Leitsatz (amtlich)

Der Anspruch auf Kinderzuschuß für einen Enkel ist nicht ausgeschlossen, wenn beim Eintritt des Versicherungsfalles zwar die Fürsorgeerziehung des Kindes in einem Heim durchgeführt wurde, der Versicherte das Kind aber vorher in seinen Haushalt aufgenommen hatte, während der Heimerziehung die Absicht zur Fortsetzung der häuslichen Familiengemeinschaft mit dem Kinde erkenne ließ und es nachher wieder bei sich aufgenommen hat.

 

Normenkette

RVO § 1262 Abs. 2 Nr. 7 Fassung: 1964-04-14

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. Februar 1968 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Es geht in dieser Streitsache darum, ob dem Kläger zu seiner Versichertenrente der Kinderzuschuß für seinen Enkel Franz zusteht. Der Kläger hatte den Enkel 1957 nach dem Tode der Mutter des Kindes zu sich genommen. Als der Kläger im Jahre 1964 erwerbsunfähig wurde, befand sich das Kind seit einiger Zeit in Fürsorgeerziehung und dementsprechend in einem Heim. Im September 1965 wurde es aus dem Heim in die Familie des Klägers entlassen.

Der Kläger verlangt für die Zeit von dieser Entlassung an bis zu dem Monat, in dem der Enkel das 18. Lebensjahr vollendete, den Kinderzuschuß. Die Beklagte hat diese Leistung abgelehnt (Bescheid vom 6. Oktober 1965), weil das Kind sich beim Eintritt des Versicherungsfalles nicht im Haushalt des Klägers befunden habe. Die Leistungsvoraussetzung des hier anzuwendenden § 1262 Abs. 2 Nr. 7 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der durch das Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) geschaffenen Fassung in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Satz 3 des Kindergeldgesetzes (KGG) in der Fassung vom 27. Juli 1957 (vgl. auch § 1262 Abs. 2 Nr. 8 RVO), nämlich daß das Kindschaftsverhältnis vor Eintritt des Versicherungsfalles begründet gewesen sein müsse, sei sonach nicht erfüllt. Nach der Entlassung aus der Fürsorgeerziehung habe erneut eine Aufnahme in den Haushalt des Klägers stattgefunden; diese sei aber für die Gewährung des Kinderzuschusses unbeachtlich.

Der Klage haben Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) stattgegeben. Ihres Erachtens wurde die Haushaltsgemeinschaft des Kindes mit dem Kläger auch während der Fürsorgeerziehung fortgesetzt. Das Kind habe weiterhin beim Großvater sein Zuhause gehabt. - Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat die Revision eingelegt. Sie beantragt, die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie meint, die Vorinstanzen hätten nicht hinreichend beachtet, daß mit der Fürsorgeerziehung die Obhut für das Kind auf die Erziehungsbehörde übergegangen und damit dem Großvater genommen worden sei. Während dieser Zeit habe es an einem für die "Haushaltsaufnahme" wesentlichen Merkmal gefehlt.

Der Kläger ist in diesem Rechtszuge nicht vertreten.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision ist unbegründet.

Unter den gegebenen Umständen steht dem Kläger der Kinderzuschuß für seinen Enkel zu, obgleich beim Eintritt des Versicherungsfalles die Fürsorgeerziehung des Kindes angeordnet und in einer Anstalt durchgeführt wurde. Für dieses Ergebnis ist ausschlaggebend, daß der Kläger seinen Enkel sowohl vor der öffentlichen Erziehungsmaßnahme in seinen Haushalt aufgenommen hatte als auch nachher wieder bei sich aufnahm und beide während der Heimerziehung stets deutlich erkennbar den Willen hatten, die unterbrochene häusliche Familiengemeinschaft sobald wie möglich wieder fortzusetzen. Die davon abweichende Beurteilung der Beklagten, die von einer zweiten Haushaltsaufnahme des Klägers nach dem Heimaufenthalt ausgeht, wird dem wirklichen, durch einheitliches Wollen geprägten, zusammenhängenden Geschehensablauf nicht gerecht.

Ob die Haushaltsgemeinschaft eines Kindes mit einem Rentenberechtigten und die Fürsorgeerziehung in einem Heim zeitlich zusammenfallen können, braucht hier nicht abschließend beurteilt zu werden. Dagegen könnte sprechen, daß die räumliche Gemeinsamkeit und unmittelbare menschliche Nähe zwischen Kind und Rentenberechtigten in der Zeit der öffentlichen Erziehung entfällt (so BSG 20, 91, 94). Die Fürsorgeerziehung wird gerade in einem Heim durchgeführt, weil das Kind aus seiner bisherigen Umgebung entfernt werden muß, um seine Verwahrlosung zu verhüten oder zu beheben (§§ 64, 69 Abs. 3 Satz 1 des Gesetzes für Jugendwohlfahrt - JWG - vom 11. August 1961; Potrykus, Jugendwohlfahrtsgesetz 1953, Anm. 5 zu § 63 JWG aF). Die Anstaltserziehung tritt dann an die Stelle der elterlichen Erziehung. Die Erscheinungsformen, die für eine Haushaltsaufnahme im Sinne der hier anzuwendenden Gesetzesvorschriften kennzeichnend sind, nämlich Versorgung, Erziehung, Beaufsichtigung des Kindes durch den Rentenberechtigten, liegen mithin in Händen der Heimleitung. Wenn deshalb anzunehmen sein sollte, daß das Kind in einer solchen Zeit nicht in den Haushalt des Rentenberechtigten aufgenommen war, so entfällt damit nicht der geltend gemachte Anspruch. Er bezieht sich nur auf die Zeit nach der Heimentlassung.

