Entscheidungsstichwort (Thema)

Hilflosigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

Es gibt keinen besonderen Begriff der Hilflosigkeit bei Kindern. Soweit die Verwaltungspraxis in Übereinstimmung mit den "Anhaltspunkten" im Kindesalter Hilflosigkeit unter erleichterten Voraussetzungen zubilligt, fehlt es an einer gesetzlichen Grundlage.

 

Normenkette

BVG § 35; EStG § 33

 

Gründe

I. Der Beklagte hat der an Mucoviscidose erkrankten Klägerin bei der ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 anerkannt ist, den Nachteilsausgleich "H" nach Vollendung des 18. Lebensjahres entzogen (Bescheid vom 10. November 1086, Widerspruchsbescheid vom 30. März 1987).

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, daß die Klägerin nicht mehr hilflos sei, weil sie die wegen ihrer Behinderung erforderlichen Maßnahmen, die zuvor von den Eltern und anderen Hilfspersonen geleistet, angeregt und überwacht werden mußten, nunmehr selbständig und eigenverantwortlich organisieren und durchführen könne (Urteil vom 19. Januar 1988). Die Berufung der Klägerin hatte Erfolg, weil das Landessozialgericht (LSG) keine Änderung in den Verhältnissen feststellen konnte, die eine Änderung des Bescheids nach § 48 des Sozialgesetzbuchs - Verwaltungsverfahren - (SGB X) erlaubte. Die Klägerin sei bei Zuerkennung des Nachteilsausgleichs hilflos iS von § 33b Einkommensteuergesetz (EStG), § 35 Bundesversorgungsgesetz (BVG) gewesen. Sie sei im Zeitpunkt der Zuerkennung 12 Jahre alt gewesen und habe dreimal täglich orale Myolytika und bei Infekten zusätzlich Antibiotika erhalten. Daneben sei eine fettarme Diät sowie eine tägliche Klopfdrainage von 20 bis 25 Minuten Dauer erforderlich gewesen. Im Zeitpunkt der Entziehung habe die KIägerin noch immer Diät eingehalten und Medikamente eingenommen.

Klopfdrainagen seien nunmehr dreimal täglich mit einer Gesamtdauer von einer Stunde erforderlich. Diese Klopfdrainagen könnten auch nie von der Klägerin selbst durchgeführt werden. Eine Änderung in den Verhältnissen, die sich auf die Notwendigkeit fremder Hilfeleistung bezöge, seien nicht erkennbar; geändert habe sich nur das Alter, worauf es jedoch nicht ankomme (Urteil vom 27. Februar 1989).

Der Beklagte hat die vom Landessozialgericht (LSG) zugelassene Revision eingelegt. Er stützt sich darauf, daß die erstmalige Zuerkennung im Alter von 13 Jahren den "Anhaltspunkten" 1977 gefolgt sei, die festgelegt hätten, daß bei Mocoviscidose-Erkrankten Hilflosigkeit in alle Regel bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres anzunehmen sei. Der altersbezogene Beurteilungsmaßstab beruhe darauf, daß bei Erwachsenen im Gegensatz zu jugendlichen und heranwachsenden Behinderten ein geändertes und damit behinderungsadäquates Verhalten im Umgang mit der Erkrankung erwartet werden könne; Hilflosigkeit bestehe jetzt nicht mehr.

Der Beklagte beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 19. Januar 1988 zurückzuweisen.

Diesem Antrag hat.sich der Beigeladene angeschlossen. Er vertritt die Auffassung, daß mit dem Reifungsprozeß und der zunehmenden selbständigen Bewältigung eines großen Teils der wegen der Behinderung erforderlichen Hilfeleistungen eine tatsächliche Änderung in den Verhältnissen eintrete. Die Bewilligung im Kindesalter beruhe darauf, daß ein Kind manche wegen der Funktionsstörungen notwendigen Anpassungshandlungen, die ein Erwachsener zu leisten vermöge, noch nicht leisten könne. Die besonderen Regelungen für behinderte Kinder seien nach umfassenden Sachverständigenberatungen mit Rundschreiben des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (BMA) vom 22. Dezember 1976 (BVBI 1977, 15) bekannt gemacht und anschließend in die "Anhaltspunkte" 77 übernommen worden. Sinn dieser Begutachtungsrichtlinien sei es, Nachteile und soziale Ungerechtigkeiten auszugleichen, die den Eltern durch die Betreuung behinderter Kinder erwüchsen. Wenn im Zuge des Erwachsenwerdens solche Vergünstigungen nicht zurückgenommen werden könnten, müsse man in Frage stellen, ob bei Kindern Überhaupt Hilflosigkeit angenommen werden dürfe.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil schon deshalb für richtig, weil die Zuerkennung des Merkzeichens "H" zunächst nicht allein mit dem Alter begründet worden sei, sondern weil tatsächlich Hilflosigkeit vorgelegen habe; diese bestehe fort.

