Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenbezüge für Wanderarbeitnehmer; Rechtsmißbrauch

 

Leitsatz (redaktionell)

Der Fünfte Senat hat dem Europäischen Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Entfällt die Anwendbarkeit der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 für die Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber gemäß Art 22 Abs 1 im Hinblick auf das Erfordernis der Unverzüglichkeit der Leistungsgewährung dann, wenn die Leistung nach dem anzuwendenden deutschen Recht erst längere Zeit (3 Wochen) nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit fällig ist?

2. Bedeutet die vom EuGH in der Rechtssache - C-45/90 - im Urteil vom 3. Juni 1992 vorgenommene Auslegung von Art 18 Absätze 1 bis 4 und 5 der Verordnung (EWG) Nr 574/72 des Rates vom 21. März 1972, daß es dem Arbeitgeber verwehrt ist, einen Mißbrauchstatbestand zu beweisen, aus dem mit Sicherheit oder hinreichender Wahrscheinlichkeit zu schließen ist, daß Arbeitsunfähigkeit nicht vorgelegen hat?

3. Falls die Frage zu 2. bejaht wird, verstößt Art 18 der Verordnung (EWG) Nr 574/72 des Rates vom 21. März 1972 dann gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art 3b Abs 3 EWGVtr).

 

Normenkette

LFZG §§ 1, 3; BGB § 242; EWGV 574/72 Art. 18; EWGV 1408/71 Art. 22; EWGVtr Art. 3 b Abs. 3

 

Verfahrensgang

LAG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 24.08.1993; Aktenzeichen 10 (11) Sa 174/92)

ArbG Lörrach (Urteil vom 25.08.1992; Aktenzeichen 1 Ca 341/89)

 

Gründe

Gründe

A. Die Parteien streiten darüber, ob der Kläger von der Beklagten Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für den Zeitraum vom 7. August 1989 bis 16. September 1989 in Höhe von 3.837,60 DM brutto abzüglich von der Betriebskrankenkasse gezahlter 2.389,53 DM netto beanspruchen kann. Der 1942 geborene Kläger ist italienischer Staatsangehöriger. Er war von Februar 1974 bis April 1991 bei der Beklagten als Wartungsschlosser beschäftigt. Die Ehefrau des Klägers sowie die volljährigen Kinder Alberto und Carmela waren ebenfalls Arbeitnehmer der Beklagten.

Ab 17. Juli 1989 verbrachten der Kläger, seine Ehefrau und die vorgenannten Kinder ihren bis zum 12. August 1989 bewilligten Urlaub zusammen in Italien. Während des Urlaubs meldeten sich alle Familienmitglieder krank, und zwar der Kläger für die Zeit ab 7. August 1989, die Ehefrau ab 27. Juli 1989, der Sohn ab 31. Juli 1989 und die Tochter ab 2. August 1989. Der Kläger übersandte der Betriebskrankenkasse fünf "Attestati di Malattia - Regione Calabria - U.S.L.n.4". Diese in italienischer Sprache abgefaßten Bescheinigungen, deren erste vom 7. August 1989 stammt und am 15. August 1989 bei der Betriebskrankenkasse der Beklagten einging, bescheinigten bei dem Kläger vorliegende Erkrankungen, ohne jedoch Feststellungen über die Arbeitsfähigkeit zu enthalten. Insgesamt wurden Erkrankungen für die Zeit bis zum 22. September 1989 mit der zuletzt am 25. September 1989 bei der Betriebskrankenkasse eingegangenen Bescheinigung bestätigt. Die Betriebskrankenkasse leitete das Attest vom 7. August 1989 an die Beklagte weiter und unterrichtete diese auch über den weiteren Verlauf der Erkrankungen. Schließlich gingen am 6. Oktober 1989 bei der Betriebskrankenkasse formularmäßige Erklärungen ein, in denen von Arbeitsunfähigkeit die Rede ist und Geldleistungen wegen Arbeitsunfähigkeit beantragt werden.

Die Beklagte hat die Zahlung der Krankenbezüge nach dem Lohnfortzahlungsgesetz verweigert, weil durchgreifende Bedenken gegen die Arbeitsunfähigkeit des Klägers zu erheben seien. Der Kläger und auch seine Familienangehörigen seien in früheren Jahren während des in ihrer Heimat verbrachten Urlaubs wiederholt gleichzeitig erkrankt. Deshalb sei nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts der Beweiswert der vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen erschüttert, und der Kläger müsse zusätzliche Beweise für seine Arbeitsunfähigkeit beibringen.

In den von allen Mitgliedern der Familie des Klägers eingeleiteten arbeitsgerichtlichen Verfahren hat das Arbeitsgericht den Europäischen Gerichtshof mit Beschluß vom 31. Januar 1990 gemäß Art. 177 EWG-Vertrag um eine Vorabentscheidung über folgende Fragen ersucht:

1. Sind die Grundsätze in der Rechtssache 22/86

des Urteils des Gerichtshofes - Dritte Kam-

mer - vom 12. März 1987 zur Auslegung von Ar-

tikel 18 Absätze 1 und 5 der Verordnung (EWG)

Nr. 574/72 des Rates ganz oder teilweise auch

auf den Fall zu übertragen, daß Träger der

Geldleistungen bei Krankheit, wie nach § 1 ff.

des Lohnfortzahlungsgesetzes der Bundesrepu-

blik Deutschland vom 27. Juli 1969 (BGBl. I S.

946, zuletzt geändert durch Gesetz vom

20. Dezember 1988 - BGBl. I S. 2477) der Ar-

beitgeber und nicht der Sozialversicherungs-

träger ist?

Insbesondere:

2. Hat der zuständige Träger von Entgeltfortzah-

lungen im Krankheitsfalle nach dem Recht der

Bundesrepublik Deutschland gemäß § 1 ff. Lohn-

fortzahlungsgesetz für die Arbeiter die Fest-

stellungen des Sozialversicherungsträgers des

Wohnortes des Arbeitnehmers über den Eintritt

und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit seiner

Entscheidung über den Anspruch auf Geldlei-

stungen in tatsächlicher und in rechtlicher

Hinsicht zugrunde zu legen?

3. Ist die Frage Nr. 1 - für den Fall der Beja-

hung - auch dann zu bejahen, wenn der Arbeit-

geber, der nach § 1 Träger der Lohnfortzah-

lungsleistung ist, keine tatsächliche oder

rechtliche Möglichkeit der Überprüfung der

Feststellung des Eintritts der Arbeitsunfähig-

keit hat, außer derjenigen, bei der zuständi-

gen Krankenkasse, die jedoch in diesem Fall

nicht primär leistungsverpflichtet ist, anzu-

regen, den Arbeitnehmer durch einen (Vertrau-

ens-)Arzt seiner Wahl im Sinne des Art. 18

Abs. 5 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 unter-

suchen zu lassen?

