Wahlprüfsteine zum Arbeitsrecht

Die Bundestagswahl ist nicht mehr fern und es ist nicht unüblich, dass Vereine, Verbände und Gewerkschaften "Wahlprüfsteine" verfassen. Sich diesen anzunehmen, ist eine Herausforderung: Nicht richtungspolitisch sollen sie sein, sondern rein aus Praktikersicht. Unser Kolumnist Alexander R. Zumkeller wagt einen ersten Aufschlag in diesem Wahljahr.

Bei der Quadratur des Kreises ist einiges herausgekommen, was der Arbeitsrechtspraktiker – letztlich gleich, welcher politischen "Richtung" er zuneigt – abcheckt und einfordert.

Prüfstein 1: Sagt Ihre Partei ganz klar "Ja" zur Betriebsratsarbeit 4.0?

Die Praktiker haben genug von halbgaren Versprechungen. Aushang der Gesetze, Arbeitsverträge, Betriebsvereinbarungen – alles auf Papier. Das Betriebsrätemodernisierungsgesetz hat nur eine scheinbare Erleichterung gebracht (mit der qualifizierten elektronischen Unterschrift nach dem Signaturgesetz), in noch zu wenigen aushangpflichtigen Gesetzen ist der Aushang elektronisch vorgesehen und zulässig, Tarifverträge müssen immer noch im Original oder in Abschrift eingereicht werden (obwohl immer mehr Tarifarchive dies ablehnen und um elektronische Einreichung bitten). Von der elektronischen Aufsichtsrats- oder Betriebsratswahl sind wir gefühlt 1.000 Jahre entfernt, auch die virtuelle Betriebsversammlung ist nicht vorgesehen und die virtuelle Betriebsratssitzung nur unter – sagen wir einmal – erschwerten Bedingungen. 2021 hat man sich anders vorgestellt. Liebe Politiker der jeweiligen Parteien: Seid Ihr ernstlich gewillt, das in den Jahren 2021 bis 2025 zu ändern?

Prüfstein 2: Auch ein "Ja" zu Arbeit 4.0?

Es ist einfach eine Tatsache: Das Arbeiten sieht heute anders aus als vor zehn oder 20 Jahren. Doch die Antworten darauf fehlen: Home- oder Flexoffice allerorten – aber keine sinnvollen Regelungen zur Absicherung durch die berufsgenossenschaftliche Unfallversicherung im Homeoffice, zu Steuern und Sozialversicherung soweit Flexwork im Ausland erfolgt, außerdem offene Flanken im Daten- und Informationsschutz. In Corona-Zeiten mussten Arbeitgeber Homeoffice ermöglichen, ohne dass diese Punkte geregelt worden wären. Wie sieht die Zukunft aus? Werden wir bald rechtssicher Flexoffice anbieten können?

Mittlerweile arbeiten auch kleinere Unternehmen über die gesellschaftsrechtlichen Grenzen (Vertragsarbeitgeber) oder Ländergrenzen hinaus. Doch nach wie vor ist die Arbeitnehmerüberlassung im Konzern nicht vollständig erlaubt. Klar, der öffentliche Dienst nennt das "Personalgestellung" und ist aus dem Schneider – privatwirtschaftliche Unternehmen brauchen das dringender denn je. Und meistens geht es gerade nicht um Tarifflucht oder ähnliches, sondern einfach nur um praktisches, zweckmäßiges Zusammenarbeiten.

Und dann wäre da noch das Arbeitszeitgesetz und seine Restriktionen. Klar, wir brauchen Arbeitsschutz. Aber die Maximalarbeitszeit könnte auch anders verteilt werden, Ruhezeiten anders geregelt werden, ohne dass der Gesamtsinn des Arbeitsschutzes dabei verloren geht. Warum darf man Oberärzte und Pastoren praktisch grenzenlos einsetzen, aber Mitarbeitenden, die das selbst wollen, gestattet man nicht, ihre Pausen und Ruhezeiten selbst zu bestimmen (im Übrigen in aller Regel unter Mitbestimmung durch den Betriebsrat)?

