Gesetzgeber muss bei Zeiterfassung handeln

Dass der Gesetzgeber es versäumt, in Sachen Arbeitszeiterfassung schleunigst für Rechtssicherheit zu sorgen, hält unser Kolumnist Alexander R. Zumkeller für ein Unding. Er fordert eine flexible Regelung mit Augenmaß.

Es ist wichtig. Gerade jetzt, wo viele hoch bedeutsame Themen die Medien bewegen: Krieg in der Ukraine, der Energiekosteneklat (teils tatsächlich begründet durch den Gas-Boykott Putins, teils künstlich hervorgerufen durch die Merit-Order-Preispolitik bei Strom), steigende Inzidenzen und steigende Belegung von Intensivbetten durch Corona-Kranke. Der Bundeswirtschaftsminister geht für das Jahr 2023 klar von einer Rezession von 0,4 Prozent aus (Wirtschaftsspezialisten liegen mit ihren Schätzungen teilweise noch deutlich darüber), die Inflation wird ein "Geschäftsjahr" mit über acht Prozent abschließen. Einen weiteren Schatten auf den Alltag legen aktuelle Tarifforderungen und Tarifverhandlungen – die Forderung der IGMetall in Höhe von acht Prozent wird von ver.di mit 10,5 Prozent noch getoppt.

Was passiert in eben diesem Schatten?

Und was geschieht im Arbeitsrecht? Es bleibt relativ unbeachtet im Schatten. Und das, mit Verlaub, ist ein riesengroßes Risiko.

So konnte die Regierung im Sommer ein Nachweisgesetz umsetzen, das die Wirtschaft mit mindestens 1,25 Milliarden Euro belastet (immerhin ein gutes Stück des 200 Milliarden-Konjunkturpaketes – nur mit dem Unterschied, dass das Konjunkturpaket Unternehmen und Privathaushalten nützen wird, das Nachweisgesetz hingegen niemandem, außer der Papierindustrie und den Tintenherstellern).

So konnte – oder man muss sagen "musste" – das BAG am 13. September feststellen, den Arbeitgeber treffe die Verpflichtung einer Arbeitszeiterfassung (wobei, wohlgemerkt, zumindest die Pressemitteilung offen lässt, ob dieses System zwingend ein elektronisches sein müsste). Immerhin hat es seit der Entscheidung des EuGH vom 14. Mai 2019, die ebenfalls geeignete manipulationssichere Systeme zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit einfordert, mehr als drei Jahre gedauert. Dazwischen liegen Entscheidungen einzelner Instanzengerichte (etwa ArbG Emden am 20. Februar 2020) und LAG Niedersachsen (6. Mai 2021), die die Arbeitsrechtswelt hin- und herbewegten, ohne den Betroffenen, den Arbeitgebern, auch nur einen Deut an Sicherheit zu geben.

Nicht zu vergessen die Schlecht… äh, pardon, Gutachten, welche die alte Bundesregierung in Auftrag gegeben hatte, einmal das BMAS und zum anderen das BMWi. Beide Gutachter interpretierten in die europäische Richtlinie mehr hinein als der EuGH und verfielen damit in weitgehendere Forderungen als der EuGH, der ausdrücklich gesetzgeberische Spielräume für Beschäftigtengruppen zugelassen hat.

Höchste Zeit für Rechtssicherheit

Es ist ziemlich genau ein Jahr her, dass ich – in dieser Kolumne – versprochen hatte: "Ich gebe keine Ruhe". Und jetzt ist dieser Zeitpunkt gekommen:

Der Gesetzgeber muss handeln. Jetzt und unverzüglich. Denn es können nicht 1,4 Millionen Betriebe (ich habe dabei 2,9 Millionen Kleinstbetriebe bis 10 Beschäftigte außen vor gelassen) in der Ungewissheit der Folgen der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts verbleiben. Wir Unternehmensarbeitsrechtler wollen Rechtssicherheit!

Es ist der Gesetzgeber, der handeln muss. Jetzt und unverzüglich. Denn es wäre fatal, wenn die Betriebe heute, dem BAG folgend, Arbeitszeiterfassungssysteme einführen würden, die morgen, nach einer entsprechenden auf der europäischen Richtlinie basierenden Gesetzgebung, keine Geltung mehr hätten. Denn wir Unternehmensarbeitsrechtler wollen Rechtssicherheit!

