Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Hilfebedürftigkeit. Berücksichtigung des Einkommens des Stiefelternteils zugunsten der nicht leiblichen minderjährigen Kinder in der Bedarfsgemeinschaft. Verfassungsmäßigkeit. Nichtvorliegen einer besonderen finanziellen Härte

 

Orientierungssatz

1. Die Vorschrift des § 9 Abs 2 S 2 SGB 2 idF vom 20.7.2006 über die Berücksichtigung des Einkommens eines Stiefelternteils auch zugunsten der nicht leiblichen Kinder in der Bedarfsgemeinschaft verletzt nicht Verfassungsrecht.

2. Zum Nichtvorliegen ausreichender Anhaltspunkte für die Annahme einer besonderen finanziellen Härte, die gegeben sein kann, wenn besondere wirtschaftlich erdrückende finanzielle Beeinträchtigungen bestehen, die im Einzelfall die im SGB 2 vorausgesetzte Unterstützung in Frage stellen und die - auch wegen der möglichen Gefährdung des Existenzminimums des nicht leiblichen Kindes - nicht mehr hinnehmbar erscheinen (vgl BSG vom 13.11.2008 - B 14 AS 2/08 R = BSGE 102, 76 = SozR 4-4200 § 9 Nr 7 und vom 14.3.2012 - B 14 AS 17/11 R = BSGE 110, 204 = SozR 4-4200 § 9 Nr 10).

 

Normenkette

SGB 2 § 9 Abs. 2 S. 2 Fassung: 2006-07-20, § 7 Abs. 3 Nrn. 2, 3 Buchst. a, Nr. 4 Fassung: 2006-03-24, § 9 Abs. 5; EStG § 32 Abs. 6; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1, 3

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Beschluss vom 16.02.2011; Aktenzeichen L 20 AS 21/09)

SG Gelsenkirchen (Urteil vom 19.03.2009; Aktenzeichen S 22 AS 281/07)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen den Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Februar 2011 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander auch für das Revisionsverfahren außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Nach einem Teilvergleich vor dem LSG ist noch streitig, ob die Klägerin für den Monat Juli 2007 Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II hat.

Die 1994 geborene Klägerin lebte im streitigen Zeitraum mit ihrer Mutter sowie deren Ehemann, Herrn K, in einem gemeinsamen Haushalt. Die Eheleute haben keine gemeinsamen Kinder. Der Ehemann überwies seinem nicht im gemeinsamen Haushalt wohnenden Sohn T - ohne Vorhandensein eines Unterhaltstitels - im Juli 2007 Unterhalt in Höhe von 200 Euro. Der Klägerin zahlte er ein Taschengeld in Höhe von 50 Euro. Deren leiblicher Vater war aufgrund eines entsprechenden Titels zur Zahlung von Unterhalt in Höhe von 337 Euro monatlich verpflichtet, jedoch nicht leistungsfähig. Die Mutter der Klägerin erhielt für diese das Kindergeld in Höhe von 154 Euro und hatte ein Nettoeinkommen von 303,28 Euro. Ihr Ehemann erzielte im Juli 2007 ein Nettoeinkommen von 2351,98 Euro; am 12.7.2007 wurde ihm zudem Einkommensteuer in Höhe von 3312,68 Euro erstattet. Die Kosten für die gemeinsame Mietwohnung trug er vollständig allein.

Bei Beantragung von SGB II-Leistungen für die Klägerin am 5.7.2007 gab ihre Mutter an, sie lebe mit ihrem Ehemann sowie ihrer Tochter in einem gemeinsamen Haushalt. Bei ihr und der Tochter seien keine Spar- und Bankguthaben vorhanden. Der Beklagte lehnte SGB II-Leistungen für die Klägerin ab (Bescheid vom 20.8.2007; Widerspruchsbescheid vom 21.11.2007). Zur Begründung führte er aus, die Klägerin sei nicht hilfebedürftig. Einem Gesamtbedarf der aus der Klägerin, ihrer Mutter und dem Stiefvater bestehenden Bedarfsgemeinschaft in Höhe von 1163,69 Euro stehe ein anzurechnendes bereinigtes Einkommen in Höhe von 2127,82 Euro gegenüber.

