Entscheidungsstichwort (Thema)

gebundener Verwaltungsakt. Umdeutung. Nachschieben von Gründen. Aufrechterhaltung der Rücknahme einer Fehlbewilligung im Arbeitsförderungsrecht. Arbeitslosenhilfe. Einkommensanrechnung. Erziehungsrente

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zur Abgrenzung von Umdeutung und Nachschieben von Gründen bei gebundenen Verwaltungsakten (Abgrenzung zu BSG vom 22.6.1988 - 9/9a RV 3/86 = SozR 1300 § 43 Nr 1).

2. Im Arbeitsförderungsrecht kann seit dem 1.1.1994 (§ 152 Abs 2 AFG, jetzt: § 330 Abs 2 SGB 3) ein fehlerhaft mit einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen ohne Schuldvorwurf begründeter Aufhebungsbescheid mit Gründen für eine vom Begünstigten zu vertretende Rücknahme einer Fehlbewilligung aufrechterhalten werden.

 

Orientierungssatz

Zu den Bezügen, die § 138 Abs 3 AFG nicht als Einkommen gelten läßt, gehört die Erziehungsrente nicht. Auch aufgrund des § 11 AlhiV idF vom 18.12.1992 ergibt sich nichts anderes.

 

Normenkette

AFG § 138 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 3, § 15 2 Abs. 2 Fassung: 1993-12-21; AlhiV § 11; SGB III § 330 Abs. 2; SGB IV § 18a Abs. 3 S. 1; SGB VI § 97 Abs. 1; SGB X §§ 31, 35 Abs. 1 S. 2, § 41 Abs. 2, § 43 Abs. 3, § 45 Abs. 1, 2 S. 3 Nrn. 2-3, Abs. 3-4, § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 29.04.1999; Aktenzeichen L 11 AL 39/96)

SG Würzburg (Urteil vom 06.11.1995; Aktenzeichen S 6 Al 794/94)

 

Tatbestand

Die Revision betrifft die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) ab 29. Juni 1992 und die Erstattung von Leistungen.

Der 1953 geborene Kläger bezog bis zur Erschöpfung des Anspruchs am 27. Juni 1992 Arbeitslosengeld (Alg) nach einem Bemessungsentgelt von wöchentlich 580,00 DM. In einem Formblattantrag vom 28. Juli 1992 für die Bewilligung von Anschluß-Alhi gab der Kläger die Lohnsteuerklasse I ohne die Eintragung eines Kinderfreibetrages an und verneinte den Bezug von laufenden oder gelegentlichen Einkünften. Die beklagte Bundesanstalt für Arbeit (BA) bewilligte mit Bescheid vom 28. August 1992 Alhi ab 29. Juni 1992 nach einem wöchentlichen Bemessungsentgelt von 580,00 DM, der Leistungsgruppe A und dem allgemeinen Leistungssatz (56 vH) in Höhe von 220,80 DM wöchentlich. Nachdem in der geänderten Lohnsteuerkarte 1993 die Steuerklasse II und zwei Kinderfreibeträge vermerkt waren, bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 13. Mai 1993 für den Leistungszeitraum vom 1. Januar 1993 bis 28. Februar 1993 nach dem gleichen Bemessungsentgelt, der Leistungsgruppe B und dem erhöhten Leistungssatz Alhi in Höhe von wöchentlich 244,80 DM.

Auch in dem Formblattantrag vom 10. Februar 1993 für den Bewilligungsabschnitt ab 1. März 1993 verneinte der Kläger die Frage nach laufendem Einkommen und dem Bezug einer Erziehungsrente. Die BA bewilligte Alhi ab 1. März 1993 nach einem dynamisierten Bemessungsentgelt von wöchentlich 620,00 DM, der Leistungsgruppe B und dem erhöhten Leistungssatz in Höhe von 259,20 DM und für die Zeit vom 1. Januar bis 28. Februar 1994 in Höhe von 250,20 DM wöchentlich.