II.

Die Revision des Beklagten ist begründet. Der Klägerin steht der Nachteilsausgleich "H" ab Vollendung des 18. Lebensjahres nicht mehr zu. Hierüber durfte der Beklagte mit Änderungsbescheid nach § 48 SGB X vom 18. August 1980 (BGBl I 1469) entscheiden.

Nach den mit Verfahrensrügen nicht angegriffenen, somit bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des LSG, denen auch die Klägerin nicht entgegengetreten ist, war die Klägerin im Zeitpunkt des Änderungsbescheides nicht mehr hilflos iS von § 33b EStG.

Das Landessozialgericht (LSG) hat seiner Entscheidung eine zutreffende Auffassung vom Begriff der Hilflosigkeit zugrunde gelegt. Nach der bis zum 31. Dezember 1989 gültigen Fassung des EStG vom 5. September 1974 (BGBl I 2165) war zwar nach § 33b EStG derjenige Körperbehinderte hilflos, der nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen kann. In der Rechtspr war aber anerkannt, daß diese Definition so zu verstehen ist, daß ein Behinderter hilflos ist, wenn er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedarf (vgl die Anlehnung an § 35 Bundesversorgungsgesetz (BVG) in BSGE 59, 103, 104 = SozR 3875 § 3 Nr 2; vgl auch BSGE 43, 107, 108 = SozR 2200 § 558 Nr 2; abweichend für die Definitionen der §§ 68, 69 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) in BVerwGE 80, 94, 95 ff), wie dies in den Lohnsteuerrichtlinien auch ausgeführt worden ist (LStR 1981 Nr 70 Abs 3 in BStBl I 132, LStR 1984 in BStBl I unter Nr 2/83). Diese Richtliniendefinition ist in den novellierten § 33b EStG idF durch das Steuerreformgesetz 1990 vom 25. Juli 1988 (BGBl I 1988, 1093 - 1103) iS einer Anpassung an das Schwerbehindertengesetz (SchwbG) übernommen worden. Mithin bestehen keine Zweifel daran, daß im Steuerrecht insgesamt die in der Rechtspr entwickelte Definition der Hilflosigkeit maßgebend war und ist, die auch von der Versorgungsverwaltung zugrunde gelegt wird, wenn sie die - für das Steuerrecht maßgebliche (vgl BFH, Urteil vom 28. September 1984 in BFHE 142, 377) - Bescheinigung ausstellt.

Nach dieser Definition war die Klägerin nie hilflos. Das Landessozialgericht (LSG) hat dies verkannt, weil es sich - jedenfalls für die Zeit bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres - nach den der Rechtslage widersprechenden "Anhaltspunkten" gerichtet hat. Mindestens hat es zu Unrecht die Bindungswirkung des ersten Anerkennungsbescheides auf die Zukunft erstreckt, ohne seine Rechtmäßigkeit zu prüfen.