Das LSG hat die Berufung der Klägerin gegen das klageabweisende Urteil des SG vom 19.3.2009 zurückgewiesen (Beschluss vom 16.2.2011). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, die Klägerin habe im Juli 2007 schon deshalb keinen Anspruch auf Sozialgeld nach § 28 SGB II, weil weder bei ihrer Mutter noch bei ihr selbst Hilfebedürftigkeit iS von § 9 SGB II vorgelegen habe. Angesichts des Einkommens des Stiefvaters sei offenkundig, dass jedweder grundsicherungsrechtliche Leistungsbedarf ausgeschlossen sei. Soweit die Klägerin die Berücksichtigung von Einkommen ihres Stiefvater für unzulässig halte, weil § 9 Abs 2 S 2 SGB II verfassungswidrig sei, folge der Senat dem nicht. Er schließe sich vielmehr der Entscheidung des BSG vom 13.11.2008 (B 14 AS 2/08 R) an. Jedenfalls bezogen auf minderjährige Kinder sei es nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber in Ausübung seines Gestaltungsspielraums davon ausgehe, dass für Kinder in der Situation der Klägerin ausreichende und vorrangige eigene Mittel durch das Zusammenleben mit dem leistungsfähigen Partner ihres Elternteils zur Verfügung stünden und deshalb die Gewährung staatlicher Hilfe zu ihrer Existenzsicherung nicht erforderlich sei. Der Gesetzgeber gehe bei Stiefkindern in zulässiger Weise davon aus, dass der Elternteil innerhalb einer Gemeinschaft, in der er gleichberechtigt mit dem Partner "aus einem Topf" wirtschafte und mit ihm über die Ausgaben entscheide, die Belange des Kindes in erster Linie durch Naturalunterhalt ausreichend schützen und so seiner Pflicht zur elterlichen Sorge nachkommen werde. Auch der allgemeine Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG werde nicht verletzt; ausreichendes Differenzierungskriterium sei, dass der Gesetzgeber nur solche Gemeinschaften erfasse, in denen die Bindungen der Partner so eng seien, dass von ihnen ein gegenseitiges Einstehen in den Not- und Wechselfällen des Lebens erwartet werden könne. Schließlich verstoße die Regelung auch nicht gegen Art 6 GG. Unbeschadet des Umstandes, dass die Mutter der Klägerin und ihr Ehemann nicht Beteiligte des vorliegenden Verfahrens seien, erschwere § 9 Abs 2 S 2 SGB II weder die Eingehung einer Ehe (welche die Mutter der Klägerin bereits vor Antragstellung geschlossen habe) noch die Bildung von Familien. Der Vorrang von Unterhaltspflichten gegenüber eigenen Kindern sei durch § 11 Abs 2 S 1 Nr 7 SGB II gewahrt.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin, durch die in § 7 Abs 3 SGB II und § 9 Abs 2 S 2 SGB II normierte Zusammenfassung mit ihrem Stiefvater in eine Bedarfsgemeinschaft und durch die Anrechnungsvorschrift werde sie in ihren Rechten aus Art 2 Abs 1 GG und Art 3 Abs 1 GG verletzt. Ihr Stiefvater habe nicht damit rechnen müssen, eines Tages in Anspruch genommen zu werden und sich nach Wegfall des Sozialgeldes lediglich zur Zahlung eines Taschengeldes bereit erklärt. Die Aufnahme in den Haushalt des Stiefvaters begründe keine konkludente vertragliche Vereinbarung zur Zahlung von Unterhalt. Aus dem Zusammenspiel mit anderen Regelungsbereichen werde deutlich, dass der Gesetzgeber die Widersprüchlichkeiten, die sich aus § 9 Abs 2 S 2 SGB II ergäben und dessen weitreichende Konsequenzen nicht bedacht habe. Während der originär Unterhaltsverpflichtete sein Einkommen um berufsbedingte Aufwendungen, Beiträge zur sekundären Altersvorsorge, ehebedingte und andere Verbindlichkeiten bereinigen könne und Unterhalt nur aus dem verbleibenden Einkommen unter Berücksichtigung eines Selbstbehalts von (aktuell) 950 Euro zahlen müsse, würden bei der Berechnung nach dem SGB II weder Verbindlichkeiten noch nicht titulierte Unterhaltsverpflichtungen des Stiefvaters berücksichtigt. Die sich aus § 9 Abs 2 SGB II ergebende Einstandspflicht werde auch bei den Pfändungsfreigrenzen nach § 850d Abs 1 S 2 ZPO nicht berücksichtigt. Zudem sei die vom Rechtsstaatsprinzip des Art 20 Abs 3 GG bei der Ausgestaltung von Sozialgesetzen gebotene Normenklarheit verletzt, weil die Anrechnungsvorschrift des § 9 Abs 2 S 2 SGB II dem Kind keinen durchgreifenden, das Existenzminimum sichernden Anspruch gegen den Stiefvater verschaffe. Zwar habe der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.7.2006 nur § 9 Abs 2 S 2 SGB II geändert, nicht jedoch auch § 9 Abs 5 SGB II um den Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erweitert. Nach der Neufassung des § 9 Abs 2 S 2 SGB II könne die Vorschrift verfassungskonform daher nur so ausgelegt werden, dass die unwiderlegbare Unterstützungsvermutung erst bei einem den Freibetrag des § 9 Abs 5 SGB II iVm § 1 Abs 2 Alg II-V übersteigenden Einkommen einsetze. Nach der Rechtsprechung des BVerfG dürfe der Einkommenseinsatz leiblicher Eltern gegenüber ihren minderjährigen Kindern die Selbstbehaltsgrenze des doppelten Sozialhilferegelsatzes nicht überschreiten. Andernfalls werde deren Handlungsfreiheit verletzt (BVerfG Beschluss vom 20.8.2001, 1 BvR 1509/97). Ein sachlicher Grund, Stiefeltern schlechter als gesteigert Unterhaltspflichtige zu stellen, sei nicht gegeben.