In dem Formblattantrag vom 8. Februar 1994 gab der Kläger an, "Erziehungsgeld" als laufende Rentenleistung zu beziehen. Dies beruhte darauf, daß die geschiedene Ehefrau des Klägers 1989 verstorben war und aus der Ehe die Kinder Manuel (geboren 4. August 1975) und Angelo (geboren 1. November 1977) hervorgegangen waren. Die Landesversicherungsanstalt (LVA) Unterfranken hatte die 1990 bewilligte Erziehungsrente zuletzt mit monatlich 711,76 DM festgestellt. Sie erhöhte die Leistung im April 1994 rückwirkend ab 1. Juni 1992 auf 1.067,59 DM, ab 1. Juli 1992 auf 1.096,49 DM und ab 1. Juli 1993 auf 1.138,84 DM monatlich. Aus der Rentennachzahlung von insgesamt 11.449,62 DM führte die LVA 8.708,28 DM an die BA ab.

Mit Bescheid vom 8. Juni 1994 idF des Widerspruchsbescheids vom 17. August 1994 hob die BA die Bewilligung von Alhi ab 29. Juni 1992 auf, weil das Einkommen des Klägers in voller Höhe auf die Alhi anzurechnen sei. Der anzurechnende Betrag der Erziehungsrente übersteige die ohne Anrechnung zustehende Alhi. Der Kläger sei deshalb nicht bedürftig gewesen und habe keinen Anspruch auf Alhi gehabt. Als Rechtsgrundlage gab die BA § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren (SGB X) und die §§ 134, 138 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) an. Weiter führte die BA aus, die Rückforderung für die Zeit vom 29. Juni 1992 bis 21. Mai 1994 von insgesamt 21.960,00 DM werde in Höhe von 8.708,28 DM durch einen Ersatzanspruch gegenüber der LVA Unterfranken befriedigt. Der Kläger habe den Restbetrag von 13.207,94 DM an die BA zurückzuzahlen.

Die dagegen gerichtete Klage ist ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts Würzburg ≪SG≫ vom 6. November 1995). Mit der Berufung hat der Kläger geltend gemacht, nach der Bewilligung von Alhi sei eine Änderung seiner Einkommensverhältnisse nicht eingetreten. Das Arbeitsamt sei bereits am 7. August 1991 vom Rentenbezug durch die LVA Unterfranken in Kenntnis gesetzt worden. Er sei davon ausgegangen, er könne neben der Erziehungsrente in gewissem Umfang Alhi beziehen, eine Abstimmung finde zwischen den Leistungsträgern statt und ihm würden nur die zustehenden Beträge ausgezahlt. Die Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X seien nicht gegeben. Außerdem sei zu prüfen, ob die Rücknahmefrist nach § 45 Abs 3 SGB X gewahrt sei.

Die BA hat vorgetragen, die Erziehungsrente sei schon 1990 auf die damalige Alhi des Klägers angerechnet worden. Da der Kläger vom 29. Juni 1992 bis 28. Februar 1994 Erziehungsrente laufend bezogen habe und diese bei der Bewilligung der Alhi nicht berücksichtigt worden sei, seien die im angefochtenen Bescheid angeführten Bewilligungsentscheidungen von Anfang an in Höhe von 711,76 DM monatlich rechtswidrig gewesen. Nach § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X hätten die Alhi-Bewilligungen nur wegen der im Bescheid der LVA Unterfranken vom 15. April 1994 aufgeführten Erhöhungsbeträge aufgehoben werden können. Der Kläger habe jedoch in seinen Alhi-Anträgen vom 28. Juli 1992 und 10. Februar 1993 trotz laufenden Rentenbezugs die in dem Antragsvordruck gestellten Fragen nach anderweitigen Leistungen bzw Einkünften verneint. Dies werfe die Frage auf, ob insoweit die Rücknahmevoraussetzungen nach § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 oder 3 SGB X erfüllt seien. Mit Bescheid vom 4. Dezember 1998 habe die BA bestimmt, daß der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 8. Juni 1994 idF des Widerspruchsbescheides vom 7. August 1994 mit der dort angegebenen Begründung aufrechterhalten bleibe. Im übrigen würden die Entscheidungen vom 26. August 1992, 22. Januar 1993 und 17. Februar 1993 über die Bewilligung von Alhi nach § 45 Abs 2 Satz 2 und 3 SGB X zurückgenommen. Den Bescheid vom 4. Dezember 1998 hat die BA im Hinblick auf Ausführungen des Landessozialgerichts (LSG) im Prozeßkostenhilfebeschluß vom 4. März 1999 in der Sitzung vom 29. April 1998 zurückgenommen.

