Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 18.12.1990; Aktenzeichen L 3 U 303/88)

SG Aurich (Urteil vom 25.04.1989)

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 18. Dezember 1990 aufgehoben. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 25. April 1989 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Der Kläger handelte mit Rauschgift. Unter anderem belieferte er den drogenabhängigen K. Als sich der Kläger Anfang November 1986 geweigert hatte, K. Rauschgift zu verkaufen, zeigte ihn dieser anonym bei der Polizei wegen Rauschgiftbesitzes an. Nach seiner vorläufigen Festnahme legte der Kläger am 8. November 1986 ein Geständnis ab und benannte seine Abnehmer, darunter auch K. Am 4. Dezember 1986 verübte K. einen Anschlag auf den Kläger, indem er diesem Schwefelsäure ins Gesicht schüttete. Der Kläger erlitt schwere Augenverletzungen und ist seither praktisch erblindet. K. wurde wegen dieser Tat zu sieben Jahren Jugendstrafe verurteilt.

Mit Bescheid vom 13. Mai 1988 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers auf Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) wegen Unbilligkeit iS von § 2 Abs 1 OEG ab. Der Kläger habe sich als Rauschgifthändler rechtsfeindlich verhalten und damit die Schutz- und Risikogemeinschaft rechtstreuer Bürger verlassen. Die Klage zum Sozialgericht (SG) Aurich blieb erfolglos (Urteil vom 25. April 1989), die Berufung des Klägers zum Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hatte hingegen Erfolg (Urteil vom 18. Dezember 1990). Die Gewährung von Entschädigung sei nicht unbillig. Der Kläger sei nicht wegen seiner Beteiligung an der Drogenszene Tatopfer geworden, sondern wegen der irrationalen Aggressivität eines früheren Kunden. Zum Zeitpunkt der Tat habe er mit Überreaktionen von Bekannten aus seinem früheren Milieu nicht mehr zu rechnen brauchen. Er habe außerdem die innere Kraft aufgebracht, sich durch sein Geständnis bei der Polizei aus der Drogenszene zu verabschieden. Dieses billigenswerte Verhalten dürfe ihm nicht anspruchsvernichtend entgegengehalten werden.

Gegen dieses Urteil hat der Beklagte die durch das Bundessozialgericht (BSG) wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassene Revision eingelegt.

Er beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 25. April 1989 zurückzuweisen.

Der Kläger und die Beigeladene beantragen,

die Revision des Beklagten zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des beklagten Landes ist begründet. Das angefochtene Urteil des LSG ist aufzuheben. Das SG hat zu Recht entschieden, daß der Kläger keinen Anspruch auf Leistungen nach dem OEG hat.

Aus den Feststellungen des LSG ergibt sich allerdings, daß der Kläger seine schweren Verletzungen durch einen vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG erlitten hat. Das LSG hat aber auch festgestellt, daß der Täter (K) ein Kunde des Klägers aus seinem illegalen Rauschgifthandel war und aus Gründen tätlich geworden ist, die in Auseinandersetzungen über diesen Rauschgifthandel liegen. Daraus ist zu schließen, daß es unbillig iS des § 2 Abs 1 OEG wäre, dem Kläger Entschädigung zu gewähren. Nicht zu folgen ist dem LSG darin, es lägen besondere Umstände vor, die das Gericht ermächtigten, diesen Schluß ausnahmsweise nicht zu ziehen.