Für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens bedarf die Klägerin nach den Feststellungen des Landessozialgericht (LSG) überhaupt keiner fremden Hilfe. Die Hilfeleistung müßte sich nämlich auf personengebundene Verrichtungen des täglichen Lebens beziehen - wie zB das Aufstehen, Waschen, Kämmen, Essen, Nahrungszubereitung, körperliche Bewegung und geistige Erholung. Es wird im Urteil aber lediglich eine behandlungsbedürftige Erkrankung umschrieben, die für einige Zeit am Tag ambulante "Behandlungspflege" erfordert. Erstmals mit § 37 SGB V, geschaffen durch das Gesundheits-Reformgesetz (GRG) vom 20. Dezember 1988 (BGBl I 2477, in Kraft seit 1. Januar 1989), nimmt ein Gesetz aus dem Sozialleistungsbereich die Begriffe Grund- und Behandlungspflege als Teil häuslicher Krankenpflege auf. Unter Behandlungspflege werden medizinische Hilfeleistungen verstanden, zB Verabreichen von Medikamenten, Anlegen von Verbänden, Spülungen und Einreibungen (BSGE 50, 73, 76 = SozR 2200 § 185 Nr 4). Hierzu rechnet auch die Unterstützung bei Inhalationen oder Klopfdrainagen. Ein Anspruch gegen die Krankenversicherung besteht jedoch nur dann, wenn eine im Haushalt lebende Person den Kranken nicht im erforderlichen Umfang pflegen und versorgen kann, also für Kinder in aller Regel nicht (die Fälle von Schwerpflegebedürftigkeit - §§ 53 bis 57 SGB V - können hier außer Betracht bleiben). Zur Grundpflege zählen pflegerische Leistungen nichtmedizinischer Art, zB Hilfen bei Körperpflege und Hygiene, Nacht- oder Tagwachen usw (vgl Höfler in Kasseler Komm § 37 SGB V RdNr 22 mwN). Diese Art Pflegeleistungen sind Hilfestellung bei Verrichtungen des täglichen Lebens, ermöglichen die Zubilligung des Nachteilsausgleichs "H" jedoch nur, wenn sie in einem erheblichen Umfang notwendig sind (vgl Bundesverfassungsgericht (BVerfG) SozR 3100 § 35 Nr 17).

Hingegen begründet die einfache, im Haushalt mögliche Grundpflege, die Eltern ihren erkrankten Kindern zuwenden, weder eine Leistungspflicht in der Krankenversicherung noch löst sie steuerliche Vergünstigungen aus. Das folgt aus der Grundnorm des § 33 EStG, der Krankheitsmehrkosten anerkennt, aber nur soweit Aufwendungen entstehen (vgl ua BFHE 132, 545). Die Belastung durch die Pflegearbeit - soweit sie keine Kosten verursacht - wird steuerlich nicht berücksichtigt. Für den Pauschbetrag nach § 33b EStG gilt grundsätzlich dasselbe. Erst der neugeschaffene § 33b Abs 6 EStG idF des Steuerreformgesetzes 1990 erkennt die außergewöhnliche Belastung an, die einem Steuerpflichtigen durch die Pflege einer Person erwächst, allerdings mit einem erheblich niedrigeren Pauschbetrag, obwohl auch nach dieser Vorschrift der Gepflegte hilflos iS des Schwerbehindertenrechts sein, also für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfang dauernd auf fremder Hilfe angewiesen sein muß. Seit dem Steuerreformgesetz 1990 gibt es einen Freibetrag von DM 7.200,- für die Pflege eines hilflosen Kindes und einen Freibetrag von DM 1.800,- für die Pflege sonstiger hilfloser Personen. Diese Unterschiede dürfen nicht noch dadurch vertieft werden, daß bei Kindern ein großzügigerer Maßstab für die Prüfung der Hilflosigkeit angelegt wird. Dies geschähe, wenn alterstypische Behinderungen - dazu zählt auch der alterstypische Umgang mit einer Erkrankung - anspruchsbegründend berücksichtigt werden. Das ist jedoch nach § 3 Abs 1 Satz 2 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) ausdrücklich ausgeschlossen; denn regelwidrig ist der Zustand, der von dem für das Lebensalter typischen abweicht. Dem entspricht § 33b Abs 3 Satz 1 EStG aF, wonach eine MdE, soweit sie überwiegend auf Alterserscheinungen beruht, nicht zu berücksichtigen ist. Diese Einschränkungen werden zwar in der steuerlichen Literatur überwiegend in bezug auf Besonderheiten im vorgerückten Lebensalter diskutiert (vgl die Nachweise bei Kirchhoff/Söhn, Einkommensteuergesetz, Stand: Oktober 1988, § 33b Anm B 2), gelten aber in gleicher Weise für altersbedingtes Unvermögen bei Kindern (vgl auch den typisierenden Ausschluß von Pflegeleistungen für Kinder in § 69 Abs 3 Satz 1 BSHG). Diese Einschränkung gilt auch noch nach dem Steuerreformgesetz 1990, das den Ausschluß von alterstypischen Behinderungen in § 33b EStG gestrichen hat; denn die Streichung ist ohne Einfluß auf die Rechtslage, weil der Nachweis gemäß dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) zu erfolgen hat (§ 33b Abs 7 EStG iVm § 65 EStDO).