Mit Urteil vom 29. April 1999 hat das LSG das Urteil des SG und den Bescheid vom 28. Juni 1994 idF des Widerspruchsbescheides vom 17. August 1994 aufgehoben, soweit in diesen Entscheidungen nicht nur die Nachzahlung von Erziehungsrente berücksichtigt worden sei. Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, die Bewilligung von Alhi ab 29. Juni 1992 sei zwar fehlerhaft gewesen, weil die Erziehungsrente in Höhe von 711,76 DM nicht auf den Anspruch angerechnet worden sei. Als Grundlage für die Aufhebung der fehlerhaften Bewilligung komme § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X in Betracht. Auf diese Vorschrift habe sich die BA aber im angefochtenen Bescheid nicht berufen. Eine Begründungsänderung mit dem hier notwendigen Inhalt sei nicht möglich, weil dies eine Wesensänderung des angefochtenen Verwaltungsaktes bedeute. Auch wenn die Rechtmäßigkeit von Verwaltungsakten grundsätzlich unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt zu überprüfen sei, sei ein Begründungswechsel von § 48 Abs 2 Nr 3 SGB X zu § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X ausgeschlossen, weil damit ein zusätzlicher Schuldvorwurf verbunden sei, der eine unzulässige Wesensänderung des angefochtenen Verwaltungsaktes zur Folge habe.

Mit der Revision rügt die BA die Verletzung des § 45 Abs 2 Satz 3 Nrn 2 und 3 SGB X iVm § 152 Abs 2 AFG idF vom 21. Dezember 1993 (BGBl I 2353). Sie hält das Auswechseln der Rechtsgrundlage für die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für zulässig. Das LSG habe die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur Zulässigkeit eines Austausches der Rechtsgrundlage zur Aufrechterhaltung eines mit unzutreffender Begründung ergangenen Aufhebungsbescheides nicht beachtet. Durch den Rückgriff auf § 45 Abs 2 Satz 3 Nrn 2 und 3 SGB X anstelle von § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X werde der Aufhebungsbescheid weder in seinem Wesen verändert noch der Kläger in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt. Der zu beurteilende Sachverhalt gebe Veranlassung auch auf § 48 Abs 1 Satz 2 Nrn 2 und 4 SGB X bedacht zu nehmen, die mit § 45 Abs 2 Satz 3 Nrn 2 und 3 SGB X vergleichbare Strukturen aufwiesen. Im Laufe des Berufungsverfahrens habe sich der Kläger mehrfach - wenn auch nicht überzeugend - zur Verschuldensfrage geäußert. Die Begründung der Aufhebungsentscheidung entfalte keine Tatbestandswirkung für ein Strafverfahren. Sollte ein Nachschieben von Gründen nicht zulässig sein, müßte der Aufhebungsbescheid im Wege der Umdeutung nach § 43 SGB X als rechtmäßig angesehen werden.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 29. April 1999 aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das Urteil des LSG für zutreffend und vertritt die Ansicht, § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X verliere seinen Sinn, wenn die Verwaltung befugt sei, eine fehlerhafte Begründung nach § 48 SGB X durch eine solche nach § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 oder 3 SGB X zu ersetzen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist iS der Aufhebung und Zurückverweisung begründet. Die Entscheidung des LSG verletzt § 152 Abs 2 AFG iVm § 45 Abs 1 und § 45 Abs 2 Satz 3 Nrn 2 und 3 SGB X. Für eine abschließende Entscheidung des BSG reichen die tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht aus.

1. Gegenstand des Verfahrens ist nur die Aufhebung des Bewilligungsbescheids vom 28. August 1992 ab 29. Juni 1992, soweit zum Zeitpunkt dieser Bewilligung und dem Erlaß der Folgebescheide für die anschließenden Bewilligungszeiträume die laufend bezogene Erziehungsrente in Höhe von 711,76 DM monatlich nicht berücksichtigt worden ist, und die entsprechende Rückforderung von Leistungen. Nur insoweit hat der Kläger das klageabweisende Urteil des SG mit der Berufung angefochten und nur insoweit ist der Rechtsstreit auf die Revision der BA im Revisionsrechtszug angefallen.