Prüfstein 3: Bemüht sich Ihre Partei um Gesetze, die klar sind, nicht nachgebessert werden müssen und die Stimme der Praktiker einbeziehen?

Nun kann man angesichts der allgemeinen Ratlosigkeit das Hin und Her im Infektionsschutzgesetz inklusive der Verlängerung der Bezugszeiträume für Kinderkrankengeld im Falle ihrer Gesundheit (die Kinder sind gesund, die Kita oder Schule aber zu, was zu einem Anspruch auf Kinder"kranken"geld führt) vielleicht erklären und nachsehen. Aber das Betriebsrätemodernisierungsgesetz (inklusive der unseriös niedrig angegebenen Belastung der Wirtschaft) ist wenig klar: Was ist ein "Sachverständiger"? Was ist "künstliche Intelligenz"? Man provoziert den Streit um die Auslegung dieser Begriffe geradezu, wenn man dem Betriebsrat zugesteht, im Falle des Einsatzes von künstlicher Intelligenz ohne weitere Voraussetzungen einen Sachverständigen beizuziehen.

Was ist mit der Arbeitszeit? Der EuGH schreibt die Erfassung vor, lässt dem nationalen Gesetzgeber aber große Spielräume und dieser überlässt das Feld offenbar der erstinstanzlichen Rechtsprechung, statt Klarheit zu schaffen.  

Ein § 611a BGB regelt das Arbeitsverhältnis "neu" und definiert es wesentlich über das Weisungsrecht des Arbeitgebers, welches dieser, angesichts bereits bestehender Teilzeitansprüche und geplanter Homeofficeansprüche aber gleich wieder verlieren soll. Was ist dann noch ein Arbeitsverhältnis?

Der geneigte Leser mag sehen, dass ein "Bemühen" um solche Gesetze eingefordert wird. Klar kann immer mal etwas misslingen. Aber den guten Willen von Anfang an gar nicht erst zu haben? Die klaren Hinweise der Praktiker ignorieren?

Prüfstein 4: Verspricht Ihre Partei, keine neuen Arbeitsrechtsregelungen zu normieren, ohne mindestens gleichwertige administrative Entlastung?

Von einem in der Praxis untauglichen Entgelttransparenzgesetz könnte hier nun stundenlang berichtet werden. Wie im Betriebsrätemodernisierungsgesetz hatte sich der Gesetzgeber mit dem Erfüllungsaufwand der Wirtschaft so dramatisch verschätzt, dass jedes Märchen wahrer ist als die dazu gemachten Angaben. Und was können Beschäftigte mit der Auskunft, dass sie unter oder über dem Median der vergleichbaren Beschäftigten liegen, anfangen? Nichts. Dieses Gesetz hat genau zwei Komponenten: guten Willen und hohen Aufwand der Wirtschaft. Halt, noch eine dritte: Arbeit für Arbeitsrechtler, die Kommentare und Aufsätze dazu schreiben (gegen Honorar) und Software-Firmen, die als Lösungsanbieter auftreten (für ein nicht geringes Salär).

Ich weiß, die Wahlprogramme sind geschrieben, und populär sind andere Forderungen der Parteien. Aber einmal möchte ich egoistisch denken. Lassen Sie mich meinen Kunden saubere Arbeit abliefern: Klare Ratschläge und Lösungsoptionen für die tatsächlichen Herausforderungen in einem 21. Jahrhundert. Und das, liebe Politiker, ist nun schon über 20 Jahre alt …


Unser Kolumnist Alexander R. Zumkeller, Präsident des Bundesverbands der Arbeitsrechtler in Unternehmen (BVAU) sowie Vorstand und Arbeitsdirektor bei ABB, blickt in seiner Kolumne aus der Unternehmenspraxis auf arbeitsrechtliche Themen und Trends.


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