Es ist nicht auszuschließen, daß die Hilflosigkeit in § 33b EStG in früherer Zeit bewußt abweichend von § 35 Bundesversorgungsgesetz (BVG) definiert worden ist. Denn die Hilflosigkeit iS des Steuerrechts führt nur zu einem erleichterten Nachweis notwendiger Mehraufwendungen in der Lebensführung und befreit den Behinderten von der Verweisung auf eine zumutbare Eigenbelastung; im Versorgungsrecht begründet Hilflosigkeit den Anspruch auf eine - erhebliche - Geldleistung. Die Vorschriften des Steuerrechts und die des Versorgungsrechts dienen so unterschiedlichen Zwecken, daß auch unterschiedliche Tatbestandsvoraussetzungen - bei einem früher ohnedies unterschiedlichen Wortlaut - vertretbar erscheinen. Aus der Funktion des § 33 EStG, der die außergewöhnliche Belastung ausgleicht, die ein Steuerpflichtiger im Verhältnis zur Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse und gleichen Familienstandes erleidet, könnte steuerlich eine andere Betrachtung angezeigt sein; dies ist jedoch nicht zwingend so. Gegen eine solche Auslegung spricht vor allem die Rechtsentwicklung, die das Steuerrecht genommen hat, ohne daß indessen deutlich wird, ob dem Steuergesetzgeber bewußt ist, daß er damit die besondere Belastung, die Eltern mit der Pflege erkrankter Kinder erwächst, weitgehend außer Ansatz läßt. Angesichts der Gesetzeslage seit dem Steuerreformgesetz 1990 mit der wörtlichen Angleichung von § 33b EStG an § 35 Bundesversorgungsgesetz (BVG) kann jedenfalls richterrechtlich keine andere Auslegung als diejenige der bisherigen Rechtspr zugrunde gelegt werden. Danach ist die Klägerin nicht hilflos, weil sie nur in relativ geringem Umfang, täglich etwa eine Stunde, auf fremde Hilfe angewiesen ist.

Die Klägerin kann sich auch nicht darauf berufen, daß ihr der Nachteilsausgleich schon im Kindesalter zu Unrecht zugebilligt worden ist und daher eine Entziehung nur nach § 45 SGB X, nicht aber nach § 48 SGB X in Betracht komme. Denn mit Vollendung des 18. Lebensjahres hat sich eine Tatsache geändert, die für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "H" erkennbar maßgeblich war. Die Zuerkennung entsprach der Auffassung des Beklagten, der sich auf die "Anhaltspunkte" und ein Rundschreiben des Bundesminister f. Arbeit u. Sozialordnung (BMA) (zB in BVBl 1977, 15) stützt. Sie stand im Einklang mit der Rechtsauffassung des BMF, der für einige Stoffwechselerkrankungen den Steuerfreibetrag nicht einmal mehr an die Schwerbehinderung knüpfte (vgl DB 1980, 138). Erreicht ein Begünstigter die in den "Anhaltspunkten" vorgesehene Altersgrenze, handelt es sich um eine Änderung wesentlicher Verhältnisse; dies ist vom BSG schon entschieden worden (BSG SozR 1300 § 48 Nr 13; vgl auch aaO Nr 43).