2. Rechtsgrundlage für die Aufhebung eines rechtswidrigen Bewilligungsbescheides ist § 152 Abs 2 AFG idF vom 21. Dezember 1993 (BGBl I 2353) iVm § 45 Abs 1 SGB X. Danach ist ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn die in § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X genannten Rücknahmevoraussetzungen vorliegen. Abweichend vom allgemeinen Sozialverwaltungsrecht des SGB X ergeht die Rücknahme von rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakten mithin seit 1. Januar 1994 im Anwendungsbereich des § 152 Abs 2 AFG (jetzt: § 330 Abs 2 Sozialgesetzbuch - Arbeitsförderung) - dh, wenn die Voraussetzungen des Vertrauensschutzes nach § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X wegen Bösgläubigkeit des Begünstigten nicht vorliegen - nicht als Ermessens-, sondern als gebundene Entscheidung, und zwar auch bei vor 1994 ausgesprochenen Bewilligungen (BSG Urteil vom 18. September 1994 - 11 RAr 9/97 - DBlR 4454a AFG § 152; Urteil vom 19. März 1998 - B 7 AL 44/97 R - DBlR 4457a AFG § 152). Die Bewilligung von Alhi ab 29. Juni 1992 war rechtswidrig. Die Leistung setzt Bedürftigkeit des Arbeitslosen voraus (§ 134 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG). Die BA hat Einkommen des Klägers im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung nicht berücksichtigt (§§ 137 Abs 1, 138 Abs 1 Nr 1 AFG). Als Einkommen im Sinne dieser Vorschrift bestimmt § 138 Abs 2 Satz 1 AFG alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert einschließlich der Leistungen, die von Dritten zu beanspruchen sind. Zu den Bezügen, die § 138 Abs 3 AFG nicht als Einkommen geltend läßt, gehört die Erziehungsrente nicht. Auch aufgrund des § 11 Alhi-Verordnung vom 7. August 1974 (BGBl I 1929) idF des Gesetzes vom 18. Dezember 1992 (BGBl I 2044) ergibt sich nichts anderes. Bestätigt wird diese Rechtsansicht durch folgenden Regelungszusammenhang: Der § 18a Abs 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch - Viertes Buch - bestimmt als Erwerbsersatzeinkommen, das nach § 97 Abs 1 Sozialgesetzbuch - Sechstes Buch - auf Hinterbliebenenrenten anzurechnen ist, auch das Alg, nicht aber die Alhi. Diese ist als wirtschaftliche Bedürftigkeit voraussetzende Sozialleistung gegenüber der Erziehungsrente nachrangig.

Zu den Einschränkungen der Rücknehmbarkeit nach § 45 Abs 2 bis 4 SGB X - Abs 2 Satz 3 insbesondere - kann der Senat nicht abschließend entscheiden, denn das LSG hat zu diesen Merkmalen - nach der von ihm vertretenen Rechtsansicht folgerichtig - keine tatsächlichen Feststellungen getroffen. Das LSG hält eine Rechtfertigung des Aufhebungsbescheides vom 8. Juni 1994 idF des Widerspruchsbescheides vom 17. August 1994 auf der Grundlage des § 45 SGB X nicht für zulässig, weil die BA die angefochtenen Bescheide allein auf § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X gestützt hat. Diese Rechtsansicht hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

3. Begründet ist eine Anfechtungsklage, wenn der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist (BSG SozR 3-1500 § 75 Nr 31; Hennig/ Pawlak, SGG, § 131 RdNr 10 - Stand: September 1996). Die mit dem Verwaltungsakt getroffene Regelung (§ 31 SGB X) unterliegt der gerichtlichen Kontrolle am Maßstab des objektiven Rechts. Aus diesem Grunde ist die regelmäßig im Entscheidungssatz zum Ausdruck gekommene Regelung gerichtlich unter jedem in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkt zu überprüfen (BSGE 85, 83, 85 = SozR 3-4100 § 186 b Nr 1; BSG SozR 4100 § 119 Nr 12). Davon ist auch das LSG mit Hinweis auf die ständige Rechtsprechung ausgegangen. Bloße Begründungsmängel oder Begründungsfehler wirken sich bei gebundenen Verwaltungsakten auf die Rechtmäßigkeit der Regelung selbst nicht aus und rechtfertigen grundsätzlich nicht die Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsakts (BVerwGE 80, 96 f; Badura in Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Aufl 1998, § 38 RdNrn 40, 41; genauer differenzierend: Schoch DÖV 1984, 401, 403; aA Schenke NVwZ 1988, 1 ff).

