solcher findet sich erstmals im Bericht und Antrag des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuß) vom 5. März 1974 (BT-Drucks. 7/1753). Danach sollte “ein erlaubter Abbruch der Schwangerschaft” als unverschuldete Verhinderung an der Arbeitsleistung gelten (BT-Drucks. aaO, S. 10). Demgegenüber zielten ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vom 20. März 1974 (BT-Drucks. 7/1839) und die Begründung des Bundesrates für die Anrufung des Vermittlungsausschusses vom 13. Mai 1974 darauf ab, nach den Worten “Abbruch der Schwangerschaft” die Worte einzufügen “In Fällen einer anerkannten Indikation” (BT-Drucks. 7/2088 S. 1, 2).

Daraufhin schlug der angerufene Vermittlungsausschuß in seinem Antrag vom 13. Juni 1975 (BT-Drucks. 7/3778) – unter anderem – vor, § 1 Abs. 2 des Lohnfortzahlungsgesetzes dahin zu fassen, daß “ein nicht rechtswidriger Abbruch der Schwangerschaft durch einen Arzt” als unverschuldete Verhinderung an der Arbeitsleistung gelten solle (S. 3, aaO). Gleichzeitig – und zwar der Änderung des Lohnfortzahlungsgesetzes teils vorhergehend, teils ihr folgend – verlangte der Vermittlungsausschuß die entsprechende Änderung der §§ 200 f., 200g, 205, 368, 507 RVO, bestimmter weiterer sozialversicherungsrechtlicher Vorschriften und schließlich der §§ 616 Abs. 2 Satz 3, 616 Abs. 3 BGB, § 63 Abs. 1 Satz 2 HGB, § 133c Satz 4 GewO, §§ 52a, 78 Abs. 2 des Seemannsgesetzes sowie § 12 Abs. 1 des Berufsbildungsgesetzes. In allen diesen Fällen wird gleichlautend das Tatbestandsmerkmal “nicht rechtswidriger Abbruch der Schwangerschaft durch einen Arzt” verwandt. Daß damit über die Absicht, in allen einschlägigen Vorschriften eine einheitliche Terminologie zu gebrauchen, hinausgehende inhaltliche Änderungen angestrebt wurden, ist nicht erkennbar. Die vom Vermittlungsausschuß eingeführte Wendung hat dann Eingang in das Gesetz vom 28. August 1975 (BGBl. I S. 2289) gefunden.

3. Dieses Ergebnis stimmt überein mit Sinn und Zweck des Gesetzes. § 1 Abs. 2 LFZG will die Neuregelung des straffreien Schwangerschaftsabbruchs arbeitsrechtlich durch die Einräumung eines Anspruchs dahin ergänzen, daß der Arbeiterin bei Einhaltung des zur Straffreiheit führenden Verfahrens im Fall der Arbeitsunfähigkeit im Zusammenhang mit dem Schwangerschaftsabbruch der Anspruch auf Krankenbezüge zur Existenzsicherung erhalten bleibt.

Wenn § 1 Abs. 2 Satz 2 LFZG bestimmt, der nicht rechtswidrige Schwangerschaftsabbruch durch einen Arzt sei der Frau nicht als Verschulden im Sinne des Lohnfortzahlungsgesetzes vorzuwerfen, so meint das Gesetz damit den Schwangerschaftsabbruch, der nach den Voraussetzungen der strafrechtlichen Vorschriften des § 218a StGB ein für die Schwangere erlaubter und deshalb straffreier Abbruch ist. Deshalb kann dahinstehen, ob insoweit auch ein nach strafrechtsdogmatischer Auffassung rechtmäßiges Handeln vorliegt, d.h. ob die Indikationen des § 218a StGB als Rechtfertigungsgründe oder nur als Schuldausschließungsgründe (Unrechtsausschließungsgründe, Strafausschließungsgründe) zu werten sind (vgl. zu dem Meinungsstreit einerseits Eser in Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 23. Aufl., § 218a Rz 5 mit zahlreichen weiteren Nachweisen; ferner Roxin, JuS 1988, 425, 431, zu V a.E.; Jeschek, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 4. Aufl., S. 318 sowie Bernsmann, AuR 1989, 10 ff.; andererseits Dreher/Tröndle, Strafgesetzbuch, 44. Aufl., vor § 218 Rz 9, ebenfalls mit zahlreichen weiteren Nachweisen).

III. Allerdings hängt die Wirksamkeit von § 1 Abs. 2 LFZG davon ab, daß die strafrechtlichen Bestimmungen über den Schwangerschaftsabbruch nicht gegen Verfassungsnormen verstoßen. Dahingehende Bedenken greifen jedoch deshalb nicht durch, weil diese Bestimmungen den Anforderungen gerecht werden, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 25. Februar 1975 (BVerfGE 39, 1 ff.) für eine dem Schutz des ungeborenen Kindes dienende und aus der Sicht der Verfassung nicht zu beanstandende Ausgestaltung der strafrechtlichen Vorschriften über den Schwangerschaftsabbruch aufgestellt hat.