Die Klägerin war allerdings auch als Kind und Jugendliche nicht über das dem jeweiligen Alter entsprechende Maß hinaus auf Hilfeleistungen bei den Verrichtungen des täglichen Lebens angewiesen. Ihre eigentliche Erkrankung ist der Behandlung im Sinne einer Heilung nicht zugänglich. Verschlimmerungen können durch Medikamente, die Klopfdrainagen und eine verantwortliche Lebensführung verhindert werden. Die Verantwortung für die Lebensführung muß bei Kindern notwendig insgesamt bei den Eltern liegen und wirkt sich letztlich bei allen Verrichtungen aus, im täglichen Leben jedoch nicht anders oder weniger als bei der Einnahme von Medikamenten, Diät, der Vermeidung von besonderen körperlichen Belastungen und Infektionsgefahren. Die Kinder bedürfen spezieller Überwachung durch die Eltern wegen ihrer Unerfahrenheit, die sich auch bei Erkrankungen auswirkt. Ihre wachsende Unabhängigkeit von elterlicher Betreuung durch den Reifeprozeß und die damit zunehmende selbständige Bewältigung ihres Lebens verdeutlichen, daß die Hilfeleistungen in bezug auf die Erkrankung, die ohne wesentliche Veränderungen im Krankheitsbild im Erwachsenenalter keine Hilflosigkeit bedingen, nur altersbedingt sind. Erfordert ein unverändertes Krankheitsbild vermehrte Hilfeleistungen im Kindesalter, haben diese Mehrleistungen für den Nachteilsausgleich "H" keine Bedeutung. Nur die Hilfe, die auch ein ebenso kranker Erwachsener benötigt, ist vom - kindlichen - Alter unabhängig. Zu Recht hat daher die Beigeladene die Frage aufgeworfen, ob die "Anhaltspunkte", die gewissen Erkrankungen im Kindesalter eine größere Bedeutung beimessen, dem Gesetz entsprechen.

Dies ist nach Auffassung des Senats aus zwei Gründen nicht der Fall. Zum einen berücksichtigen die "Anhaltspunkte" nicht ausreichend, daß nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) altersbedingte Störungen, auch altersbedingte Verstärkungen in den Auswirkungen von Störungen, nicht beachtet werden dürfen. Im übrigen sieht der Senat in den "Anhaltspunkten" ein Regelwerk, dessen Bedeutung weit über das hinausgeht, was ihm nach der im Vorwort geäußerten Meinung der Herausgeber zukommen soll. Sie sollen Richtlinien für den ärztlichen Sachverständigen sein, ihm Beurteilungshinweise geben und dem jüngsten medizinischen Wissensstand entsprechende und bei gleichen Sachverhalten auch einheitliche Antworten auf Gutachterfragen ermöglichen (vgl "Anhaltspunkte" 83, Vorwort). In diesem Sinn könnten sie antizipierte Sachverständigengutachten sein (vgl Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) NVwZ 1988, 824 = DVBl 1988, 539), die im Sozialrecht generell geeignet sein mögen, die unscharfen Begriffe zum Leistungsvermögen (MdE, GdB, Erwerbsunfähigkeit (EU) usw) zu strukturieren. Die MdE, der GdB, die Hilflosigkeit oder Pflegebedürftigkeit umschreiben indessen nicht medizinische, sondern rechtliche Begriffe. Ihre Festlegung kann nicht Aufgabe von Sachverständigen sein; sie beruht auch nicht auf medizinischer Erfahrung, sondern auf einer rechtlichen Wertung von Tatsachen. Diese Tatsachen sind allerdings mit Hilfe von medizinischen Sachverständigen festzustellen; zu diesen Tatsachen gehört neben dem Krankheitsbild auch das Leistungsvermögen bzw die Beschreibung der Funktionsstörung. Das ist in der Rechtspr immer wieder bekräftigt worden (vgl BSGE 4, 147, 149; 31, 185, 186; SozR 2200 § 581 Nr 23; s auch BSGE 41, 99 = SozR 2200 § 581 Nr 5). In welchem Umfang das körperliche und geistige Leistungsvermögen beeinträchtigt ist, inwieweit aus diesem Grund Hilfen bei der Verrichtung des täglichen Lebens erforderlich sind, unterliegt in erster Linie einer medizinischen Beurteilung. Wie sich diese Tatsachen auf Erwerbsmöglichkeiten auswirken (beispielsweise in der Unfallversicherung (UV) - vgl BSG SozR 2200 § 581 Nr 22) oder wie sich im Schwerbehindertenrecht die Funktionsbeeinträchtigung sowohl im Erwerbsleben als auch im gesellschaftlichen Bereich auswirkt (vgl BSG SozR 3870 § 3 Nr 27 mwN), verlangt eine rechtliche Beurteilung, die evtl zusätzlich den Sachverstand anderer Wissenschaftszweige benötigt. Auch der Begriff der Hilflosigkeit kann nur mittels rechtlicher Wertung ausgefüllt werden (vgl zu den Wertungsunterschieden: Hennies, Medizinischer Sachverständiger 1981, S 6 ff; derselbe in Zentralblatt für Arbeitsmedizin 1990, S 66 ff; ebenso Holtstraeter, Medizinischer Sachverständiger 1989, S 86 ff; Rauschelbach, Das neurologische Gutachten, S 35 ff und S 54 ff). Hier müßten die im Sozialrecht vorgefundenen weiten Begriffe - ebenso wie im Steuerrecht (vgl BVerfGE 78, 214, 226 ff) - konkretisiert werden, evtl mit Mitteln normenkonkretisierender oder normeninterpretierender Verwaltungsvorschriften (vgl Zusammenstellung bei Gerhardt NJW 1989, 2233 ff). Solche "Unternormen" bedürften aber einer gesetzlichen Ermächtigung und für den wesentlichen Regelungsbereich auch parlamentarischer Grundentscheidungen (vgl Kloepfer JZ 1984, 685, 691 f; Staupe, Parlamentsvorbehalt und Delegationsbefugnis 1986), zumindest durch gesetzliche Einbindung des geforderten Sachverstands (vgl auch Papier, DOKz Dt Verwaltungsrichtertag 1986, Thesen 12, 13 und S 234 ff).