Die Klägerin beantragt,

den Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Februar 2011 und das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 19. März 2009 sowie den Bescheid vom 20. August 2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 21. November 2007 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Monat Juli 2007 zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist nicht begründet. Das LSG hat zutreffend entschieden, dass die Klägerin in dem hier streitigen Monat Juli 2007 keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II hat.

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid vom 20.8.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.11.2007, mit dem der Beklagte Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit ab Antragstellung am 5.7.2007 abgelehnt hat. Hiergegen wendet sich die Klägerin zu Recht mit einer Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs 4 SGG und begehrt - nach einem Teilvergleich vor dem LSG - beschränkt auf den Monat Juli 2007 Leistungen dem Grunde nach (§ 130 SGG).

2. a) Die Klägerin hatte im Juli 2007 jedoch keinen Anspruch auf SGB II-Leistungen. Nach § 7 Abs 1 S 1 SGB II aF erhalten Leistungen nach dem SGB II Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet haben (Nr 1), erwerbsfähig (Nr 2) und hilfebedürftig (Nr 3) sind sowie ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (Nr 4). Die Klägerin erfüllte nach den Feststellungen des LSG zwar die in Abs 1 S 1 Nr 1, 2 und 4 genannten Voraussetzungen. Einer Hilfebedürftigkeit iS des § 7 Abs 1 Nr 3 SGB II iVm § 9 Abs 1 und 2 SGB II stand aber entgegen, dass sie ihren Bedarf aus dem zu berücksichtigenden Einkommen des Stiefvaters decken konnte.