1. Das Bundesverfassungsricht hat durch die genannte Entscheidung § 218a StGB in der Fassung des Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts vom 18. Juni 1974 (BGBl. I S. 1297) für verfassungswidrig erklärt. Unberührt hiervon blieb das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz vom 28. August 1975 mit seinen sozial- und arbeitsrechtlichen Maßnahmen. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, die inhaltliche Unabhängigkeit dieses Gesetzes vom Fünften Strafrechtsreformgesetz ergebe sich schon daraus, daß das Strafrechtsreform-Ergänzungsgesetz seinem Wortlaut nach auf alle für die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs vorgeschlagenen Lösungen, nämlich die “Fristenlösung” und die drei “Indikationslösungen” anwendbar sei (S. 35).

Zur Verfassungswidrigkeit des § 218a StGB in der Fassung des 5. StrRG vom 18. Juni 1974 hat das Bundesverfassungsgericht unter anderem ausgeführt, Art. 2 Satz 2 Abs. 1 GG schütze auch das sich im Mutterleib entwickelnde Leben als selbständiges Rechtsgut (S. 36). Bereits unmittelbar aus dieser Vorschrift folge die Pflicht des Staates, jedes menschliche Leben zu schützen. Sie ergebe sich darüber hinaus auch aus der ausdrücklichen Vorschrift des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG (S. 41). Das menschliche Leben stelle innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar. Die Verpflichtung des Staates, das sich entwickelnde Leben zu schützen, bestehe grundsätzlich auch gegenüber der Mutter (S. 42). Die Rechtsordnung dürfe nicht das Selbstbestimmungsrecht der Frau zur alleinigen Richtschnur ihrer Regelungen machen. Der Staat müsse grundsätzlich von einer Pflicht zur Austragung der Schwangerschaft ausgehen, ihren Abbruch also grundsätzlich als Unrecht ansehen (S. 44).

Allerdings könne das Lebensrecht des Ungeborenen zu einer Belastung der Frau führen, die wesentlich über das normalerweise mit einer Schwangerschaft verbundene Maß hinausgehe. In einer solchen Konfliktlage, die im allgemeinen auch keine eindeutige moralische Beurteilung zulasse und in der die Entscheidung zum Abbruch einer Schwangerschaft den Rang einer achtenswerten Gewissensentscheidung haben könne, sei der Gesetzgeber zur besonderen Zurückhaltung verpflichtet. Wenn er in diesen Fällen das Verhalten der Schwangeren nicht als strafwürdig ansehe und auf das Mittel der Kriminalstrafe verzichte, so sei das jedenfalls als Ergebnis einer dem Gesetzgeber obliegenden Abwägung auch verfassungsrechtlich hinzunehmen (S. 48). Unzumutbar erscheine die Fortsetzung der Schwangerschaft insbesondere, wenn sich erweise, daß der Abbruch erforderlich sei, um von der Schwangeren “eine Gefahr für ihr Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung ihres Gesundheitszustandes abzuwenden”. In diesem Falle stehe ihr eigenes “Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit” (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) auf dem Spiel, dessen Aufopferung für das ungeborene Leben von ihr nicht erwartet werden könne. Darüber hinaus stehe es dem Gesetzgeber frei, auch bei anderen außergewöhnlichen Belastungen für die Schwangere, die unter dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit ähnlich schwer wögen, den Schwangerschaftsabbruch straffrei zu lassen. Hierzu könnten insbesondere die Fälle der eugenischen, der ethischen (krimonologischen) und der Notlagenindikation zum Schwangerschaftsabbruch gezählt werden (S. 49).

Der entscheidende Gesichtspunkt sei, daß in allen diesen Fällen ein anderes, vom Standpunkt der Verfassung aus ebenfalls schutzwürdiges Interesse sich mit solcher Dringlichkeit geltend mache, daß die staatliche Rechtsordnung nicht verlangen könne, die Schwangere müsse hier dem Recht des Ungeborenen unter allen Umständen den Vorrang einräumen. Auch die Indikation der allgemeinen Notlage könne hierher eingeordnet werden. Denn die allgemeine soziale Lage der Schwangeren und ihrer Familie könne Konflikte von solcher Schwere erzeugen, daß von der Schwangeren über ein bestimmtes Maß hinaus Opfer zugunsten des ungeborenen Lebens mit den Mitteln des Strafrechts nicht erzwungen werden könnten. Bei der Regelung dieses Indikationsfalles müsse der Gesetzgeber den straffreien Tatbestand so umschreiben, daß die Schwere des hier vorauszusetzenden sozialen Konflikts deutlich erkennbar werde und – unter dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit betrachtet – die Kongruenz dieser Indikation mit den anderen Indikationsfällen gewahrt bleibe. Wenn der Gesetzgeber echte Konfliktsfälle dieser Art aus dem Strafrechtsschutz herausnehme, verletze er nicht seine Verpflichtung zum Lebensschutz. In allen anderen Fällen bleibe der Schwangerschaftsabbruch strafwürdiges Unrecht (S. 50).