Der Europäische Gerichtshof hat hierauf mit Urteil vom 3. Juni 1992 - C-45/90 - wie folgt entschieden:

Art. 18 Abs. 1 bis 4 der Verordnung (EWG)

Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die

Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur

Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf

Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb

der Gemeinschaft zu- und abwandern, ist dahin

auszulegen, daß der zuständige Träger, auch wenn

es sich dabei um den Arbeitgeber und nicht um

einen Träger der sozialen Sicherheit handelt, in

tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht an die

vom Träger des Wohn- oder Aufenthaltsorts getrof-

fenen ärztlichen Feststellungen über den Eintritt

und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit gebunden

ist, sofern er die betroffene Person nicht durch

einen Arzt seiner Wahl untersuchen läßt, wozu ihn

Art. 18 Abs. 5 ermächtigt.

Das Arbeitsgericht hat danach der Klage stattgegeben. Im Berufungsverfahren hat die Beklagte geltend gemacht, die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs könne nicht dahin verstanden werden, daß dem Arbeitgeber jeglicher Gegenbeweis für eine rechtsmißbräuchliche Inanspruchnahme der Regelungen über die Lohnfortzahlung abgeschnitten werde. Im übrigen sei auch zweifelhaft, ob die von dem Europäischen Gerichtshof herangezogene Verordnung 1408/71 hier überhaupt Anwendung finde, weil es nicht erforderlich gewesen sei, dem Kläger unverzüglich Geldleistungen zu gewähren. Schließlich seien auch nicht die formellen Vorschriften über die Benachrichtigung des Arbeitgebers gewahrt worden, wie sie in den einschlägigen EWG-Verordnungen niedergelegt seien. Deshalb habe die Beklagte nicht rechtzeitig von der von dem Kläger behaupteten Arbeitsunfähigkeit erfahren, und sie habe deshalb nicht die nach den EWG-Verordnungen ihr eingeräumte Überprüfungsmöglichkeit wahrnehmen können.

Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der Revision erstrebt die Beklagte weiterhin die Abweisung der Klage.

B. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt von der Anwendung von europarechtlichen Vorschriften und von der Auslegung des zu A) bezeichneten Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 3. Juni 1992 ab. Das Revisionsverfahren war daher auszusetzen. Zugleich war der Europäische Gerichtshof gemäß Art. 177 Abs. 3 EG-Vertrag um Vorabentscheidung zu den auslegungsbedürftigen Bestimmungen zu ersuchen.

I. An der Anrufung des Europäischen Gerichtshofs sieht der Senat sich nicht deshalb gehindert, weil im vorliegenden Verfahren der Gerichtshof auf Vorlage des Arbeitsgerichts mit seinem Urteil vom 3. Juni 1992 die ihm unterbreiteten Fragen beantwortet hat. Dieses Urteil bindet nach Art. 177 EG-Vertrag in dem Verfahren, in dem es ergangen ist, das vorlegende Gericht und die anderen Gerichte, die in derselben Sache zu entscheiden haben (vgl. EuGH Beschluß vom 5. März 1986 - RS 69/85 - EuGH-Sammlung 1986, 947, 952). Der Senat muß daher bei seiner Entscheidung entsprechend dem Tenor der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 3. Juni 1992 von folgendem ausgehen: Art. 18 Abs. 1 bis 4 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ist dahin auszulegen, daß der zuständige Träger, auch wenn es sich dabei um den Arbeitgeber und nicht um einen Träger der sozialen Sicherheit handelt, in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht an die vom Träger des Wohn- oder Aufenthaltsorts getroffenen ärztlichen Feststellungen über den Eintritt und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit gebunden ist, sofern er die betroffene Person nicht durch einen Arzt seiner Wahl untersuchen läßt, wozu ihn Art. 18 Abs. 5 ermächtigt. Inhalt und Tragweite dieser Entscheidung geben im Hinblick auf den vorliegend zu beurteilenden Sachverhalt zu Zweifeln Anlaß. Deshalb ist es für die vom Senat zu treffende Entscheidung erforderlich, den Europäischen Gerichtshof um die Auslegung seiner Vorabentscheidung zu ersuchen (vgl. EuGH-Sammlung 1963, 62; Grabitz/Wohlfarth, EWG-Vertrag, Art. 177 Rz 64; Groeben/Thiesing/Ehlermann, EWG-Vertrag, 4. Aufl., Art. 177 Rz 78).

II.1. Nach der im vorliegenden Verfahren auf Vorlage und Frage des Arbeitsgerichts Lörrach ergangenen Entscheidung des EuGH vom 3. Juni 1992 ist nicht in Frage zu stellen, daß es sich bei dem Anspruch des Arbeitnehmers auf Zahlung der Vergütung bei Arbeitsunfähigkeit um eine Leistung bei Krankheit im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 handelt und daß der Arbeitgeber nach Art. 1 Buchst. o Ziffer iv der Verordnung Nr. 1408/71 als ein zuständiger Träger im Sinne dieser Verordnung anzusehen ist.

2. Geht man von der Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1408/71 aus, so bedarf es doch der näheren Prüfung, ob die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung der Lohnfortzahlung nach dieser Verordnung erfüllt sind. Titel III der Verordnung enthält besondere Vorschriften für die einzelnen Leistungsarten und beschäftigt sich in Kapitel 1 mit den Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft. In Abschnitt 1 (Gemeinsame Vorschriften) Art. 22 Abs. 1 ist bestimmt, daß Arbeitnehmer, welche die nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für den Leistungsanspruch erforderlichen Voraussetzungen erfüllen und deren Zustand während eines Aufenthalts im Gebiet eines anderen als des zuständigen Mitgliedsstaats eine unverzügliche Leistungsgewährung erfordert, Anspruch haben auf Sachleistungen und Geldleistungen, die sie vom zuständigen Träger nach für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften erhalten. Diese Bestimmung ist zu beachten, weil der Kläger bei seinem Aufenthalt in Italien sich in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedsstaat, - das war nach Titel II Art. 13 Abs. 1 und 2 a der Verordnung wegen der Beschäftigung des Klägers in Deutschland die Bundesrepublik Deutschland - aufhielt.

a) Der Anspruch auf Geldleistungen, nämlich die Gewährung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall nach § 1 Abs. 1 LohnFG, setzt nach der Verordnung voraus, daß der Zustand des Arbeitnehmers im Gebiet eines anderen als des zuständigen Mitgliedsstaats eine unverzügliche Leistungsgewährung erfordert. Da die für den zuständigen Träger geltenden Rechtsvorschriften maßgebend sind, bedeutet dies für den Anspruch auf Zahlung der Bezüge während der Arbeitsunfähigkeit, daß es sich dabei um den für die ersten sechs Wochen der Arbeitsunfähigkeit aufrechterhaltenen Vergütungsanspruch handelt, der ebenso wie der durch Arbeitsleistung erworbene Vergütungsanspruch fällig wird (vgl. dazu BAG Urteil vom 26. Oktober 1971, BAGE 24, 1 = AP Nr. 1 zu § 6 LohnFG). Für den Kläger ergibt sich daraus, daß er auch bei einem Eintritt der Arbeitsunfähigkeit am 7. August 1989 Leistungen aufgrund der Arbeitsunfähigkeit erst zum 31. August 1989 beanspruchen konnte.

b) Da nach den für den Leistungsanspruch erforderlichen Voraussetzungen der Kläger trotz einer Arbeitsunfähigkeit vor dem 31. August 1989 bzw. vor dem 30. September 1989 Geldleistungen nicht beanspruchen konnte, könnte es schon aus Rechtsgründen ganz oder für bestimmte Abschnitte an der für das Eingreifen der Verordnung niedergelegten Voraussetzung einer erforderlichen unverzüglichen Leistungsgewährung fehlen, denn eine unverzügliche Leistungsgewährung könnte ausscheiden, wenn die Leistung nach den anzuwendenden Rechtsvorschriften erst zu einem späteren Zeitpunkt beansprucht werden kann.