Die Bezugnahme des angefochtenen Bescheides auf § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X anstelle des hier allein in Betracht kommenden § 45 Abs 1 iVm Abs 2 Nr 2 oder 3 SGB X betrifft nur die Begründung, nicht aber den Entscheidungssatz des Aufhebungsbescheides vom 8. Juni 1994 idF des Widerspruchsbescheids vom 17. August 1994. Zwar ist Rechtsfolge des § 45 Abs 1 SGB X die "Rücknahme", während § 48 SGB X die "Aufhebung" eines Verwaltungsakts regelt. Diese Begriffe bezeichnen aber im vorliegenden Zusammenhang nicht Unterschiede in der Sache. Vielmehr handelt es sich bei der "Aufhebung" um einen Oberbegriff, der auch die "Rücknahme" als die Aufhebung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes umfaßt (Schnapp, in Krause/von Mutius/Schnapp/Siewert, Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren, 1991, § 48 RdNr 14). Entscheidend für die hier getroffene Regelung ist, daß die für den Zeitraum ab 29. Juni 1992 maßgebenden Bewilligungsbescheide nicht mehr Rechtsgrund für den Bezug und das Behaltendürfen der bewilligten Alhi bleiben (vgl BSGE 72, 111, 117 = SozR 3-4100 § 117 Nr 9 mwN). Lassen sich weder die Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X noch sonstige Einschränkungen nach § 45 Abs 2 bis 4 SGB X feststellen, so ist die mit § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X wegen der anfänglichen Rechtswidrigkeit der Bewilligung von Alhi nicht zutreffend begründete Aufhebung unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt - nämlich § 152 Abs 2 AFG, § 45 Abs 1 SGB X - gerechtfertigt. Handelt es sich mithin bei der Rücknahme nicht um eine andere Regelung als die im angefochtenen Bescheid ausgesprochene Aufhebung der Bewilligung von Alhi, ist ihre Rechtmäßigkeit nicht vom Vorliegen der Voraussetzungen einer Umdeutung (§ 43 SGB X) abhängig. Die Umdeutung eines Verwaltungsakts liegt nämlich nur vor, wenn die Regelung selbst (der Entscheidungssatz) betroffen ist (BVerwGE 80, 96, 97 mwN; Krause, in Krause/ von Mutius/Schnapp/Siewert, Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren, 1991, § 43 RdNr 11, der allerdings aaO RdNr 8 darauf hinweist, die Rechtsprechung grenze die Umdeutung vielfach nicht zutreffend ab). Da die nachträgliche Angabe der Rechtsgrundlage die im Entscheidungssatz getroffene Regelung unberührt läßt, ist der angefochtene Bescheid auch geeignet, die Ausschlußfristen des § 45 Abs 3 und 4 SGB X zu wahren. Folgerichtig hat die BA den Bescheid vom 4. Dezember 1998, mit dem sie an der im angefochtenen Bescheid getroffenen Regelung festgehalten und deren Begründung mit Hinweis auf § 45 SGB X ergänzt hat, zurückgenommen.