b) Als nicht erwerbsfähige Angehörige hatte die Klägerin Anspruch auf die Regelleistung bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres in Höhe von 60 vH der Regelleistung eines Alleinstehenden (§ 28 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II). Dies entsprach im streitigen Zeitraum einem Betrag von 208 Euro. Das LSG hat keine Ausführungen zur Höhe des Bedarfs der Klägerin für Kosten der Unterkunft und Heizung gemacht, sondern festgestellt, dass der Stiefvater die Kosten für Unterkunft und Heizung allein getragen habe. Ausgehend von den Berechnungen des Beklagten im Widerspruchsbescheid vom 21.11.2007, auf die das LSG aber an anderer Stelle Bezug genommen hat, könnte allenfalls der auf die Klägerin entfallende Kopfanteil der festgestellten Unterkunftskosten in Höhe von 110,56 Euro (1/3 von 331,69 Euro) zu berücksichtigen sein (vgl zum sog "Kopfteilprinzip" nur BSG Urteil vom 23.11.2006 - B 11b AS 1/06 R - BSGE 97, 265 = SozR 4-4200 § 20 Nr 3). Hiervon ist das für die Klägerin gezahlte Kindergeld (154 Euro ohne Abzug einer Versicherungspauschale; vgl hierzu BSG SozR 4-4200 § 11 Nr 49 RdNr 19) abzusetzen (vgl § 11 Abs 1 S 1 und § 11 Abs 1 S 3 SGB II), sodass bei ihr - auch unter Berücksichtigung eines fraglichen Anteils für Kosten der Unterkunft und Heizung - ein nicht gedeckter Bedarf in Höhe von allenfalls 164,56 Euro verblieb.

c) Den so ermittelten Bedarf konnte die Klägerin nicht durch eigenes Einkommen oder Vermögen decken. Vermögen iS von § 12 SGB II ist bei ihr nicht vorhanden. Sie gehörte aber einer Bedarfsgemeinschaft mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater nach § 7 Abs 3 Nr 4 SGB II (in der ab 1.7.2006 geltenden Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2006 - BGBl I 558) an, die nach näherer Maßgabe des § 9 SGB II mit der Berücksichtigung des Einkommens des Stiefvaters verbunden war. Zur Bedarfsgemeinschaft gehören nach § 7 Abs 3 SGB II die erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (§ 7 Abs 3 Nr 1 SGB II), als Partnerin oder Partner der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten die nicht dauernd getrennt lebende Ehegattin oder der nicht dauernd getrennt lebende Ehegatte (§ 7 Abs 3 Nr 3 Buchst a SGB II) und die dem Haushalt angehörenden unverheirateten Kinder der in den Nummern 1 bis 3 genannten Personen, wenn sie das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, soweit diese Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschaffen können (§ 7 Abs 3 Nr 4 SGB II). Nach § 9 Abs 2 S 2 SGB II idF des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.7.2006 (BGBl I 1706) sind bei der Feststellung der Hilfebedürftigkeit von unverheirateten Kindern, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer Bedarfsgemeinschaft leben und die die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus ihrem eigenen Einkommen oder Vermögen beschaffen können, auch das Einkommen und Vermögen der Eltern oder des Elternteils und dessen in Bedarfsgemeinschaft lebenden Partners zu berücksichtigen. Es war bei der Mutter der Klägerin nur ein geringes Einkommen und bei Beiden kein Vermögen vorhanden.

d) Unabhängig von einer etwaigen Vermögensberücksichtigung des Stiefvaters und der ihm im Juli 2007 zugeflossenen Einkommensteuererstattung in Höhe von 3312,68 Euro war der Gesamtbedarf der Bedarfsgemeinschaft in Höhe von 1070,25 Euro (KdU in Höhe von 331,69 Euro, Regelleistung für die Mutter und den Stiefvater in Höhe von 624 Euro, restlicher Bedarf für die Klägerin in Höhe von 164,56 Euro) schon durch das um die Abzüge nach dem SGB II bereinigte Einkommen des Stiefvaters der Klägerin in Höhe von 1811,20 Euro und deren Mutter in Höhe von 162,62 Euro vollständig gedeckt.

3. Die zu einer Einkommensanrechnung führenden SGB II-Vorschriften sind - entgegen dem Vorbringen der Klägerin - nicht schon wegen eines Verstoßes gegen das aus Art 20 Abs 3 GG folgende Bestimmtheitsgebot, etwa eines Widerspruchs des § 9 Abs 2 S 2 SGB II zur sonstigen Rechtsordnung, unanwendbar. Das Gebot der Normenbestimmtheit und der Normenklarheit soll den Betroffenen ermöglichen, die Rechtslage anhand der gesetzlichen Regelungen zu erkennen und ihr Verhalten danach einzurichten (BVerfGE 87, 234, 263 = SozR 3-4100 § 137 Nr 3). Es muss aber nicht von vornherein jeder Zweifel über den Inhalt der Regelungen ausgeschlossen sein; ausreichend ist es, wenn deren Inhalt mit den üblichen Auslegungsmethoden konkret erschlossen werden kann (BVerfG Beschluss vom 4.6.2012 - 2 BvL 9/08 ua; BVerfGE 131, 88,118 f juris RdNr 91). Dies ist hier der Fall.