Da die Frage, wann eine unverzügliche Leistungsgewährung im Sinne von Art. 22 Abs. 1 Buchst. a im Hinblick auf Geldleistungen erforderlich ist, die Auslegung der Verordnung betrifft, ist mit der im Tenor des Beschlusses zu II 1 formulierten Frage hierzu der Europäische Gerichtshof um eine Vorabentscheidung zu ersuchen.

III. Für die folgende Betrachtung geht der Senat davon aus, daß der Kläger die Voraussetzung hinsichtlich der erforderlichen unverzüglichen Leistungsgewährung erfüllte und daß deshalb die Verordnung Nr. 1408/71 sowie die Verordnung Nr. 574/72 anzuwenden sind. Auf der Grundlage dieser Verordnungen hat der EuGH seine Entscheidung vom 3. Juni 1992 in der Rechtssache C-45/90 getroffen. Die Tragweite der Entscheidung, daß nämlich auch der Arbeitgeber als zuständiger Träger gemäß Art. 18 Abs. 1 bis 4 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht an die vom Träger des Wohn- oder Aufenthaltsorts getroffenen ärztlichen Feststellungen über den Eintritt und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit gebunden ist, sofern er die betroffene Person nicht durch einen Arzt seiner Wahl untersuchen läßt, bedarf, insbesondere im Hinblick auf die anzuwendenden deutschen Vorschriften, die als Anspruchsvoraussetzung gemäß Art. 22 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 maßgebend sind, einer erläuternden Klarstellung durch den Europäischen Gerichtshof. Im einzelnen gilt dazu folgendes:

1. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 LFZG verliert ein Arbeiter, der nach Beginn der Beschäftigung durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert wird, ohne daß ihn ein Verschulden trifft, dadurch nicht den Anspruch auf Arbeitsentgelt für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen. Die Voraussetzungen für diesen Anspruch hat, soweit es nicht um das Verschulden geht, der Arbeitnehmer darzulegen und zu beweisen. In diesem Zusammenhang ist auf § 3 Abs. 1 Satz 1 LFZG zu verweisen, wonach der Arbeiter verpflichtet ist, dem Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer unverzüglich anzuzeigen und vor Ablauf des dritten Kalendertages nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit eine ärztliche Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer nachzureichen.

a) Zur Bedeutung des ärztlichen Attestes für den Nachweis der Arbeitsunfähigkeit geht die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts dahin, daß mit der von einem Arzt ausgestellten Bescheinigung der Arbeiter grundsätzlich die Voraussetzungen für den Anspruch auf Lohnfortzahlung gemäß § 1 Abs. 1 LFZG belegen kann. Jedoch ist es dem Arbeitgeber in Mißbrauchsfällen möglich, das Vorliegen einer durch ärztliche Bescheinigung belegten Arbeitsunfähigkeit zu bestreiten. Er muß dazu Umstände darlegen und ggf. beweisen, die zu ernsthaften Zweifeln an einer Arbeitsunfähigkeit Anlaß geben (BAG Urteil vom 15. Juli 1992 - 5 AZR 312/91 - AP Nr. 98 zu § 1 LohnFG). Es ist dann Sache des Arbeitnehmers, zusätzlichen Beweis für die behauptete Arbeitsunfähigkeit zu erbringen.

Die vorgenannte Rechtsprechung beruht auf der Erkenntnis, daß trotz ärztlich bescheinigter Arbeitsunfähigkeit eine solche nicht tatsächlich bestehen muß. Abgesehen davon, daß es ärztlicherseits vorkommen kann, bestehende gesundheitliche Beeinträchtigungen in Bezug auf die Möglichkeit, eine Tätigkeit weiter auszuüben, unrichtig zu bewerten, ist es nach der Lebenserfahrung auch nicht auszuschließen, daß der Arbeitnehmer bei bestimmten Krankheitsbildern subjektive Beschwerden schildert, die zwar durch Untersuchungen nicht objektivierbar sind, den Arzt aber gleichwohl veranlassen können, eine Arbeitsunfähigkeit zu bescheinigen. Deshalb ist nicht von der Hand zu weisen, daß ärztliche Atteste, die eine Arbeitsunfähigkeit bescheinigen, unrichtig oder mißbräuchlich erstellt oder erlangt sind, so daß ihnen unter Zugrundelegung der anzuwendenden deutschen Vorschriften nicht ein absoluter Beweiswert beigelegt werden kann. Um Zweifel an der Richtigkeit eines ärztlichen Attestes zu begründen, bedarf es seitens des Arbeitgebers jedoch eines Vorbringens, das auf einen Mißbrauchsfall schließen läßt. Solche Mißbrauchstatbestände haben in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts wiederholt eine Rolle gespielt. So war in dem Urteil vom 5. November 1992 - 2 AZR 147/92 - (AP Nr. 4 zu § 626 BGB Krankheit) in Bezug auf eine ausgesprochene Kündigung ein Sachverhalt zu beurteilen, bei dem der Arbeitnehmer erklärt hatte, er werde krank, wenn der Arbeitgeber ihm den in bisherigem Umfang bewilligten Urlaub nicht verlängere, obwohl er im Zeitpunkt dieser Ankündigung nicht krank war und sich auch noch nicht krank fühlen konnte. Ein Mißbrauchsfall, der in besonderem Maße Zweifel an einer attestierten Arbeitsunfähigkeit erwecken kann, liegt dann vor, wenn ein Arbeitnehmer während einer ärztlich attestierten Arbeitsunfähigkeit einer Beschäftigung bei einem anderen Arbeitgeber nachgeht (BAG Urteil vom 26. August 1993 - 2 AZR 154/93 - NZA 1994, 63). Diesem Sachverhalt ist vergleichbar der Fall, daß ein Arbeitnehmer ohne in einem Arbeitsverhältnis tätig zu sein, während einer Arbeitsunfähigkeit private Tätigkeiten verrichtet, mit deren Vornahme nicht vereinbar ist eine von einem Arzt bescheinigte Arbeitsunfähigkeit. Ein weiterer Mißbrauchstatbestand, der Zweifel hinsichtlich einer bescheinigten Arbeitsunfähigkeit begründet, liegt vor, wenn ein Arbeitnehmer im Anschluß an den bewilligten und von ihm in seiner Heimat verbrachten Urlaub wiederholt aufgrund behaupteter Arbeitsunfähigkeit in seiner Heimat verbleibt (BAGE 48, 115 = AP Nr. 4 zu § 3 LohnFG). Im letztgenannten Fall wird der Mißbrauchsverdacht noch verstärkt, wenn ein solcher Arbeitnehmer im übrigen keine Zeiten der Arbeitsunfähigkeit aufzuweisen hat.