4. Verfahrensrechtliche Einwände schließen die Berücksichtigung der materiellen Rechtslage nicht aus.

4.1 Einer Änderung der Begründung durch Wechsel der Rechtsgrundlage (§ 45 Abs 1 SGB X anstelle von § 48 Abs 1 SGB X) steht § 41 Abs 2 SGB X nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift kann die erforderliche Begründung eines Verwaltungsakts (§ 41 Abs 1 Nr 2 SGB X) nur bis zur Erhebung der Klage nachgeholt werden. Das betrifft jedoch nur das formelle Begründungserfordernis für Verwaltungsakte, welches die BA mit dem Hinweis auf die Anrechenbarkeit der Erziehungsrente auf die Alhi erfüllt hat. Materiell-rechtlich ist die Begründung jedoch fehlerhaft, weil die Gründe die maßgeblichen Rechtsgrundlagen für die Aufhebung auch in der Fassung des Widerspruchsbescheides nur unvollständig anführen. Dieser inhaltliche (materielle) Begründungsmangel ist jedoch bei gebundenen Verwaltungsakten grundsätzlich entscheidungsunerheblich, weil das Gericht die getroffene Regel unter jedem rechtlich denkbaren Gesichtspunkt zu überprüfen hat (BSGE 85, 83, 85 = SozR 3-4100 § 186 b Nr 1; BSG SozR 4100 § 119 Nr 12; BVerwGE 64, 356, 358; Schoch DÖV 1984, 401, 403 f).

4.2 Grenzen dieses sog Nachschiebens von Gründen eines Verwaltungsakts, die bereits bei seinem Erlaß vorgelegen haben, nimmt die Rechtsprechung aber insofern an, als dadurch der Verwaltungsakt nicht in seinem Wesen verändert und der Betroffene nicht in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt werden darf (BSGE 45, 206, 208 = SozR 2200 § 1227 Nr 10; BSG SozR 4100 § 119 Nr 12; Urteil des Senats vom 18. September 1997 - 11 RAr 9/97 - DBlR 4454a AFG § 152; BVerwGE 38, 191, 195; 64, 356, 358).

Diese Grenzen sind gewahrt, soweit die Aufhebung der Bewilligung von Alhi in Höhe der zum Zeitpunkt der Bewilligung dieser Leistung bereits bezogenen Erziehungsrente von 711,76 DM auf § 45 SGB X als einschlägige Rechtsgrundlage gestützt wird. Inwiefern durch die ergänzende Begründung eines Verwaltungsakts dessen "Wesen" verändert werden könnte, läßt sich allgemein nicht abgrenzen. Das beruht auf der Unklarheit darüber, was - abgesehen von der hier nicht betroffenen Regelung iS des § 31 SGB X - das Wesen eines Verwaltungsakts ausmachen könnte (allgemein kritisch zur Wesensargumentation als einer wegen ihrer Unklarheit nicht rechtsstaatlichen Methode: Scheuerle AcP 163 ≪1964≫, 429 ff). Denkbar ist eine Wesensänderung, wenn die Regelung auf einen anderen Lebenssachverhalt gestützt wird. Dies trifft hier nicht zu. Die BA hat die rückwirkende Aufhebung der Bewilligung von Alhi auf die Tatsache gestützt, daß dem Kläger im Leistungszeitraum mit der Erziehungsrente anrechenbares Einkommen zustand. Als Rechtsgrundlage war § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X nur einschlägig, soweit durch die rückwirkende Erhöhung der Erziehungsrente eine Änderung in den Verhältnissen eingetreten ist. Hinsichtlich des vom Kläger in seinem Alhi-Antrag verschwiegenen Bezugs der Erziehungsrente in Höhe von 711,76 DM monatlich ist es dagegen zu einer nur nach § 45 SGB X korrigierbaren Fehlbewilligung gekommen. In beiden Fällen ist die Anrechenbarkeit der Erziehungsrente auf die Alhi der nach unterschiedlichen rechtlichen Voraussetzungen zu berücksichtigende Grund für die Aufhebung der Alhi-Bewilligung. Das Argument des LSG, der Aufhebungsbescheid werde durch den Begründungswechsel wegen des Schuldvorwurfs nach § 45 Abs 1 Satz 3 Nrn 2 und 3 SGB X in seinem Wesen verändert, kann nicht überzeugen. Die in der Rechtsprechung entwickelten Grenzen des Nachschiebens von Gründen sollen Betroffene im gerichtlichen Verfahren davor schützen, sich wesentlich anderem rechtlichen und tatsächlichen Vorbringen der Behörde gegenüberzusehen als demjenigen, welches dem angefochtenen Verwaltungsakt zu entnehmen ist. Rechtfertigt dieses die getroffene Regelung nicht, so bewirken die Grenzen des Nachschiebens von Gründen, daß es jedenfalls bis zu einer erneuten Aufhebung bei der Fehlbewilligung verbleibt. Ein solcher Bestandsschutz ist aber nicht gerechtfertigt, wenn der Betroffene durch schuldhaftes Fehlverhalten (falsche oder unvollständige Angaben, mangelnde Mitwirkung) die rechtswidrige Bewilligung von Leistungen bewirkt hat. Die §§ 45, 48 SGB X sind darauf gerichtet, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zu gewährleisten. Abgesehen von materiellen Ausschlußfristen wird dieser Grundsatz nur durch schutzwürdiges Vertrauen des Betroffenen auf den Bestand einer rechtswidrigen Regelung eingeschränkt. Mit dieser Systematik wäre es nicht vereinbar, wenn ein auf § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X gestützter Aufhebungsbescheid trotz Vorliegens der Rücknahmevoraussetzungen des § 45 SGB X mit der Begründung kassiert würde, der berechtigte Schuldvorwurf gegenüber dem Betroffenen verändere das Wesen des Aufhebungsbescheides. Das LSG begründet den Bestandsschutz rechtswidrig bewilligter Alhi mit Umständen, die nach § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X Vertrauensschutz gerade ausschließen.