Soweit die Klägerin vorträgt, dass die Annahme einer Unterstützungsvermutung nicht mit einem durchsetzbaren Anspruch des Stiefkindes gegen den Stiefvater auf gesetzlicher oder vertraglicher Grundlage korrespondiere, behauptet sie ein unklares Zusammenwirken von Unterhaltsrecht und Sozialrecht bzw den notwendigen Gleichklang dieser Rechtsbereiche. Dies gilt auch für ihren Vortrag, es verstoße gegen Art 3 GG, dass ein minderjähriges Kind in einer Bedarfsgemeinschaft keinen durchsetzbaren Anspruch auf Sicherung des Existenzminimums habe, während ein leibliches Kind seinen Unterhaltsanspruch auf zivilrechtlichem Weg durchsetzen könne. Die Annahme von Einstehens-, Einspar- und Unterstützungsvermutungen bei Leistungen zum steuerfinanzierten Existenzminimum muss jedoch nicht mit gesetzlichen Unterhaltsansprüchen übereinstimmen. Der Gesetzgeber darf im Sozialrecht schon deshalb andere Anknüpfungspunkte wählen als im Familienrecht, weil unterschiedliche Sachverhalte betroffen sind. Im Familienrecht findet ein Barunterhaltsanspruch zwischen gerade nicht zusammenlebenden Angehörigen seine Rechtfertigung in der familienrechtlichen Beziehung zwischen Unterhaltsschuldner und Unterhaltsgläubiger, die eine besondere Verantwortung für den Bedürftigen begründet (vgl zB BVerfGE 108, 52, 72; BVerfGE 103, 89, 107; BVerfGE 99, 216, 231). Dagegen wird im SGB II mit den Rechtsfiguren der Bedarfs- und Haushaltsgemeinschaft vorrangig an ein tatsächliches Zusammenleben der betreffenden Personen im Sinne einer "Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft" angeknüpft, die wiederum durch verwandtschaftliche Rechtsbeziehungen gestaltet sein kann.

Auch der von der Klägerin gerügte Normwiderspruch zwischen § 9 Abs 2 S 2 SGB II und § 9 Abs 5 SGB II liegt nicht vor, weil sich eine vermeintliche Konkurrenz zwischen den beiden Einkommensberücksichtigungsvorschriften durch Auslegung auflöst. § 9 Abs 2 S 2 SGB II regelt schon nach seinem Wortlaut die zwingende Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen der dort genannten Personen innerhalb einer Bedarfsgemeinschaft. § 9 Abs 5 SGB II ist nachrangig und erst anwendbar, wenn keine Bedarfsgemeinschaft, sondern lediglich eine Haushaltsgemeinschaft zwischen Verwandten und Verschwägerten besteht (vgl zur historischen Entwicklung der Vorschriften näher BSGE 102, 76 ff = SozR 4-4200 § 9 Nr 7, RdNr 27). Zwar wäre - vor dem Hintergrund der von dem Gesetzgeber zur Neuregelung des § 9 Abs 2 S 2 SGB II durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende gegebenen Begründung, dass eine Schlechterstellung verheirateter Partner gegenüber Partnern einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft vermieden werden solle (BT-Drucks 16/1410 S 20) - auch eine Regelung möglich gewesen, in welcher eine Einkommens- und Vermögensberücksichtigung bei nicht gemeinsamen Kindern in einer eheähnlichen Gemeinschaft und eine Ehe ausdrücklich nur in dem von § 9 Abs 5 SGB II vorgesehenen schonenderen Umfang erfolgt. Diesen Weg ist der Gesetzgeber aber nicht gegangen.

4. a) Die zur Anwendung kommenden Vorschriften verstoßen für den hier zu entscheidenden Fall eines Stiefkindes und unter Berücksichtigung der Einkommensverhältnisse des Stiefvaters nicht gegen den Anspruch der Klägerin auf ein verfassungsmäßig gesichertes Existenzminimum aus Art 1 iVm Art 20 GG.

