Das am 10.7.2015 in Kraft getretene Tarifeinheitsgesetz und dessen zentrale Bestimmung § 4a TVG ist bei seiner sehr kontroversen Entstehung als "Streikbremse" beworben worden. Es diente vordergründig nur dem Ziel, dem von der Rechtsprechung langjährig zugrunde gelegten und am 7.7.2012[1] aufgegebenen Grundsatz der Tarifeinheit – in veränderter Form – eine gesetzliche Grundlage zu geben. Im selben Betrieb sind danach Tarifwerke mit zumindest teilweise identischem Geltungsbereich aber unterschiedlichem Inhalt tarifrechtlich anwendbar, die von der Arbeitgeberseite mit verschiedenen Gewerkschaften abgeschlossen wurden. Nach § 4a TVG muss in dem betreffenden Betrieb nur der von den kollidierenden Tarifverträgen angewendet werden, der mit der Gewerkschaft abgeschlossen wurde, die im Betrieb im Zeitpunkt der Kollisionsentstehung die meisten Mitglieder hat.[2]

Der Anlass für diese Gesetzgebung war aber ein arbeitskampfrechtlicher: Das verstärkte Aufkommen von Berufsgruppengewerkschaften wie der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), der Vereinigung Cockpit (VC), des Marburger Bundes der angestellten Ärztinnen und Ärzte (MB) und der Unabhängigen Flugbegleiter Organisation (UFO) hatte zu relativ intensiven, von diesen Gewerkschaften außerhalb des DGB getragenen Arbeitskämpfen geführt. Diese Streiks sog. Funktionseliten hatten erhebliche Auswirkungen auf die Allgemeinheit und lösten einen erheblichen Regelungsdruck auf den Gesetzgeber aus. Darüber hinaus sollte der Gesetzgeber nach dem Willen der großen, eingespielten Tarifvertragsparteien der mit der Verbandskonkurrenz einhergehenden Verschärfung der Regelungskonflikte und der Unübersichtlichkeit der konkurrierenden tariflichen Regelwerke entgegentreten. Mit Rücksicht auf die DGB-Gewerkschaften, deren Zustimmung sonst nicht erreicht worden wäre, enthält das Gesetz trotz des Regelungsanlasses keine Bestimmung zum Arbeitskampfrecht. Die amtliche Gesetzesbegründung führte allerdings aus: "Die Regelungen zur Tarifeinheit ändern nicht das Arbeitskampfrecht. Über die Verhältnismäßigkeit von Arbeitskämpfen, mit denen ein kollidierender Tarifvertrag erwirkt werden soll, wird allerdings im Einzelfall im Sinne des Prinzips der Tarifeinheit zu entscheiden sein. Der Arbeitskampf ist Mittel zur Sicherung der Tarifautonomie. Der Arbeitskampf dient nicht der Sicherung der Tarifautonomie, soweit dem Tarifvertrag, der mit ihm erwirkt werden soll, eine ordnende Funktion offensichtlich nicht mehr zukommen würde, weil die abschließende Gewerkschaft keine Mehrheit der organisierten Arbeitnehmer im Betrieb haben würde. Im Rahmen der Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sind alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. Dazu können auch Strukturen des Arbeitgebers und die Reichweite von Tarifverträgen gehören."[3] Hiermit wurde zwar die Möglichkeit angesprochen, das Gesetz werde vielfach den für die Allgemeinheit oft unangenehmen Arbeitskämpfen der Funktionseliten die rechtliche Grundlage entziehen. Das Bundesverfassungsgericht hat dem jedoch ganz grundsätzlich den Boden entzogen. Es war von zehn Gewerkschaften außerhalb des DGB und von ver.di mit Verfassungsbeschwerden gegen das Gesetz angerufen worden. Die Verfassungsbeschwerden wurden zwar letztlich als unbegründet zurückgewiesen[4], das Gesetz wurde jedoch zuvor durch das Bundesverfassungsgericht in zahlreichen Punkten verfassungskonform korrigiert.[5] Zu seinen Wirkungen auf das Arbeitskampfrecht führte das Gericht in den Randziffern 139 und 140 u. a. aus: "Doch wirkt sich die Kollisionsregel des § 4a TVG nicht auf die Zulässigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen aus. Auch das Streikrecht einer Gewerkschaft, die in allen Betrieben nur eine kleinere Zahl von Arbeitnehmern organisieren kann, bleibt unangetastet; dies gilt selbst dann, wenn die Mehrheitsverhältnisse bereits bekannt sind. Das ergibt sich schon daraus, dass die Kollisionsregel des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG ebenso wie der Anspruch auf Nachzeichnung in § 4a Abs. 4 TVG den Abschluss eines weiteren Tarifvertrags voraussetzt; dieser muss also erkämpft werden können.[...] Auch darf die vom Gesetzgeber bewusst erzeugte Unsicherheit über das Risiko einer Verdrängung im Vorfeld eines Tarifabschlusses weder bei klaren noch bei unsicheren Mehrheitsverhältnissen für sich genommen ein Haftungsrisiko einer Gewerkschaft für Arbeitskampfmaßnahmen begründen; dies haben die Arbeitsgerichte ggf. in verfassungskonformer Anwendung der Haftungsregelungen sicherzustellen."[6]

[2] Wegen der Einzelheiten dieses Gesetzes, seiner Vorgeschichte und seiner Anwendungsschwierigkeiten vgl. Däubler/Bepler, Das neue Tarifeinheitsrecht, Baden-Baden 2016.
[3] BT-Drucks. 18/4062, S. 12.
[4] BVerfG, Urteil v. 11.07.2017, 1 BvR 1571/15, 1588/15, 2883/15, 1043/16, 1477/16.
[5] Dazu im Einzelnen Bepler, ArbuR 2017, 380.
[6] Zum verbleibenden Streikrecht trotz drohender Tarifpluralität auch ArbG Berlin, Urteil v. 17.10.2019, 27 Ga 11997/19.

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