Nach § 2 Abs 1 2. Alternative OEG sind Leistungen zu versagen, wenn es aus in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Die Gründe, die die Unbilligkeit begründen, müssen von einem solchen Gewicht sein, daß sie dem in der 1. Alternative des § 2 Abs 1 OEG genannten Fall der Mitverursachung an Bedeutung annähernd gleichkommen (BSGE 58, 214, 216). Unbillig sind Leistungen dann, wenn sie mit der grundlegenden Wertung des Gesetzes im Widerspruch stehen. Rechtsgrund für die Gewährung von Opferentschädigung ist das Einstehen der staatlichen Gemeinschaft für die Folgen bestimmter Gesundheitsstörungen nach versorgungsrechtlichen Grundsätzen. Aufgabe des Staates ist es ua, den Bürger vor Gewalttaten zu schützen. Kann er dieser Aufgabe nicht gerecht werden, so besteht ein Bedürfnis für eine allgemeine Entschädigung (vgl Amtl. Begründung des RegEntw zum OEG BT-Drucks 7/2506 S 7). Stellt sich jemand jedoch bewußt außerhalb der staatlichen Gemeinschaft, so kann er nicht – wenn sich die damit verbundene Gefahr verwirklicht – staatliche Leistungen verlangen. Dabei ist nicht danach zu unterscheiden, ob dieses gefahrbringende Verhalten des Geschädigten in mittelbarem oder in unmittelbarem Zusammenhang mit dem schädigenden Ereignis steht (vgl BT-Drucks aaO). Eine solche zu mißbilligende Selbstgefährdung kann auch schon in der Zugehörigkeit zum „Milieu” oder zur „Szene” bestehen, in der Straftaten an der Tagesordnung sind (vgl BSGE 49, 104, 110 und BSGE 52, 281, 287, jeweils mit Nachweisen). Zutreffend hat das LSG festgestellt, daß das erst recht dann gilt, wenn die Gewalttat, wie hier, nicht nur in dem Umfeld von Straftaten ihren Ursprung genommen hat, sondern mit Straftaten selbst zusammenhängt. K. war Drogenkonsument, der Kläger Drogenhändler. Die Gewalttat war die letzte Stufe in einem Schlagabtausch, der mit gegenseitigen Denunziationen wegen Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG) begann.

Die Voraussetzungen des Leistungsverbots des § 2 Abs 1 2. Alternative OEG sind damit erfüllt. Das sieht auch das LSG im Ansatz nicht anders. Die besonderen Umstände, die das LSG veranlaßt haben, die Leistungsgewährung trotz dieser Erkenntnis nicht als unbillig zu beurteilen, sind zur Begründung nicht heranzuziehen. Dem LSG ist allerdings zuzugeben, daß die Entscheidung über die Unbilligkeit im Einzelfall oft von Wertungen und Abwägungen abhängt, die nicht im vollen Umfang rational zu erfassen sind. Ob es in solchen Fällen gerechtfertigt ist, dem Berufungsgericht einen gewissen Beurteilungsspielraum zu überlassen (Eyermann-Fröhler, VwGO, 9. Aufl, § 137 RdNr 9; Redeker-von Oertzen, VwGO, 10. Aufl, § 137 RdNr 13; Stein/Jonas, ZPO, 20. Aufl, § 549 RdNrn 26, 27), kann offenbleiben. Denn um einen solchen Fall handelt es sich hier nicht. Die Entscheidung des Senats zur Unbilligkeit beruht nicht auf einer anderen Wertung oder einer anderen Abwägung der durch das LSG festgestellten Tatsachen, sondern auf einem anderen Verständnis des Begriffs der Unbilligkeit iS des § 2 Abs 1 2. Alternative OEG. Der Senat hält die Gesichtspunkte, die das LSG zur Verneinung der Unbilligkeit geführt haben, nicht etwa für weniger gewichtig, sondern für ungeeignet, diese Wertung zu bestimmen.

Es kann unentschieden bleiben, ob bei einer Gewalttat zwischen Teilnehmern von Straftaten wegen Streitigkeiten aufgrund dieser Straftaten überhaupt Gründe denkbar sind, die den Staat veranlassen könnten, trotz alledem Entschädigung zu gewähren. Die vom LSG angeführten Gründe sind jedenfalls nicht geeignet, die Unbilligkeit einer Leistungsgewährung zu widerlegen. Das gilt vor allem für die vom LSG herangezogenen weitergehenden Motive des Täters, die ihn zu dem besonders gewalttätigen Angriff hingerissen haben sollen. Es kann offenbleiben, ob hinreichende Anhaltspunkte für eine „Übermaßtat” vorliegen. Denn die Auffassung des LSG, der Kläger habe mit einem Übermaß an Gewalt nicht rechnen können, ist unerheblich. Es ist nicht einzusehen, warum der Staat die Leistung nur bei „angemessenen” Gewalttaten sollte verweigern können. Eine Erforschung der Motive des Täters kann nur dann geboten sein, wenn ein Anhalt dafür vorhanden ist, daß die kriminellen Geschäfte und milieubedingten Auseinandersetzungen ohne Einfluß auf die Gewalttat waren.