Der Senat folgt insofern der Rechtsprechung des 14. Senats des BSG, der in seinen Urteilen vom 13.11.2008 (B 14 AS 2/08 R - BSGE 102, 76 ff = SozR 4-4200 § 9 Nr 7 zur Berücksichtigung des Einkommens eines Partners der Mutter bei einem minderjährigen Kind) und vom 14.3.2012 (B 14 AS 17/11 R - BSGE 110, 204 ff = SozR 4-4200 § 9 Nr 10 zur Berücksichtigung des Einkommens des Stiefvaters bei einem volljährigen Kind) davon ausgegangen, dass der Gesetzgeber mit einem Zusammenleben von Personen bei Vorliegen der besonderen tatbestandlichen Voraussetzungen der verschiedenen Formen von Bedarfsgemeinschaften auch jenseits von gesetzlichen Unterhaltsansprüchen Einstehens- und Unterstützungsvermutungen verbinden dürfe. Bei Vorliegen bestimmter familiär geprägter Lebensumstände könne er typisierend Haushaltseinsparungen und Unterstützungsleistungen innerhalb dieser Gemeinschaften unterstellen, die die Gewährung staatlicher Hilfe nicht oder nur in eingeschränktem Umfang gerechtfertigt erscheinen ließen. Vor dem Hintergrund der staatlichen Verpflichtung aus Art 1 iVm Art 20 GG bedürfe es aber einer besonderen Rechtfertigung, weshalb typisierend von so engen Bindungen ausgegangen werden könne, dass von den Mitgliedern dieser Gemeinschaft ein Einstehen in den Not- und Wechselfällen des Lebens erwartet werden könne. Eine entsprechende gesetzgeberische Typisierung müsse in den Lebensumständen der (ansonsten ggf) hilfebedürftigen Personen im Einzelfall ihren Niederschlag finden (BSGE 110, 204 ff = SozR 4-4200 § 9 Nr 10, RdNr 23).

b) Bei einem minderjährigen Kind, das - wie hier - in einer Stiefkindfamilie lebt, reicht das durch die Ehe zwischen dem Elternteil und dem Stiefelternteil vermittelte rechtliche Band als ausreichende Grundlage für die typisierende Annahme des Gesetzgebers, dass die gesteigerte Elternverantwortung des einen Ehepartners gegenüber seinem minderjährigen Kind und das Wissen des Stiefelternteils um diesen Umstand von vornherein Grundlage des Zusammenlebens der Partner und der Gestaltung der Ehe (zB bezogen auf die Verteilung von Kinderbetreuung und Erwerbstätigkeit) sein werde. Für die Berücksichtigung des Partnereinkommen beim Kind ist daher nicht gesondert zu ermitteln und jeweils im Einzelfall festzustellen, ob und ggf in welchem Umfang im Verhältnis des Ehepartners zu dem Kind ein "Einstandswille" iS des § 7 Abs 3 Nr 3 Buchst c SGB II besteht (BSGE 110, 204 ff = SozR 4-4200 § 9 Nr 10, RdNr 24; BSGE 102, 76 = SozR 4-4200 § 9 Nr 7, RdNr 30).

Der Gesetzgeber bewegt sich im Rahmen seines gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums, wenn er mit dem Eingehen einer dauerhaften Bindung im Sinne einer Ehe typisierte Unterstützungs- und Einstehensvermutungen gegenüber dem Ehepartner und dessen Kindern verbindet. Bezogen auf Eheleute hat der Senat bereits in anderem Zusammenhang ausgeführt, dass der Grundgedanke dieser Form der Bedarfsgemeinschaft auf der Annahme beruht, dass in dieser Gemeinschaft alle Mitglieder füreinander Verantwortung, auch im finanziellen Sinne, übernähmen. Erst nachrangig, wenn die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft ihren Bedarf nicht gemeinsam decken könnten, seien Grundsicherungsleistungen zu gewähren (BSGE 105, 291 = SozR 4-4200 § 7 Nr 16, RdNr 14 ff; BSG SozR 4-4200 § 9 Nr 5 RdNr 39). Hieran anknüpfend besteht die Typisierung des § 9 Abs 2 S 2 SGB II darin, dass von der bestehenden Bereitschaft des Einkommensbeziehers, für seinen (Ehe)Partner wirtschaftlich zu sorgen und dessen Lebensunterhalt bei Bedürftigkeit zu sichern, darauf geschlossen wird, dass sich diese Einstehensbereitschaft auch auf dessen Kind erstreckt und auch die tatsächlichen Lebensumstände des Kindes hierdurch beeinflusst sind, etwa durch das gemeinsame Wirtschaften (Einkauf von Lebensmitteln, Zubereitung von Mahlzeiten), die gemeinsame Beschaffung und Nutzung von Haushaltsgeräten und Möbeln sowie auch eine zT gemeinsame Freizeitgestaltung.