4.3 Auch die Rechtsverteidigung des Klägers wird durch die Begründungsänderung nicht erschwert. Zwar hat er sich mit anderen, nach § 45 SGB X erheblichen Tatsachen auseinanderzusetzen. Die Wahrnehmung seiner Rechte ist dadurch nicht beeinträchtigt, weil andernfalls ein Nachschieben von Gründen im gerichtlichen Verfahren praktisch ausgeschlossen wäre (BSGE 17, 79, 84 = SozR Nr 5 zu § 368 n RVO). Der Kläger sieht sich nämlich nicht unbekannten oder schwer zugänglichen Tatsachen gegenüber. Vielmehr handelt es sich um Umstände, die ihm bekannt oder durch Urkunden (Bewilligungsbescheid über Erziehungsrente, Anträge des Klägers auf Alhi) belegbar sind.

5. Mit seiner Entscheidung weicht der Senat nicht von dem Urteil des BSG vom 22. Juni 1988 (BSG SozR 1300 § 43 Nr 1) ab. Im Gegensatz zu der dort beurteilten Rechtslage handelt es sich bei der Rücknahme der Bewilligung von Leistungen wegen Arbeitslosigkeit seit dem 1. Januar 1994 nach § 152 Abs 2 AFG iVm § 45 SGB X nicht um eine Ermessensentscheidung. Auch unter diesem Gesichtspunkt hat das BSG aaO den Begründungswechsel von § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X auf § 45 SGB X, den es als Umdeutung eines Verwaltungsakts gewürdigt hat, nach § 43 Abs 3 SGB X für unzulässig gehalten. Da sich das BSG aaO ausdrücklich auf § 43 Abs 3 SGB X bezogen hat, ist seine rechtliche Würdigung des Begründungswechsels von § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X zu § 45 SGB X und die Bedeutung, die es der Verschuldensprüfung nach § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X beigemessen hat, für seine Entscheidung nicht tragend.

6. Das Urteil des LSG ist danach mit den ihm zugrundeliegenden Tatsachenfeststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Das LSG wird zu prüfen haben, bis zu welchem Zeitpunkt die Voraussetzungen einer Rücknahme der Bewilligung von Alhi ab 29. Juni 1992 (bis 28. Februar 1994 oder 21. Mai 1994) nach § 45 SGB X vorgelegen haben. Bei der Prüfung der Rückforderung der Höhe nach wird es zu berücksichtigen haben, ob sich der Umstand auswirkt, daß dem Kläger auch für die Zeit vom 29. Juni bis zum 31. Dezember 1992 wegen seiner Kinder abweichend von dem Bewilligungsbescheid vom 28. August 1992 der erhöhte Leistungssatz zugestanden hätte. Bei der Kostenentscheidung, die sich auch auf die Kosten des Revisionsverfahrens erstreckt, wird das LSG zu erwägen haben, daß eine fehlerhafte Begründung des Aufhebungsbescheides zur Klage Anlaß gegeben haben kann (dazu Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl 1998, § 193 RdNr 12 b).

 

Fundstellen

BSGE 87, 8

BSGE, 8

SozR 3-4100 § 152, Nr. 9

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