2. Der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 3. Juni 1992 in der Rechtssache C-45/90 läßt sich nicht mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen, wie unter Einbeziehung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 und der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 ein vom Arbeitgeber geltend gemachter Mißbrauchstatbestand zu bewerten ist.

a) Wenn es in dem Tenor der vorgenannten Entscheidung heißt, der Arbeitgeber als zuständiger Träger sei in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht an die vom Träger des Wohn- oder Aufenthaltsorts getroffenen ärztlichen Feststellungen über den Eintritt und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit gebunden, sofern er die betroffene Person nicht durch einen Arzt seiner Wahl untersuchen läßt, so könnte dies bedeuten, daß der Arbeitgeber - und im Streitfalle die Gerichte - davon ausgehen müßten, daß der Anspruch auf Lohnfortzahlung nach § 1 LFZG ohne Rücksicht auf sonstige Umstände, die der Annahme einer Arbeitsunfähigkeit entgegenstehen könnten, bejaht werden muß. In diesem Falle käme den Vorschriften der genannten Verordnungen in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof die Bedeutung einer Beweisregel nach § 286 Abs. 2 ZPO zu. Beweisregeln nach § 286 Abs. 2 ZPO führen zur Feststellung der Wahrheit oder der Unwahrheit einer Tatsachenbehauptung ohne Rücksicht auf die richterliche Überzeugung, sofern nur die Voraussetzungen erfüllt sind, von denen das Gesetz die Feststellungswirkung abhängig macht. So weit wie eine Beweisregel reicht, ist der Beweis des Gegenteils ausgeschlossen, solange die Beweisregel selbst nicht ausdrücklich den Beweis des Gegenteils durch bestimmte Beweismittel zuläßt.

b) Bei einer solchen Auslegung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs wäre der Einwand des Rechtsmißbrauchs, den die Beklagte erhoben hatte, ausgeschlossen. Der Einwand des Rechtsmißbrauchs, der ein Anwendungsfall des Grundsatzes von Treu und Glauben ist, wird jedoch nicht nur im deutschen Recht, sondern auch im Recht der Europäischen Gemeinschaften anerkannt (vgl. dazu die Rechtssache 130/88 van de Bijll (Sammlung 1989, 3057) sowie die Rechtssache 39/86 (Sammlung 1988, 3161).

Solche Umstände, die den Einwand des Rechtsmißbrauchs begründen können (vgl. die Beispiele vorstehend zu 1 b), können für die Frage, ob die Anspruchsvoraussetzungen für die Vergütungszahlung nach § 1 LFZG vorliegen, zu dem Ergebnis führen, daß eine Arbeitsunfähigkeit trotz entsprechender ärztlicher Bescheinigung zu verneinen ist.

3. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs läßt nicht erkennen, ob der Mißbrauchseinwand ausgeschlossen sein soll. Allein der Hinweis auf Sinn und Zweck der einschlägigen EWG-Verordnungen, nämlich dem unter die Verordnungen fallenden Arbeitnehmer Beweisschwierigkeiten für das Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit zu ersparen, beinhaltet noch nicht, daß der Mißbrauchseinwand abgeschnitten sein sollte. Denn wenn dem Arbeitgeber die Möglichkeit offengehalten wird, den Beweis dafür zu führen, daß ein Mißbrauchstatbestand vorliegt, aus dem mit Sicherheit oder hinreichender Wahrscheinlichkeit zu schließen ist, daß Arbeitsunfähigkeit nicht vorgelegen hat, würde dem gekennzeichneten Anliegen der Verordnungen immer noch genügt werden. Würde der Mißbrauchseinwand abgeschnitten, so würde dies zu einer Besserstellung des im Ausland erkrankten Arbeitnehmers führen, was deshalb rechtlich bedenklich erschiene, weil die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 nach ihren Erwägungsgründen (nur) sicherstellen soll, daß alle Staatsangehörigen der Mitgliedsstaaten nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedsstaaten gleich behandelt werden und die Arbeitnehmer und ihre anspruchsberechtigten Angehörigen unabhängig von ihrem Arbeits- oder Wohnort in den Genuß der Leistungen der sozialen Sicherheit kommen.

IV. Wenn der Europäische Gerichtshof die Vorlagefrage zu 2) dahin beantwortet, daß auch dann, wenn der Arbeitgeber sich auf einen Mißbrauchstatbestand beruft, die Regelungen des Art. 22 VO (EWG) 1408/71 und Art. 18 VO (EWG) 574/72 dahin auszulegen sind, daß gegenüber der Bindung an die vom Träger des Wohnorts getroffenen ärztlichen Feststellungen über den Eintritt und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit nur die Möglichkeit besteht, den Arbeitnehmer durch einen Arzt seiner Wahl gemäß Art. 18 Abs. 5 VO (EWG) 574/72 untersuchen zu lassen, so ist die Frage aufzuwerfen, ob Art. 18 in dieser Auslegung im Einklang steht mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gemäß Art. 3 b Abs. 3 EGV oder ob die Vorschrift insoweit unwirksam ist.

1.a) Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bedeutet, daß eine staatliche Maßnahme zur Erreichung des erstrebten Erfolgs geeignet und erforderlich sein muß und nicht außer Verhältnis zu dem angestrebten Erfolg stehen darf. Dieser Verhältnismäßigkeitsgrundsatz spielt auch im Gemeinschaftsrecht eine Rolle und ist vom EuGH als ein allgemeiner Rechtsgrundsatz bezeichnet worden (vgl. EuGH verbundene Rechtssachen 41, 121 und 796/79, Sammlung 1980, 1979, 1997; Bleckmann, Europarecht, 5. Aufl., § 4 Rz 306, m.w.N.). Dieser Grundsatz ist nunmehr in Art. 3 b Abs. 3 EGV ausdrücklich niedergelegt, wo es heißt, die Maßnahmen der Gemeinschaft gehen nicht über das für das Erreichen der Ziele dieses Vertrages erforderliche Maß hinaus.

b) Im vorliegenden Fall könnte ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vorliegen, wenn dem Arbeitgeber jeglicher Gegenbeweis in Bezug auf die Arbeitsunfähigkeit abgeschnitten wäre. Wie bereits früher ausgeführt, wäre eine solche Benachteiligung des Arbeitgebers nicht erforderlich, um den mit Art. 18 erstrebten Zweck zu erreichen. Wenn es dem Arbeitgeber gelingt, einen Mißbrauchstatbestand zu beweisen, so wird dadurch nicht die Freizügigkeit der Arbeitnehmer eingeschränkt, sondern nur die Möglichkeit, durch betrügerische Handlungen unrechtmäßige Leistungen zu erlangen.

2. Es obliegt dem Europäischen Gerichtshof, darüber zu entscheiden, ob eine Norm des Gemeinschaftsrechts gültig ist oder nicht. Deshalb ist auch hierzu der Europäische Gerichtshof zur Vorabentscheidung anzurufen (Frage zu II 3).