Der Gesetzgeber muss europarechtskonform handeln. Und das heißt: mit Augenmaß. Dies wiederum bedeutet, die vorgenannten Gutachten in den Schredder zu geben und sich an den Leitplanken des EuGH auszurichten. In Nr. 63 der Erwägungen heißt es dort unzweideutig:

"Doch obliegt es … den Mitgliedstaaten, im Rahmen des ihnen insoweit eröffneten Spielraums, die konkreten Modalitäten zur Umsetzung eines solchen Systems, insbesondere dessen Form, festzulegen, und zwar gegebenenfalls unter Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs, sogar der Eigenheiten bestimmter Unternehmen, namentlich ihrer Größe." Das bedeutet, dass insbesondere die Möglichkeit der Ausnahme leitender Angestellter, in selbstgewählter Vertrauensarbeitszeit Beschäftigter, im Homeoffice oder im Außendienst Beschäftigter sehr ernsthaft überprüft werden sollte, nein muss; gegebenenfalls kann man eine gesetzliche Regelung mit einem Betriebsvereinbarungvorbehalt versehen, zumindest aber eine Arbeitszeiterfassung "einfacher Art" eröffnen.

Der Gesetzgeber muss unterstützend handeln

Denn sehr klar ist, dass der EuGH im Grundsatz eine elektronische Zeiterfassung einfordert, wenn er gebetsmühlenartig wiederholend ausführt "objektives, verlässliches und zugängliches System, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann". Wir brauchen ein Minimum an Flexibilität an dieser Stelle, denn wir Unternehmensarbeitsrechtler wollen die Bedürfnisse der Beschäftigten wie auch der Unternehmen in rechtskonforme Regelungen gießen: Die Beschäftigten und die Unternehmen haben Anspruch auf  Rechtssicherheit!

Der Gesetzgeber muss unterstützend handeln. Nur Gesetze zu erlassen und die Unternehmen alleine zu lassen – bitte nicht wieder! Hinsichtlich des Nachweisgesetzes warten wir heute noch auf eine "Formulierungshilfe". Der europäische Gesetzgeber hat das im Datenschutzrecht mit den sogenannten Standardvertragsklauseln geschafft – und damit eines erzeugt: genau, Rechtssicherheit! Für die Arbeitszeiterfassung heißt das: exakte Beschreibung des elektronischen Systems. Schon tummeln sich unzählige Anbieter mit äußerst unterschiedlichen Lösungen auf dem deutschen Markt, und jeder verspricht Rechtssicherheit – wohlgemerkt, ohne auch nur zu ahnen, welche Anforderungen der Gesetzgeber stellen wird! Eine Zertifizierungsstelle des Bundes, die "tauglichen" angebotenen Systemen das "OK" erteilt, wäre mehr als hilfreich im Sinne, ja schon wieder, der Rechtssicherheit.  

Wir bleiben am Ball, Herr Heil!

Also: lassen wir das BMAS und Minister Heil nicht aus den Augen. Das Ministerium hat die Wahl: uns als Unternehmensarbeitsrechtler alleine zu lassen (mit dem gerne gegebenen Hinweis "Praxis und Rechtsprechung werden konforme Lösungen entwickeln") und (russisch) Roulette spielen lassen. Oder wieder mal ein Bürokratiemonster mit viel Aufwand und ohne Nutzen zu erzeugen (wie das Entgelttransparenzgesetz oder das Nachweisgesetz) und die Wirtschaft – in der Rezession – die eine oder andere Milliarde versenken zu lassen. Oder eben: mit Augenmaß eine europarechtskonforme Lösung entwickeln und echte Umsetzungshilfen wie eine Zertifizierung zu entwickeln.

Sorgen wir dafür, dass dieses Thema nicht im Hintergrund der – zugegebenermaßen dramatisch bedeutenderen – Nachrichten verschwindet. Lassen Sie uns das weiter als Thema adressieren. Und, bevor ich es vergesse: ich gebe keine Ruhe!


Unser Kolumnist Alexander R. Zumkeller, Präsident des Bundesverbands der Arbeitsrechtler in Unternehmen (BVAU), sowie Vorstand und Arbeitsdirektor bei ABB, blickt in seiner Kolumne aus der Unternehmenspraxis auf arbeitsrechtliche Themen und Trends.