Der Kläger verlangt den Kinderzuschuß nur für die Zeit, in welcher er das Kind abermals versorgte und diejenigen Aufgaben und Befugnisse, die normalerweise dem Vater zufallen, wieder voll wahrnahm. Die Umstände, unter denen dies im Streitfalle geschah, sind rechtlich als das Wiederaufleben eines früheren Zustandes zu qualifizieren. Das LSG hat Tatsachen festgestellt, die es als hinreichend gesichert erscheinen lassen, daß die ideellen und familienhaften Bindungen zwischen Kind und Großvater zu keiner Zeit erloschen waren. Der Großvater ließ den Enkel nicht fallen, pflegte ständig den Kontakt mit ihm, wendete ihm Geschenke, Lebensmittel und Kleidung zu und setzte sich mit Nachdruck für die Rückkehr des Kindes in die großväterliche Wohnung ein. In beidem blieb - über die natürliche Beziehung zwischen Großvater und Enkel hinaus - während der gesamten Dauer der Heimerziehung das Bewußtsein lebendig, das Kind habe beim Großvater sein Zuhause.

Das genügt für die nach § 1262 Abs. 2 Nr. 7 RVO in der hier maßgeblichen Fassung des ArVNG zu fordernden Annahme, daß das Kindschaftsverhältnis "vor Eintritt des Versicherungsfalles begründet worden ist". Der Wortlaut des Gesetzes steht zu der hier vertretenen Auffassung nicht im Wiederspruch. "Begründet" war die Haushaltsaufnahme auch in der Zeit der Heimerziehung des Kindes; denn seine spätere Rückkehr zum Kläger hatte ihren Grund darin, daß der Großvater ursprünglich - mit dem Willen für dauernd - in die Lücke eingetreten war, die für das Kind durch den Tod der Mutter aufgerissen worden war. Der anfänglich voll erfüllte Tatbestand lebte nach der Entlassung des Kindes aus dem Erziehungsheim wie von selbst wieder auf. Diese Auffassung, die auf die Kontinuität des Gesamtgeschehens abstellt, ist namentlich mit dem Sinn des Gesetzes vereinbar. Zum Verständnis der Forderung, daß die Aufnahme des Kindes in den Haushalt des Rentenberechtigten "vor Eintritt des Versicherungsfalles begründet" gewesen sein muß, tragen die Materialien des Kindergeldergänzungsgesetzes vom 23. Dezember 1955 bei. Mit diesem Gesetz wurde der Kinderbegriff durch die Einbeziehung der Pflegekinder erweitert. B i dieser Anordnung befürchtete der Gesetzgeber, daß die von ihm geschaffene Rechtswohltat mißbräuchlich ausgenutzt werden könnte. Um einer solchen Gefahr zu begegnen, nahm er den hier behandelten Zusatz in das Gesetz auf, nämlich daß der anspruchsbegründende Tatbestand vor Eintritt des Versicherungsfalles verwirklicht sein müsse (Begründung zu § 13 Nr. 1 des Entwurfs eines Kindergeldergänzungsgesetzes, Bundestagsdrucksache II 1539 S. 16). Die Möglichkeit, daß jemand nur um des eigenen wirtschaftlichen Vorteils willen in die Beziehung zu einem Pflegekind oder Enkel tritt, erschien dem Gesetzgeber dann hinreichend ausgeschlossen, wenn das besondere Band zu dem Kinde - unabhängig von dem Leistungsversprechen der Reichsversicherungsordnung - bereits vor dem Versicherungsfall geknüpft wurde.

So liegt der Fall hier. Daß die häusliche Familiengemeinschaft zwischen dem Kläger und seinem Enkel nur zeitweilig und nicht aus freien Stücken unterbrochen worden war, vielmehr nach dem Willen beider so bald wie möglich wieder hergestellt werden sollte, war zu keiner Zeit zweifelhaft. Damit ist den gesetzlichen Erfordernissen Genüge getan. Der Gedanke, daß der Kläger einen nicht gerechtfertigten Nutzen ziehen könnte, taucht nicht auf.

Hiernach ist das Berufungsurteil zu bestätigen. Die Revision ist mit der auf § 193 SGG beruhenden Kostenentscheidung zurückzuweisen.

 

Fundstellen

BSGE, 294

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