Dr. Thomas Dr. Gehring Dr. Reinecke

Steinmann Dr. Winterfeld

A. Die Parteien streiten darüber, ob der Kläger von der Beklagten Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für den Zeitraum vom 7. August 1989 bis 16. September 1989 in Höhe von 3.837,60 DM brutto abzüglich von der Betriebskrankenkasse gezahlter 2.389,53 DM netto beanspruchen kann. Der 1942 geborene Kläger ist italienischer Staatsangehöriger. Er war von Februar 1974 bis April 1991 bei der Beklagten als Wartungsschlosser beschäftigt. Die Ehefrau des Klägers sowie die volljährigen Kinder Alberto und Carmela waren ebenfalls Arbeitnehmer der Beklagten.

Ab 17. Juli 1989 verbrachten der Kläger, seine Ehefrau und die vorgenannten Kinder ihren bis zum 12. August 1989 bewilligten Urlaub zusammen in Italien. Während des Urlaubs meldeten sich alle Familienmitglieder krank, und zwar der Kläger für die Zeit ab 7. August 1989, die Ehefrau ab 27. Juli 1989, der Sohn ab 31. Juli 1989 und die Tochter ab 2. August 1989. Der Kläger übersandte der Betriebskrankenkasse fünf "Attestati di Malattia - Regione Calabria - U.S.L.n.4". Diese in italienischer Sprache abgefaßten Bescheinigungen, deren erste vom 7. August 1989 stammt und am 15. August 1989 bei der Betriebskrankenkasse der Beklagten einging, bescheinigten bei dem Kläger vorliegende Erkrankungen, ohne jedoch Feststellungen über die Arbeitsfähigkeit zu enthalten. Insgesamt wurden Erkrankungen für die Zeit bis zum 22. September 1989 mit der zuletzt am 25. September 1989 bei der Betriebskrankenkasse eingegangenen Bescheinigung bestätigt. Die Betriebskrankenkasse leitete das Attest vom 7. August 1989 an die Beklagte weiter und unterrichtete diese auch über den weiteren Verlauf der Erkrankungen. Schließlich gingen am 6. Oktober 1989 bei der Betriebskrankenkasse formularmäßige Erklärungen ein, in denen von Arbeitsunfähigkeit die Rede ist und Geldleistungen wegen Arbeitsunfähigkeit beantragt werden.

Die Beklagte hat die Zahlung der Krankenbezüge nach dem Lohnfortzahlungsgesetz verweigert, weil durchgreifende Bedenken gegen die Arbeitsunfähigkeit des Klägers zu erheben seien. Der Kläger und auch seine Familienangehörigen seien in früheren Jahren während des in ihrer Heimat verbrachten Urlaubs wiederholt gleichzeitig erkrankt. Deshalb sei nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts der Beweiswert der vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen erschüttert, und der Kläger müsse zusätzliche Beweise für seine Arbeitsunfähigkeit beibringen.

In den von allen Mitgliedern der Familie des Klägers eingeleiteten arbeitsgerichtlichen Verfahren hat das Arbeitsgericht den Europäischen Gerichtshof mit Beschluß vom 31. Januar 1990 gemäß Art. 177 EWG-Vertrag um eine Vorabentscheidung über folgende Fragen ersucht:

1. Sind die Grundsätze in der Rechtssache 22/86

des Urteils des Gerichtshofes - Dritte Kam-

mer - vom 12. März 1987 zur Auslegung von Ar-

tikel 18 Absätze 1 und 5 der Verordnung (EWG)

Nr. 574/72 des Rates ganz oder teilweise auch

auf den Fall zu übertragen, daß Träger der

Geldleistungen bei Krankheit, wie nach § 1 ff.

des Lohnfortzahlungsgesetzes der Bundesrepu-

blik Deutschland vom 27. Juli 1969 (BGBl. I S.

946, zuletzt geändert durch Gesetz vom

20. Dezember 1988 - BGBl. I S. 2477) der Ar-

beitgeber und nicht der Sozialversicherungs-

träger ist?

Insbesondere:

2. Hat der zuständige Träger von Entgeltfortzah-

lungen im Krankheitsfalle nach dem Recht der

Bundesrepublik Deutschland gemäß § 1 ff. Lohn-

fortzahlungsgesetz für die Arbeiter die Fest-

stellungen des Sozialversicherungsträgers des

Wohnortes des Arbeitnehmers über den Eintritt

und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit seiner

Entscheidung über den Anspruch auf Geldlei-

stungen in tatsächlicher und in rechtlicher

Hinsicht zugrunde zu legen?

3. Ist die Frage Nr. 1 - für den Fall der Beja-

hung - auch dann zu bejahen, wenn der Arbeit-

geber, der nach § 1 Träger der Lohnfortzah-

lungsleistung ist, keine tatsächliche oder

rechtliche Möglichkeit der Überprüfung der

Feststellung des Eintritts der Arbeitsunfähig-

keit hat, außer derjenigen, bei der zuständi-

gen Krankenkasse, die jedoch in diesem Fall

nicht primär leistungsverpflichtet ist, anzu-

regen, den Arbeitnehmer durch einen (Vertrau-

ens-)Arzt seiner Wahl im Sinne des Art. 18

Abs. 5 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 unter-

suchen zu lassen?

Der Europäische Gerichtshof hat hierauf mit Urteil vom 3. Juni 1992 - C-45/90 - wie folgt entschieden:

Art. 18 Abs. 1 bis 4 der Verordnung (EWG)

Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die

Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur

Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf

Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb

der Gemeinschaft zu- und abwandern, ist dahin

auszulegen, daß der zuständige Träger, auch wenn

es sich dabei um den Arbeitgeber und nicht um

einen Träger der sozialen Sicherheit handelt, in

tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht an die

vom Träger des Wohn- oder Aufenthaltsorts getrof-

fenen ärztlichen Feststellungen über den Eintritt

und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit gebunden

ist, sofern er die betroffene Person nicht durch

einen Arzt seiner Wahl untersuchen läßt, wozu ihn

Art. 18 Abs. 5 ermächtigt.

Das Arbeitsgericht hat danach der Klage stattgegeben. Im Berufungsverfahren hat die Beklagte geltend gemacht, die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs könne nicht dahin verstanden werden, daß dem Arbeitgeber jeglicher Gegenbeweis für eine rechtsmißbräuchliche Inanspruchnahme der Regelungen über die Lohnfortzahlung abgeschnitten werde. Im übrigen sei auch zweifelhaft, ob die von dem Europäischen Gerichtshof herangezogene Verordnung 1408/71 hier überhaupt Anwendung finde, weil es nicht erforderlich gewesen sei, dem Kläger unverzüglich Geldleistungen zu gewähren. Schließlich seien auch nicht die formellen Vorschriften über die Benachrichtigung des Arbeitgebers gewahrt worden, wie sie in den einschlägigen EWG-Verordnungen niedergelegt seien. Deshalb habe die Beklagte nicht rechtzeitig von der von dem Kläger behaupteten Arbeitsunfähigkeit erfahren, und sie habe deshalb nicht die nach den EWG-Verordnungen ihr eingeräumte Überprüfungsmöglichkeit wahrnehmen können.

Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der Revision erstrebt die Beklagte weiterhin die Abweisung der Klage.

B. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt von der Anwendung von europarechtlichen Vorschriften und von der Auslegung des zu A) bezeichneten Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 3. Juni 1992 ab. Das Revisionsverfahren war daher auszusetzen. Zugleich war der Europäische Gerichtshof gemäß Art. 177 Abs. 3 EG-Vertrag um Vorabentscheidung zu den auslegungsbedürftigen Bestimmungen zu ersuchen.

I. An der Anrufung des Europäischen Gerichtshofs sieht der Senat sich nicht deshalb gehindert, weil im vorliegenden Verfahren der Gerichtshof auf Vorlage des Arbeitsgerichts mit seinem Urteil vom 3. Juni 1992 die ihm unterbreiteten Fragen beantwortet hat. Dieses Urteil bindet nach Art. 177 EG-Vertrag in dem Verfahren, in dem es ergangen ist, das vorlegende Gericht und die anderen Gerichte, die in derselben Sache zu entscheiden haben (vgl. EuGH Beschluß vom 5. März 1986 - RS 69/85 - EuGH-Sammlung 1986, 947, 952). Der Senat muß daher bei seiner Entscheidung entsprechend dem Tenor der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 3. Juni 1992 von folgendem ausgehen: Art. 18 Abs. 1 bis 4 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ist dahin auszulegen, daß der zuständige Träger, auch wenn es sich dabei um den Arbeitgeber und nicht um einen Träger der sozialen Sicherheit handelt, in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht an die vom Träger des Wohn- oder Aufenthaltsorts getroffenen ärztlichen Feststellungen über den Eintritt und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit gebunden ist, sofern er die betroffene Person nicht durch einen Arzt seiner Wahl untersuchen läßt, wozu ihn Art. 18 Abs. 5 ermächtigt. Inhalt und Tragweite dieser Entscheidung geben im Hinblick auf den vorliegend zu beurteilenden Sachverhalt zu Zweifeln Anlaß. Deshalb ist es für die vom Senat zu treffende Entscheidung erforderlich, den Europäischen Gerichtshof um die Auslegung seiner Vorabentscheidung zu ersuchen (vgl. EuGH-Sammlung 1963, 62; Grabitz/Wohlfarth, EWG-Vertrag, Art. 177 Rz 64; Groeben/Thiesing/Ehlermann, EWG-Vertrag, 4. Aufl., Art. 177 Rz 78).

II.1. Nach der im vorliegenden Verfahren auf Vorlage und Frage des Arbeitsgerichts Lörrach ergangenen Entscheidung des EuGH vom 3. Juni 1992 ist nicht in Frage zu stellen, daß es sich bei dem Anspruch des Arbeitnehmers auf Zahlung der Vergütung bei Arbeitsunfähigkeit um eine Leistung bei Krankheit im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 handelt und daß der Arbeitgeber nach Art. 1 Buchst. o Ziffer iv der Verordnung Nr. 1408/71 als ein zuständiger Träger im Sinne dieser Verordnung anzusehen ist.

2. Geht man von der Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1408/71 aus, so bedarf es doch der näheren Prüfung, ob die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung der Lohnfortzahlung nach dieser Verordnung erfüllt sind. Titel III der Verordnung enthält besondere Vorschriften für die einzelnen Leistungsarten und beschäftigt sich in Kapitel 1 mit den Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft. In Abschnitt 1 (Gemeinsame Vorschriften) Art. 22 Abs. 1 ist bestimmt, daß Arbeitnehmer, welche die nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für den Leistungsanspruch erforderlichen Voraussetzungen erfüllen und deren Zustand während eines Aufenthalts im Gebiet eines anderen als des zuständigen Mitgliedsstaats eine unverzügliche Leistungsgewährung erfordert, Anspruch haben auf Sachleistungen und Geldleistungen, die sie vom zuständigen Träger nach für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften erhalten. Diese Bestimmung ist zu beachten, weil der Kläger bei seinem Aufenthalt in Italien sich in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedsstaat, - das war nach Titel II Art. 13 Abs. 1 und 2 a der Verordnung wegen der Beschäftigung des Klägers in Deutschland die Bundesrepublik Deutschland - aufhielt.

a) Der Anspruch auf Geldleistungen, nämlich die Gewährung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall nach § 1 Abs. 1 LohnFG, setzt nach der Verordnung voraus, daß der Zustand des Arbeitnehmers im Gebiet eines anderen als des zuständigen Mitgliedsstaats eine unverzügliche Leistungsgewährung erfordert. Da die für den zuständigen Träger geltenden Rechtsvorschriften maßgebend sind, bedeutet dies für den Anspruch auf Zahlung der Bezüge während der Arbeitsunfähigkeit, daß es sich dabei um den für die ersten sechs Wochen der Arbeitsunfähigkeit aufrechterhaltenen Vergütungsanspruch handelt, der ebenso wie der durch Arbeitsleistung erworbene Vergütungsanspruch fällig wird (vgl. dazu BAG Urteil vom 26. Oktober 1971, BAGE 24, 1 = AP Nr. 1 zu § 6 LohnFG). Für den Kläger ergibt sich daraus, daß er auch bei einem Eintritt der Arbeitsunfähigkeit am 7. August 1989 Leistungen aufgrund der Arbeitsunfähigkeit erst zum 31. August 1989 beanspruchen konnte.

b) Da nach den für den Leistungsanspruch erforderlichen Voraussetzungen der Kläger trotz einer Arbeitsunfähigkeit vor dem 31. August 1989 bzw. vor dem 30. September 1989 Geldleistungen nicht beanspruchen konnte, könnte es schon aus Rechtsgründen ganz oder für bestimmte Abschnitte an der für das Eingreifen der Verordnung niedergelegten Voraussetzung einer erforderlichen unverzüglichen Leistungsgewährung fehlen, denn eine unverzügliche Leistungsgewährung könnte ausscheiden, wenn die Leistung nach den anzuwendenden Rechtsvorschriften erst zu einem späteren Zeitpunkt beansprucht werden kann.

Da die Frage, wann eine unverzügliche Leistungsgewährung im Sinne von Art. 22 Abs. 1 Buchst. a im Hinblick auf Geldleistungen erforderlich ist, die Auslegung der Verordnung betrifft, ist mit der im Tenor des Beschlusses zu II 1 formulierten Frage hierzu der Europäische Gerichtshof um eine Vorabentscheidung zu ersuchen.