Auch die steuerrechtlichen Regelungen gehen davon aus, dass sich die durch eine Eheschließung vermittelte Bindung auch auf die nicht gemeinsamen Kinder und deren Lebensverhältnisse auswirkt, indem bei der Freistellung des steuerlichen Existenzminimums auch für nicht gemeinsame Kinder Vergünstigungen vorgesehen sind. § 32 Abs 6 S 6 EStG bestimmt, dass bei einer Verletzung der Barunterhaltspflicht des einen Elternteils - wie hier bei dem leiblichen Vater der Klägerin gegeben - auf Antrag des Betreuungsunterhalt leistenden Elternteils, also hier der Mutter der Klägerin, die Kinderfreibeträge des anderen Elternteils auch ohne dessen Zustimmung auf den betreuenden Elternteil zu übertragen sind. Im Anschluss ist eine "Kettenübertragung" dergestalt möglich, dass der nach § 32 Abs 6 S 6 EStG den weiteren Kinderfreibetrag empfangene (betreuende) Elternteil nunmehr seinerseits die gesamten Freibeträge auf den Stiefelternteil übertragen kann (vgl hierzu im Einzelnen Loschelder in Schmidt, EStG, 31. Aufl 2012, § 32 RdNr 96 f). Insofern regelt § 32 Abs 6 S 10 EStG, dass die den Eltern zustehenden steuerrechtlichen Kinderfreibeträge auf Antrag auch auf den Stiefelternteil übertragen werden, wenn dieser das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat oder dieser einer Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind unterliegt. Mit dem Begriff der "Haushaltsaufnahme" hat der Gesetzgeber auch im Steuerrecht ausdrücklich an die tatsächlichen Lebensverhältnisse und damit verbundene Unterstützungsvermutungen angeknüpft.

5. Es liegen hier - insbesondere unter Berücksichtigung des Einkommens des Stiefvaters - keine Anhaltspunkte dafür vor, dass das Existenzminimum der Klägerin nicht mehr gedeckt war.

Bezogen auf die Konstellation der nicht gemeinsamen minderjährigen Kinder in eheähnlichen Gemeinschaften hat der 14. Senat bereits hervorgehoben, dass eine Bedarfsgemeinschaft bei eheähnlichen Gemeinschaften ein Zusammenleben voraussetze, das von dem wechselseitigen Willen getragen sei, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen (§ 7 Abs 3 Nr 3a SGB II). In Ausnahmenfällen eröffnet dies bei eheähnlichen Partnerschaften ggf einen Vortrag des leiblichen Elternteils, dass die angenommene Möglichkeit der Versorgung des Kindes aus dem in der Bedarfsgemeinschaft tatsächlich vorhandenen Einkommen und Vermögen des eheähnlichen Partners nicht oder nicht in der angenommenen Höhe existiert, weil es an einem entsprechenden Unterstützungswillen gegenüber den eigenen Verpflichtungen - gerade in der zentralen Verantwortung als Elternteil - mangele. Zwar existieren diese tatrichterlichen Auslegungsspielräume bei Stiefkindfamilien mit minderjährigen Kindern nicht, weil eine Bedarfsgemeinschaft bereits besteht, wenn die Ehepartner nicht dauernd getrennt leben (§ 7 Abs 3 Nr 3 Buchst a SGB II; vgl auch Harich in SGb 2013, 238, 239). Dies ist jedoch wegen der typischerweise engeren Bindung von Eheleuten noch vertretbar, solange für Fallgestaltungen von besonderen finanziellen Härten Ausnahmen möglich sind.