Diesen rechtlichen Vorbehalten werden die "Anhaltspunkte" mit ihren detaillierten MdE-Tabellen ebensowenig gerecht wie mit den Vorgaben zum Begriff der Hilflosigkeit, was besonders in den vorliegenden Fällen deutlich wird. Gerade bei der Hilflosigkeit von Kindern im Zusammenhang mit bestimmten Erkrankungen, die bei Erwachsenen nicht anerkannt werden, enthalten die "Anhaltspunkte" (vgl zB diejenigen von 1983 unter Nr 22, Buchst g, h, k) zwingende Vorschriften, wie sie nur ein Gesetzgeber erlassen kann. Die beteiligten Bundesminister - einerseits der Bundesminister f. Arbeit u. Sozialordnung (BMA) (zB in BVBl 1977, 15) und andererseits der Bundesminister d. Finanzen (BMF) (zB in DB 1980, 138) haben in weitgehender politischer Übereinstimmung ein Anspruchsgefüge geschaffen, das zwar begünstigend wirkt, jedoch der Rechtsgrundlage entbehrt. Wollte der Gesetzgeber den Eltern erkrankter Kinder bei bestimmten Erkrankungen Steuervergünstigungen zubilligen, die den Betroffenen im Erwachsenenalter selbst nicht zugute kommen, hätte er insoweit in parlamentarischer Verantwortung Regelungen treffen müssen. Dies folgt nicht nur aus dem generellen Vorbehalt des Gesetzes, sondern für das Sozialrecht auch aus der ausdrücklichen Anordnung in § 31 SGB I. Nach dem Schwerbehindertenrecht besteht weder eine Verordnungsermächtigung (§ 80 GG) zu untergesetzlichen Normen, noch handelt es sich bei den "Anhaltspunkten" formal um allgemeine Verwaltungsvorschriften, die die Bundesregierung nur mit Zustimmung des Bundesrates erlassen kann (§ 84 Abs 2 GG). Sie übertreffen in ihrer begünstigenden Wirkung jedoch die genannten Formen der Rechtssetzung, weil sie für Gruppen von Behinderten - nicht zuletzt über das Gleichbehandlungsgebot (vgl BSG, HVGBG Rdschr VB 122/84 und Beschluß vom 26. Oktober 1987 - 9a BVs 39/87) unmittelbare Anspruchsgrundlage werden; insoweit haben sie Normcharakter. Das wird hier deshalb besonders deutlich, weil über die "Anhaltspunkte" und ergänzende Anweisungen des Bundesminister d. Finanzen (BMF) der Gesetzestext dahin geändert wird, daß Kinder als hilflos gelten, wenn sie bestimmte Erkrankungen mit bestimmten zugeordneten MdE-Graden haben.

Die normative Wirkung der "Anhaltspunkte", die nicht einmal für das Versorgungsrecht die gleichen MdE-Werte für gleiche Erkrankungen = Schäden auswerfen, die in der Unfallversicherung (UV) nach den Erfahrungswerten (vgl zB Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, 22. Ergänzungslieferung Anhang 12) anerkannt werden, wird faktisch beachtet. Die Tabellenwerte sind im jeweiligen Regelungsbereich Grundlage der Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen, obwohl es aus Rechtsgründen auszuschließen ist, daß die Unterschiede auf medizinischen Sachverhalten beruhen. Sie beruhen auf Wertungen, rechtlichen Einordnungen in unterschiedliche Normgefüge und müssen daher - soweit Ansprüche begründet werden - vom Gesetzgeber, nicht aber von einem Sachverständigenrat vorgegeben werden.