III. Für die folgende Betrachtung geht der Senat davon aus, daß der Kläger die Voraussetzung hinsichtlich der erforderlichen unverzüglichen Leistungsgewährung erfüllte und daß deshalb die Verordnung Nr. 1408/71 sowie die Verordnung Nr. 574/72 anzuwenden sind. Auf der Grundlage dieser Verordnungen hat der EuGH seine Entscheidung vom 3. Juni 1992 in der Rechtssache C-45/90 getroffen. Die Tragweite der Entscheidung, daß nämlich auch der Arbeitgeber als zuständiger Träger gemäß Art. 18 Abs. 1 bis 4 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht an die vom Träger des Wohn- oder Aufenthaltsorts getroffenen ärztlichen Feststellungen über den Eintritt und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit gebunden ist, sofern er die betroffene Person nicht durch einen Arzt seiner Wahl untersuchen läßt, bedarf, insbesondere im Hinblick auf die anzuwendenden deutschen Vorschriften, die als Anspruchsvoraussetzung gemäß Art. 22 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 maßgebend sind, einer erläuternden Klarstellung durch den Europäischen Gerichtshof. Im einzelnen gilt dazu folgendes:

1. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 LFZG verliert ein Arbeiter, der nach Beginn der Beschäftigung durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert wird, ohne daß ihn ein Verschulden trifft, dadurch nicht den Anspruch auf Arbeitsentgelt für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen. Die Voraussetzungen für diesen Anspruch hat, soweit es nicht um das Verschulden geht, der Arbeitnehmer darzulegen und zu beweisen. In diesem Zusammenhang ist auf § 3 Abs. 1 Satz 1 LFZG zu verweisen, wonach der Arbeiter verpflichtet ist, dem Arbeitgeber die Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer unverzüglich anzuzeigen und vor Ablauf des dritten Kalendertages nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit eine ärztliche Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer nachzureichen.

a) Zur Bedeutung des ärztlichen Attestes für den Nachweis der Arbeitsunfähigkeit geht die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts dahin, daß mit der von einem Arzt ausgestellten Bescheinigung der Arbeiter grundsätzlich die Voraussetzungen für den Anspruch auf Lohnfortzahlung gemäß § 1 Abs. 1 LFZG belegen kann. Jedoch ist es dem Arbeitgeber in Mißbrauchsfällen möglich, das Vorliegen einer durch ärztliche Bescheinigung belegten Arbeitsunfähigkeit zu bestreiten. Er muß dazu Umstände darlegen und ggf. beweisen, die zu ernsthaften Zweifeln an einer Arbeitsunfähigkeit Anlaß geben (BAG Urteil vom 15. Juli 1992 - 5 AZR 312/91 - AP Nr. 98 zu § 1 LohnFG). Es ist dann Sache des Arbeitnehmers, zusätzlichen Beweis für die behauptete Arbeitsunfähigkeit zu erbringen.

Die vorgenannte Rechtsprechung beruht auf der Erkenntnis, daß trotz ärztlich bescheinigter Arbeitsunfähigkeit eine solche nicht tatsächlich bestehen muß. Abgesehen davon, daß es ärztlicherseits vorkommen kann, bestehende gesundheitliche Beeinträchtigungen in Bezug auf die Möglichkeit, eine Tätigkeit weiter auszuüben, unrichtig zu bewerten, ist es nach der Lebenserfahrung auch nicht auszuschließen, daß der Arbeitnehmer bei bestimmten Krankheitsbildern subjektive Beschwerden schildert, die zwar durch Untersuchungen nicht objektivierbar sind, den Arzt aber gleichwohl veranlassen können, eine Arbeitsunfähigkeit zu bescheinigen. Deshalb ist nicht von der Hand zu weisen, daß ärztliche Atteste, die eine Arbeitsunfähigkeit bescheinigen, unrichtig oder mißbräuchlich erstellt oder erlangt sind, so daß ihnen unter Zugrundelegung der anzuwendenden deutschen Vorschriften nicht ein absoluter Beweiswert beigelegt werden kann. Um Zweifel an der Richtigkeit eines ärztlichen Attestes zu begründen, bedarf es seitens des Arbeitgebers jedoch eines Vorbringens, das auf einen Mißbrauchsfall schließen läßt. Solche Mißbrauchstatbestände haben in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts wiederholt eine Rolle gespielt. So war in dem Urteil vom 5. November 1992 - 2 AZR 147/92 - (AP Nr. 4 zu § 626 BGB Krankheit) in Bezug auf eine ausgesprochene Kündigung ein Sachverhalt zu beurteilen, bei dem der Arbeitnehmer erklärt hatte, er werde krank, wenn der Arbeitgeber ihm den in bisherigem Umfang bewilligten Urlaub nicht verlängere, obwohl er im Zeitpunkt dieser Ankündigung nicht krank war und sich auch noch nicht krank fühlen konnte. Ein Mißbrauchsfall, der in besonderem Maße Zweifel an einer attestierten Arbeitsunfähigkeit erwecken kann, liegt dann vor, wenn ein Arbeitnehmer während einer ärztlich attestierten Arbeitsunfähigkeit einer Beschäftigung bei einem anderen Arbeitgeber nachgeht (BAG Urteil vom 26. August 1993 - 2 AZR 154/93 - NZA 1994, 63). Diesem Sachverhalt ist vergleichbar der Fall, daß ein Arbeitnehmer ohne in einem Arbeitsverhältnis tätig zu sein, während einer Arbeitsunfähigkeit private Tätigkeiten verrichtet, mit deren Vornahme nicht vereinbar ist eine von einem Arzt bescheinigte Arbeitsunfähigkeit. Ein weiterer Mißbrauchstatbestand, der Zweifel hinsichtlich einer bescheinigten Arbeitsunfähigkeit begründet, liegt vor, wenn ein Arbeitnehmer im Anschluß an den bewilligten und von ihm in seiner Heimat verbrachten Urlaub wiederholt aufgrund behaupteter Arbeitsunfähigkeit in seiner Heimat verbleibt (BAGE 48, 115 = AP Nr. 4 zu § 3 LohnFG). Im letztgenannten Fall wird der Mißbrauchsverdacht noch verstärkt, wenn ein solcher Arbeitnehmer im übrigen keine Zeiten der Arbeitsunfähigkeit aufzuweisen hat.

2. Der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 3. Juni 1992 in der Rechtssache C-45/90 läßt sich nicht mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen, wie unter Einbeziehung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 und der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 ein vom Arbeitgeber geltend gemachter Mißbrauchstatbestand zu bewerten ist.

a) Wenn es in dem Tenor der vorgenannten Entscheidung heißt, der Arbeitgeber als zuständiger Träger sei in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht an die vom Träger des Wohn- oder Aufenthaltsorts getroffenen ärztlichen Feststellungen über den Eintritt und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit gebunden, sofern er die betroffene Person nicht durch einen Arzt seiner Wahl untersuchen läßt, so könnte dies bedeuten, daß der Arbeitgeber - und im Streitfalle die Gerichte - davon ausgehen müßten, daß der Anspruch auf Lohnfortzahlung nach § 1 LFZG ohne Rücksicht auf sonstige Umstände, die der Annahme einer Arbeitsunfähigkeit entgegenstehen könnten, bejaht werden muß. In diesem Falle käme den Vorschriften der genannten Verordnungen in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof die Bedeutung einer Beweisregel nach § 286 Abs. 2 ZPO zu. Beweisregeln nach § 286 Abs. 2 ZPO führen zur Feststellung der Wahrheit oder der Unwahrheit einer Tatsachenbehauptung ohne Rücksicht auf die richterliche Überzeugung, sofern nur die Voraussetzungen erfüllt sind, von denen das Gesetz die Feststellungswirkung abhängig macht. So weit wie eine Beweisregel reicht, ist der Beweis des Gegenteils ausgeschlossen, solange die Beweisregel selbst nicht ausdrücklich den Beweis des Gegenteils durch bestimmte Beweismittel zuläßt.

b) Bei einer solchen Auslegung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs wäre der Einwand des Rechtsmißbrauchs, den die Beklagte erhoben hatte, ausgeschlossen. Der Einwand des Rechtsmißbrauchs, der ein Anwendungsfall des Grundsatzes von Treu und Glauben ist, wird jedoch nicht nur im deutschen Recht, sondern auch im Recht der Europäischen Gemeinschaften anerkannt (vgl. dazu die Rechtssache 130/88 van de Bijll (Sammlung 1989, 3057) sowie die Rechtssache 39/86 (Sammlung 1988, 3161).