Für die Annahme einer - bereits vom 14. Senat in seinen Entscheidungen thematisierten - besonderen finanziellen Härte liegen aber auch hier keine Anhaltspunkte vor (vgl hierzu BSGE 102, 76 ff = SozR 4-4200 § 9 Nr 7, RdNr 44; BSGE 110, 204 ff = SozR 4-4200 § 9 Nr 10, RdNr 36). Ein solcher Härtefall kann zB durch besondere wirtschaftlich erdrückende finanzielle Beeinträchtigungen begründet werden, die im Einzelfall die im SGB II vorausgesetzte Unterstützung in Frage stellen und - auch wegen der möglichen Gefährdung des Existenzminimums des nicht gemeinsamen Kindes - nicht mehr hinnehmbar erscheinen (vgl aber zB zur einfachrechtlichen Lösung des Systemkonflikts zwischen vollstreckungsrechtlichem Schuldnerschutz nach §§ 850 ff ZPO und den Einstandspflichten nach dem SGB II: BSGE 102, 76 ff = SozR 4-4200 § 9 Nr 7, RdNr 44; zur Berechnung des Kostenbeitrags eines Vaters nach § 92 Abs 5 SGB VIII, der nach § 9 Abs 2 S 2 SGB II für seine Stiefkinder einstehen muss: DIJuF-Rechtsgutachten vom 19.7.2010, JAmt, 2010, 291).

Dem Stiefvater verblieb ein Betrag deutlich über dem Existenzminimum. Auf der Grundlage der Berechnungen im Widerspruchsbescheid vom 21.11.2007, auf die sich das Berufungsgericht in seinen Entscheidungsgründen bezogen hat, wurde von dem durchschnittlichen Nettoeinkommen des Stiefvaters in Höhe von 2321,20 Euro die Pauschale für Beiträge zu öffentlichen und privaten Versicherungen, Altersvorsorgebeiträge und mit der Erzielung des Einkommens verbundene notwendige Ausgaben in Höhe von 100 Euro abgesetzt, ohne dass insofern höhere Ausgaben des Stiefvaters behauptet oder nachgewiesen wurden (§ 11 Abs 2 S 3 SGB II). Unter Berücksichtigung des Gesamtfreibetrags nach § 30 SGB II in Höhe von 310 Euro und nach Abzug des nicht titulierten Unterhaltsbetrags für den Sohn ergab sich ein Nettoeinkommen in Höhe von 1811,20 Euro.

Nach Absetzung des (ergänzenden) existenzsichernden Bedarfs der Mutter der Klägerin in Höhe von 259,61 Euro (422,23 Euro abzüglich eigenem Erwerbseinkommen von 162,62 Euro) und demjenigen der Klägerin in Höhe von 164,56 Euro verblieb ein Betrag in Höhe von 1387,03 Euro. Der im Revisionsvortrag geltend gemachte "doppelte Sozialhilfesatz" verblieb ihm demnach (im Jahre 2007 betrug die doppelte Regelleistung 694 Euro zzgl der anteiligen KdU in Höhe von 110 Euro = 804 Euro). Nach der Düsseldorfer Tabelle (Stand 1.7.2007) betrug der notwendige Eigenbedarf gegenüber einem minderjährigen unverheirateten Kind beim erwerbstätigen Unterhaltspflichtigen monatlich 900 Euro (inkl bis zu 360 Euro für KdU). Der angemessene Eigenbedarf gegenüber volljährigen Kindern lag in der Einkommensstufe des Stiefvaters bei 1200 Euro. Auch wenn die Einstandspflicht aufgrund von Unterhaltsverpflichtungen anderen Kriterien als die Einstandsvermutungen nach dem SGB II folgt, verblieb dem Stiefvater der Klägerin hier deutlich mehr als das eigene Existenzminimum.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 5510018

WzS 2014, 140

FEVS 2014, 250

NDV-RD 2013, 135

SGb 2013, 401

ZfF 2013, 254

StX 2013, 448

info-also 2013, 280

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