Auch die Distanzierung des Opfers von der kriminellen Szene ist kein Grund, Entschädigung für Taten zu leisten, die unter ehemaligen Beteiligten von Straftaten wegen dieser Straftaten geschehen. Das gilt auch dann, wenn sich das Opfer nicht wegen einer Strafverfolgung, sondern aus innerer Kraft von der Szene befreit. Es ist allerdings einzuräumen, daß ein Interesse der Strafverfolgungsbehörde bestehen könnte, denjenigen Entschädigungsleistungen zuzusagen, die sich zur Mitarbeit bei der Bekämpfung der Kriminalität bereitfinden und damit erhöhte Risiken eingehen. Diesem Interesse kann aber nicht dadurch entsprochen werden, daß diesen Personen der Schutz des OEG auch dann gewährt wird, wenn die Gewalttat aus dem Milieu stammt, das sie verlassen haben. Mit einer solchen Einengung des Leistungsverbots des § 2 Abs 1 OEG würde das Gewaltopferentschädigungsrecht ausgedehnt bis hin zu einer Art Unfallversicherung für ehemalige Teilnehmer der organisierten Kriminalität.

Aus § 31 BtMG läßt sich keine andere Wertung des Gesetzes entnehmen. Nach dieser Vorschrift kann das Gericht (Strafgericht) die Strafe nach seinem Ermessen mildern oder von einer Bestrafung absehen, wenn der Täter 1. durch freiwillige Offenbarung seines Wissens wesentlich dazu beigetragen hat, daß die Tat über seinen eigenen Tatbeitrag hinaus aufgedeckt werden konnte oder 2. freiwillig sein Wissen so rechtzeitig einer Dienststelle offenbart, daß Straftaten nach §§ 29 Abs 3, 29a Abs 1, 30 Abs 1, 30a Abs 1 BtMG, von deren Planung er weiß, noch verhindert werden können. Diese Bestimmung dient – wie die meisten strafrechtlichen Bestimmungen – der allgemeinen Verbrechensbekämpfung (Generalprävention), aber auch der – letztlich spezialpräventiven – Motivierung des Täters zum Ausscheiden aus dem Milieu. Zu diesem Zweck verzichtet der Staat ganz oder teilweise auf seinen Strafverfolgungsanspruch gegen den Täter hinsichtlich der von diesem begangenen zurückliegenden Straftaten. Aus dem spezialpräventiven Teilzweck läßt sich jedoch nicht herleiten, daß ein Milieuangehöriger, der das Milieu aus letztlich nicht aufklärbaren Beweggründen verläßt, für milieubedingte Gefährdungen, die auch nach Verlassen des Milieus noch anhalten, den Schutz des OEG mit den umfassenden Leistungen des Versorgungsrechts genießt. Die Schwierigkeiten, einseitig einen kriminellen Umkreis zu verlassen, sind nicht der Rechtsgemeinschaft, sondern dem Gewaltopfer als früherem Straftäter zuzurechnen. Wesentliche Mitursache seiner Schädigung bleibt die ehemalige Zugehörigkeit zum rechtsfeindlichen Milieu. Insoweit muß sich ein damaliger Angehöriger eines derartigen Umfeldes bei milieubedingten Schäden, die er nach und selbst infolge der Trennung von seiner rechtsfeindlichen Vergangenheit erleidet, auf die zivilrechtlichen Ansprüche und die im Bundessozialhilfegesetz vorgesehenen Leistungen verweisen lassen.

Die Entscheidung beruht im Kostenausspruch auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1174716

BSGE, 136

NJW 1993, 2957

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