Solche Umstände, die den Einwand des Rechtsmißbrauchs begründen können (vgl. die Beispiele vorstehend zu 1 b), können für die Frage, ob die Anspruchsvoraussetzungen für die Vergütungszahlung nach § 1 LFZG vorliegen, zu dem Ergebnis führen, daß eine Arbeitsunfähigkeit trotz entsprechender ärztlicher Bescheinigung zu verneinen ist.

3. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs läßt nicht erkennen, ob der Mißbrauchseinwand ausgeschlossen sein soll. Allein der Hinweis auf Sinn und Zweck der einschlägigen EWG-Verordnungen, nämlich dem unter die Verordnungen fallenden Arbeitnehmer Beweisschwierigkeiten für das Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit zu ersparen, beinhaltet noch nicht, daß der Mißbrauchseinwand abgeschnitten sein sollte. Denn wenn dem Arbeitgeber die Möglichkeit offengehalten wird, den Beweis dafür zu führen, daß ein Mißbrauchstatbestand vorliegt, aus dem mit Sicherheit oder hinreichender Wahrscheinlichkeit zu schließen ist, daß Arbeitsunfähigkeit nicht vorgelegen hat, würde dem gekennzeichneten Anliegen der Verordnungen immer noch genügt werden. Würde der Mißbrauchseinwand abgeschnitten, so würde dies zu einer Besserstellung des im Ausland erkrankten Arbeitnehmers führen, was deshalb rechtlich bedenklich erschiene, weil die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 nach ihren Erwägungsgründen (nur) sicherstellen soll, daß alle Staatsangehörigen der Mitgliedsstaaten nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedsstaaten gleich behandelt werden und die Arbeitnehmer und ihre anspruchsberechtigten Angehörigen unabhängig von ihrem Arbeits- oder Wohnort in den Genuß der Leistungen der sozialen Sicherheit kommen.

IV. Wenn der Europäische Gerichtshof die Vorlagefrage zu 2) dahin beantwortet, daß auch dann, wenn der Arbeitgeber sich auf einen Mißbrauchstatbestand beruft, die Regelungen des Art. 22 VO (EWG) 1408/71 und Art. 18 VO (EWG) 574/72 dahin auszulegen sind, daß gegenüber der Bindung an die vom Träger des Wohnorts getroffenen ärztlichen Feststellungen über den Eintritt und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit nur die Möglichkeit besteht, den Arbeitnehmer durch einen Arzt seiner Wahl gemäß Art. 18 Abs. 5 VO (EWG) 574/72 untersuchen zu lassen, so ist die Frage aufzuwerfen, ob Art. 18 in dieser Auslegung im Einklang steht mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gemäß Art. 3 b Abs. 3 EGV oder ob die Vorschrift insoweit unwirksam ist.

1.a) Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bedeutet, daß eine staatliche Maßnahme zur Erreichung des erstrebten Erfolgs geeignet und erforderlich sein muß und nicht außer Verhältnis zu dem angestrebten Erfolg stehen darf. Dieser Verhältnismäßigkeitsgrundsatz spielt auch im Gemeinschaftsrecht eine Rolle und ist vom EuGH als ein allgemeiner Rechtsgrundsatz bezeichnet worden (vgl. EuGH verbundene Rechtssachen 41, 121 und 796/79, Sammlung 1980, 1979, 1997; Bleckmann, Europarecht, 5. Aufl., § 4 Rz 306, m.w.N.). Dieser Grundsatz ist nunmehr in Art. 3 b Abs. 3 EGV ausdrücklich niedergelegt, wo es heißt, die Maßnahmen der Gemeinschaft gehen nicht über das für das Erreichen der Ziele dieses Vertrages erforderliche Maß hinaus.

b) Im vorliegenden Fall könnte ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vorliegen, wenn dem Arbeitgeber jeglicher Gegenbeweis in Bezug auf die Arbeitsunfähigkeit abgeschnitten wäre. Wie bereits früher ausgeführt, wäre eine solche Benachteiligung des Arbeitgebers nicht erforderlich, um den mit Art. 18 erstrebten Zweck zu erreichen. Wenn es dem Arbeitgeber gelingt, einen Mißbrauchstatbestand zu beweisen, so wird dadurch nicht die Freizügigkeit der Arbeitnehmer eingeschränkt, sondern nur die Möglichkeit, durch betrügerische Handlungen unrechtmäßige Leistungen zu erlangen.

2. Es obliegt dem Europäischen Gerichtshof, darüber zu entscheiden, ob eine Norm des Gemeinschaftsrechts gültig ist oder nicht. Deshalb ist auch hierzu der Europäische Gerichtshof zur Vorabentscheidung anzurufen (Frage zu II 3).

Dr. Thomas Dr. Gehring Dr. Reinecke

Steinmann Dr. Winterfeld

 

Fundstellen

Haufe-Index 440420

BAGE 76, 306-316 (Leitsatz 1-3 und Gründe)

BB 1994, 1572

BB 1994, 936

DB 1994, 1523-1526 (Leitsatz 1-3 und Gründe)

NJW 1994, 2440 (Leitsatz)

IStR 1994, 561 (Kurzwiedergabe)

WiB 1995, 26 (red. Leitsatz 1 und Gründe)

DOK 1995, 191 (Kurzwiedergabe)

EEK, I/1146 (Leitsatz 1-3 und Gründe)

EWiR 1994, 1093 (Leitsatz)

JR 1995, 176 (red. Leitsatz)

NZA 1994, 683

NZA 1994, 683-686 (Leitsatz 1-3 und Gründe)

SAE 1995, 55-59 (Leitsatz 1-3 und Gründe)

USK, 9418 (red. Leitsatz und Gründe)

WzS 1995, 90 (Gründe)

ZAP Fach 17 R, 81 (red. Leitsatz)

ZAP, EN-Nr

ZAP, EN-Nr 464/94 (red. Leitsatz)

ZIP 1994, 1206-1209 (Leitsatz und Gründe)

AP § 1 LohnFG (Leitsatz 1-3 und Gründe), Nr 100

AR-Blattei, ES 1000.3.1 Nr 169 (Leitsatz 1-3 und Gründe)

AuA 1995, 69-70 (Leitsatz 1-3 und Gründe)

EWS 1994, 291-292 (Kurzwiedergabe)

ErsK 1994, 419 (Gründe)

EuZW 1994, 574-576 (Leitsatz und Gründe)

EzA-SD 1994, Nr 16, 6-8 (Leitsatz 1-3 und Gründe)

EzA § 3 LohnFG, Nr 18 (Leitsatz 1-3 und Gründe)

EzBAT § 37 BAT, Nr 21 (Leitsatz 1-3 und Gründe)

PersF 1994, 763 (Kurzwiedergabe)

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