Trotz dieser grundlegenden Bedenken können die "Anhaltspunkte" in der Praxis und der sozialgerichtlichen Rechtspr nicht ignoriert werden, schon gar nicht mit dem Ziel, nachträglich die Rechtswidrigkeit von Verwaltungsakten zu begründen, um ihnen wegen der eingeschränkten Rücknahmemöglichkeit nach § 45 SGB X auf Dauer Bestand zu verleihen. Denn ein in Übereinstimmung mit den "Anhaltspunkten" ergangener Bescheid, der zwischen den Beteiligten bindend wird, kann regelmäßig nicht nachträglich als inhaltlich falsch = rechtswidrig angesehen werden (vgl BSG SozR 3870 § 4 Nr 3). So wie die "Anhaltspunkte" bisher in der Rechtspr als geeigneter Maßstab für die Bewertung konkreter Sachverhalte herangezogen worden sind, müssen sie für die Zeitdauer ihrer Geltung - insbesondere insoweit, als sie begünstigend sind - auch als Maßstab von Verwaltungsentscheidungen anerkannt werden. Vor allem hierauf beruht die Entscheidung des Senats vom 7. Februar 1985 (SozR 1300 § 48 Nr 13, die in der Anschlußrechtsprechung des BSG - vgl die Nachweise in BSG Urteil vom 29. November 1989 - SozR 4100 § 138 Nr 27 - eine Ausweitung erfahren hat, zu der hier nicht Stellung genommen werden muß). An sich setzt die "wesentliche Änderung" der tatsächlichen Verhältnisse iS von § 48 Abs 1 SGB X eine Veränderung der für den Verwaltungsakt objektiv maßgeblichen Umstände voraus; wesentlich für einen Verwaltungsakt sind die von der Rechtsordnung für maßgeblich erklärten Umstände. Erachtet die Verwaltung jedoch eine Tatsache zu Unrecht für wesentlich, und beruht das auf den - veröffentlichten - Maßstäben, die für das einheitliche Verwaltungshandeln herangezogen werden, ist auch eine solche Tatsache für die Bewilligung der Dauerleistung im Rechtssinn wesentlich; denn auch der fehlerhafte Maßstab steuert iS der Gleichbehandlung die Verwaltungspraxis. Der Wegfall von Tatsachen, die nach dem fehlerhaften Maßstab wesentlich sind, bewirkt eine wesentliche Änderung iS von § 48 SGB X. In derartigen Fällen ist auch die Bedeutung bestimmter Tatsachen für die Entscheidung in einem objektiven Sinn "erkennbar".

Zu diesen erkennbar objektiv bedeutsamen Tatsachen gehört im vorliegenden Fall als Grundlage der fehlerhaften Bewilligung von "H" das Lebensalter. Denn ohne das kindliche Alter wäre der begünstigende Verwaltungsakt nicht ergangen. Veränderungen dieses erkennbaren Anknüpfungsmerkmals wirken sich aus, obwohl sie sich bei zutreffender Rechtsauffassung als formal (weil ohne rechtliche Legitimation) und materiell (weil nicht am Gesetzesbegriff der Hilflosigkeit ausgerichtet) rechtswidrig erweisen. Die Klägerin kann daher aus der rechtswidrigen Verwaltungspraxis, Minderjährigen bei manifester Mucoviscidose das Merkmal "H" ohne Prüfung der Hilflosigkeitsvoraussetzungen zuzuerkennen, keinen Anspruch auf Fortschreibung dieser Anerkennung über das 18. Lebensjahr hinaus herleiten. Angesichts ihres auf die einschlägigen Ministererlasse bezugnehmenden Antrags war die Erstanerkennung von "H" möglicherweise sogar auf die Zeit bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres begrenzt. Die Behörde hätte den Verwaltungsakt jedenfalls befristen können (vgl das Urteil des Senats vom heutigen Tag - SozR 3 - 1300 § 32 Nr 3). Sie war jedoch auch ohne diese Leistungsbegrenzung zur Anpassung des Bescheids an die geänderten Verhältnisse befugt.

 

Fundstellen

BSGE, 204

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