rechtskräftig

 

Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialauswahl. Auswahlrichtlinie. Verstoß gegen Wertung des KSchG

 

Leitsatz (amtlich)

1.) Auswahlrichtlinien nach § 95 BetrVG dürfen nicht gegen zwingendes Gesetzesrecht und damit auch nicht gegen die Wertung des Kündigungsschutzgesetzes verstoßen.

2.) Nur soweit Auswahlrichtlinien bei betriebsbedingten Kündigungen Regelungen darüber enthalten, wie die sozialen Gesichtspunkte – Dauer der Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung des Arbeitnehmers – im Verhältnis zueinander zu bewerten sind, z.B. durch ein Punktesystem, können diese Feststellungen vom Gericht allein auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden.

3.) Arbeitgeber und Betriebsrat können sich darauf beschränken, mit einer Auswahlrichtlinie Regeln für eine Vorauswahl zu treffen und dem Arbeitgeber bei gleicher oder annähernd gleicher Punktezahl die Endauswahl überlassen, in welcher besonders schwerwiegende individuelle soziale Gesichtspunkte, die in der Auswahlrichtlinie nicht ihren Niederschlag gefunden haben, zusätzlich berücksichtigt werden.

4.) Eine von den Betriebspartnern getroffene Regelung, die den Arbeitgeber ermächtigt, einseitig von der getroffenen Vorauswahl abzuweichen und einen um mehrere Punkte sozial schutzwürdigeren Arbeitnehmer zu entlassen, ohne eine Endauswahl vorzunehmen, widerspricht der Wertung in § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG und ist unbeachtlich.

 

Normenkette

KSchG § 1 Abs. 4, 3 S. 1; BetrVG § 95 Abs. 1 S. 1

 

Tenor

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung der Beklagten mit Schreiben vom 28. Januar 2005 nicht aufgelöst worden ist.

2. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über die streitbefangene Kündigung zu unveränderten Arbeitsbedingungen als Offset-Helfer weiterzubeschäftigen.

3. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.

4. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 16.000,00 EUR festgesetzt.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Rechtswirksamkeit einer ordentlichen, arbeitgeberseitig zum 31. Juli 2005 ausgesprochenen Kündigung, die die Beklagte auf dringende betriebliche Erfordernisse stützt.

Der 1956 geborene, geschiedene Kläger war seit dem 16. Mai 1989 in den Diensten der Beklagten als Offset-Helfer (Hilfsarbeiter) tätig, und zwar zuletzt zu einem Bruttomonatslohn von 3.200,00 EUR.

Die Beklagte ist ein Unternehmen der Druckindustrie und beschäftigte in ihrem Betrieb in Essen in der Regel 180 Arbeitnehmer.

Nachdem die Beklagte aufgrund ihrer schlechten wirtschaftlichen Entwicklung bereits in den vergangenen Jahren Personal hatte abbauen müssen, entschied sie sich am 15. Dezember 2004, den Bereich ”Rollen-Offset” zum 31. März 2005 zu schließen. Hierzu schloss die Beklagte mit dem in ihrem Betrieb gewählten Betriebsrat einen Interessenausgleich sowie einen Sozialplan vom 20. Januar 2005 ab, der ”einen notwendigen Personalabbau von 8 Druckern und 5 Hilfsarbeitern” vorsah. Außerdem vereinbarten die Betriebspartner, und zwar gleichfalls unter dem 20. Januar 2005, eine Auswahlrichtlinie gemäß § 95 BetrVG ”als Grundlage der betriebsbedingten Kündigungen wegen Schließung des Bereiches „Rollen-Offset” zum 31.03. 2005” [i.d.F.: Auswahlrichtlinie)] In der Auswahlrichtlinie hieß es, soweit für den vorliegenden Rechtsstreit interessierend, auszugsweise:

§ 2

Zielstellung

2.

Mit dieser Auswahlrichtlinie verfolgen die Geschäftsführung und der Betriebsrat das Ziel, die unvermeidbaren personellen Maßnahmen im Hinblick auf die Auswahl des einzelnen betroffenen Beschäftigten unter Berücksichtigung sozialer Kriterien, Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen der Beschäftigten sowie Beibehaltung einer ausgewogenen Personal-, insbesondere Altersstruktur nachvollziehbar und transparent zu machen.

§ 3

Auswahlrichtlinien im Fall betriebsbedingter Kündigungen

3.

Im Einzelnen sind folgende Vergleichsgruppen zu bilden:

Vergleichsgruppe 1: Offset Drucker

Vergleichsgruppe 2: Hilfsarbeiter

4.

Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigte sind innerhalb einer Vergleichsgruppe als vergleichbar anzusehen. Ein Vollzeitbeschäftigter ist dann nicht mit einem Teilzeitbeschäftigten vergleichbar, wenn sein Arbeitsplatz aus betrieblichen Gründen nur mit einem Vollzeitbeschäftigten besetzt werden kann.

5.

Im nächsten Schritt wird im Rahmen einer Vorauswahl zur sozialen Auswahl eine nach Punkten gestaffelte Liste aller Beschäftigten des Betriebes unter Berücksichtigung der nachfolgenden Grundsätze erstellt.

8.

Das Verhältnis der 4 maßgeblichen Sozialkriterien im Sinne des § 1 Abs. 3 KSchG wird durch ein Punkteschema festgelegt. Ein in die Liste aufzunehmender Beschäftigter erhält danach folgende Punkte:

a) Lebensalter: (vollendete Lebensjahre)

bis zu 30 Jahren

1 Punkt

bis zu 40 Jahren

3 Punkte

bis zu 50 Jahren

6 Punkte

bis zu 65 Jahren

8 Punkte

b) Betriebszugehörigkeit

Für jedes Beschäftigungsjahr nach Vollendung des 20. Lebensjahres

1 Punkt

c) Unterhaltspflichten

Ehegatte, soweit gesetzlich unterhaltsberechtigt

– ohne eig...

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