2. Im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sind die §§ 218a ff. StGB durch Gesetz vom 18. Mai 1976 (BGBl. I S. 1213) geändert worden. Nach § 218a Abs. 1 StGB ist der Abbruch der Schwangerschaft durch einen Arzt “nicht nach § 218 strafbar”, wenn 1. die Schwangere einwilligt und 2. der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann. Nach § 218a Abs. 2 StGB gelten die Voraussetzungen des Absatzes 1 Nr. 2 auch als erfüllt, wenn nach ärztlicher Erkenntnis

  • dringende Gründe für die Annahme sprechen, daß das Kind infolge einer Erbanlage oder schädlicher Einflüsse vor der Geburt an einer nicht behebbaren Schädigung seines Gesundheitszustandes leiden würde, die so schwer wiegt, daß von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann,
  • an der Schwangeren eine rechtswidrige Tat nach den §§ 176 bis 179 begangen worden ist und dringende Gründe für die Annahme sprechen, daß die Schwangerschaft auf der Tat beruht, oder
  • der Abbruch der Schwangerschaft sonst angezeigt ist, um von der Schwangeren die Gefahr einer Notlage abzuwenden, die

    • so schwer wiegt, daß von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann, und
    • nicht auf eine andere für die Schwangere zumutbare Weise abgewendet werden kann.”

In den Fällen des Absatzes 2 Nr. 3 (Notlagenindikation) dürfen seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen verstrichen sein. § 218b StGB verlangt als weitere Voraussetzung für die Nichtbestrafung die Beratung der Schwangeren über die zur Verfügung stehenden öffentlichen und privaten Hilfen für Schwangere, Mütter und Kinder, insbesondere über solche Hilfen, die die Fortsetzung der Schwangerschaft und die Lage von Mutter und Kind erleichtern, und die weitere Beratung durch einen Arzt über die ärztlich bedeutsamen Gesichtspunkte des Schwangerschaftsabbruchs.

Die Notlagenindikation ist danach durch die Verweisung auf § 218a Abs. 1 StGB als Unterfall der medizinischen Indikation des § 218a Abs. 1 Nr. 2 ausgestaltet. Durch die Verweisung auf § 218a Abs. 1 Nr. 2 StGB bringt das Gesetz nachdrücklich zum Ausdruck, daß die Fälle der Notlagenindikation in ihrer Schwere den übrigen Indikationsfällen vergleichbar sein müssen. Das Gesetz erfüllt danach die Voraussetzungen, die das Bundesverfassungsgericht im Urteil vom 25. Februar 1975 für die Zulässigkeit einer Notlagenindikation aufgeführt hat (BVerfGE 39, 1, 49; vgl. insoweit auch die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Frau Krieger und der Fraktion Die Grünen vom 13. September 1988, BT-Drucks. 11/2907, S. 10).

IV. Demgegenüber können die Beklagte und ihre Gesellschafter sich nicht darauf berufen, ihre durch Art. 4 Abs. 1 Satz 1 GG geschützte Gewissensfreiheit werde dadurch verletzt, daß sie in einem Fall der Abtreibung Lohnfortzahlung gewähren müßten.

Richtig ist, daß das menschliche Leben innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert darstellt und daß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG auch das ungeborene Leben als selbständiges Rechtsgut schützt (BVerfGE 39, 1, 42, 36). Aus der Sicht der Verfassung ist jedoch im Ausnahmefall der Notlagenindikation des § 218a Abs. 2 Nr. 3 StGB (wie in allen anderen Indikationsfällen) ein Eingriff in das ungeborene Leben jedenfalls kein strafwürdiges Unrecht (vgl. nur aaO, S. 50). Gegenüber der Pflicht zur Lohnfortzahlung in einem Fall des indizierten Schwangerschaftsabbruchs müssen daher Bedenken aus dem Gewissen zurücktreten.

 

Unterschriften

Dr. Thomas, Dr. Gehring, Dr. Olderog, Polcyn, Dr. Florack

 

Fundstellen

Haufe-Index 872085

BAGE, 249

BB 1989, 2048

JR 1990, 264

RdA 1989, 377

ZIP 1989, 1212

Streit 1990, 18

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